Robin Lane Fox, Der englische Gärtner. Leben und Arbeiten im Garten,
Aus dem Englischen von Susanne Held (Orig.: Thoughtful Gardening. Great Plants, Great Gardens, Great Gardeners),
Verlag Klett-Cotta, 5. Druckaufl. 2018,
457 Seiten, gebunden, Leinen, mit farbigen Illustrationen und Fotos, durchgängig vierfarbig gedruckt,
ISBN: 978-3-608-96220-8, 32,00 EUR

Robin Lane Fox, passionierter Gärtner und Gartenschriftsteller, lässt uns eintauchen in britische Gartentradition, vergessenes Wissen über Pflanzen und geniale Gärtner. Anschaulich, elegant und sachkundig beschreibt er die Gärten, die er weltweit besucht hat, von der Normandie bis in die Ukraine, und lässt uns teilhaben an einer unvergleichlichen gärtnerischen Neugier und Weisheit. Denn für den Autor sind Gärten menschliche Schöpfungen, die vom persönlichen Charakter der Gärtner ebenso geprägt sind wie von Kunst, Geschichte, Politik und Wissenschaft. Wie so viele kluge Gärtner bekennt er sich nachdrücklich zu einem „gedankenvollen, aufmerksamen” Gärtnern.
So steht es im Klappentext. Aber, Robin Lane Fox, das ist doch ein bekannter Althistoriker, aus dessen Feder Bücher stammen wie „Alexander der Große. Eroberer der Welt” (Stuttgart 2004) oder „Reisende Helden. Die Anfänge der griechischen Kultur im homerischen Zeitalter” (Stuttgart 2011) oder „Die klassische Welt. Eine Weltgeschichte von Homer bis Hadrian” (Stuttgart 2010) oder zuletzt „Augustinus. Bekenntnisse und Bekehrungen im Leben eines antiken Menschen” (Stuttgart 2017). Alle Titel sind teils mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden, Fox gilt zudem als großer Stilist. Einen Namen gemacht hat er sich zudem als Berater von Oliver Stone während dessen Dreharbeiten am Film Alexander, in dem er übrigens auch als Statist mitspielte. Er ist zudem ein hervorragender Reiter und Pferdekenner – was ihm zum besonderen Verständnis der antiken Kavallerie verhalf. Auf den Spuren Alexanders d. Gr. ist er von Griechenland bis nach Indien gereist. Kurz gesagt: Der Alexander-Fox ist identisch mit dem Garten-Fox.
Robin Lane Fox, geboren 1946, ging in Eton zur Schule und studierte Alte Geschichte und Altertumswissenschaften an der Universität Oxford, wo er bis 2014 am New College lehrte. Als Garden Master ist er seit Jahrzehnten für den Garten des New College zuständig. Ebenso lange schreibt der leidenschaftliche Gärtner eine regelmäßige Kolumne für die »Financial Times« über Garten- und Landschaftsgestaltung. Ein Praktikum, das er mit 18 Jahren im Alpinum des Münchner Botanischen Gartens absolvierte, prägte ihn offenbar entscheidend. Seinem damaligen Mentor Wilhelm Schacht (S. 50 ff: „Mein deutsches Idol”), der 2001 im Alter von 97 Jahren nach einem bewegten Leben starb, setzt er ein sympathisches Denkmal. (Schacht war von einer Anstellung im Alpengarten des Berliner Botanischen Gartens 1927 in den 1930-er und frühen 1940-er Jahren als Leiter der königlichen Park- und Gartenanlagen von König Boris III. von Bulgarien tätig, von 1936 an als der königliche Verantwortliche für diese Anlage; 1947 bot man ihm eine Stelle in München an.)
Seine Tätigkeit als Gärtner begann Robin Lane Fox aber nicht erst achtzehnjährig, sie begann, „als ich zehn Jahre alt war, und mit zwölf war ich ein eifriger Anbauer von Alpenpflanzen. Seit damals habe ich damit nicht mehr aufgehört und das Spektrum der mir bekannten Pflanzen, die ich selbst gezogen – und teilweise auch selbst umgebracht – habe, ständig erweitert. Inwiefern die Tätigkeit als Gärtner mein Leben erweitert hat, kann ich nicht adäquat zum Ausdruck bringen – diese Arbeit ist mir im Geiste und zunehmend in meinen Muskeln immer gegenwärtig und fügt dem, was ich tagaus, tagein wahrnehme, ständig etwas hinzu” (S. 11). Inspiriert von den berühmten Gartenartikeln von Vita Sackville-West, die sie für den Observer zwischen 1946 und 1961 verfasst hatte, machte sich Robin Lane Fox daran, Kolumnen „über das von mir so geliebte Thema Gärten” zu schreiben, über zweitausend Artikel sind es schließlich in vierzig Jahren geworden, viele davon erschienen in der Financial Times. Eine kleine Auswahl sind in diesem Buch zu lesen. Außer Frage steht, dass der Autor zu den großen Gartenschriftstellern der Gegenwart zählt.
In einem Interview in der Frankfurter Rundschau erzählte R.L. Fox: „Ich habe in der Schule die Frühgeschichte gehasst, während der Stunden über das römische Britannien habe ich Gärten entworfen. Aber dann bin ich erwachsen geworden, wurde mir der Welt und ihrer Veränderungen bewusst und aus mir wurde ein Historiker. Da war ich schon seit elf Jahren ein ernsthafter Gärtner.”
Natürlich habe ich in dem Buch nach solchen Passagen gesucht, in denen der Autor seine beiden großen Kompetenzen miteinander verknüpft, und davon gibt es einige. Das Kapitel „Ein Garten auf der Ziegenbock-Insel” (153 ff.) schildert den Frühling auf Capri mit seinen Wildblumen, den Rosmarinsträuchern und den rosa-malvenfarbenen Windröschen. Auf der Felseninsel des Tiberius bewegen sich seine Gedanken in historischen Bahnen: „Wie kam es nur, dass das römische Imperium auch weiterhin funktionierte, während der oberste Entscheidungsträger zehn Jahre auf einer Insel verbrachte, ohne über so elementare Gegenstände wie ein Telefon zu verfügen, und die atemberaubendste Aussicht im Mittelmeerraum genoss? Der hintersinnige Tacitus berichtet, einige Leute hätten behauptet, der Kaiser habe sich in seinem siebten Lebensjahrzehnt zurückgezogen, weil er einen so scheußlichen Anblick bot; sein Gesicht war von Pockennarben entstellt und mit Pflastern bedeckt. Es ist, als hätte ein englischer Premierminister beschlossen, sich für den Rest seiner Regierungszeit auf Lundy Island vor der Küste von Devon zurückzuziehen. Interessant ist die Frage, welche modernen Staaten weiterhin, und nicht einmal schlechter, funktionieren würden, wenn ihre Staatsoberhäupter dann mal weg wären und den Mund hielten” (S. 154).
In einem anderen Kapitel – „Getrennte Betten”, 233 ff. – begibt er sich in den Golf von Neapel. „Dort unternahm ich einen Spaziergang entlang der Klippen und dachte über die Vergangenheit und unsere Gegenwart nach, über Natur und Kultur und wie sich unsere Vorstellungen von Gärten gewandelt haben. Die bedeutenden Gärtner am Golf von Neapel waren die Römer der Antike, vor allem die reichen und die namhaften Zeitgenossen des ehrgeizigen Cicero im ersten Jahrhundert ... Unser Wissen von römischen Gärten speist sich überwiegend aus den Briefen und Gedichten, in denen sie vorkommen. Bei meinem Besuch am Golf von Neapel entschied ich mich für ein Ehepaar aus der römischen Oberschicht, das in blumigen lateinischen Gedichten gepriesen wird. Der Verfasser dieser Gedichte war der bewunderte, in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. selbst ebenfalls am Golf siedelnde Statius. In schmeichlerischer Rede rühmt er die Gärten eines Paares, Pollius Felix und seiner Frau Polla, das ihn sicherlich für seinen Lobpreis entlohnte. Ich nehme an, dass Polla diejenige war, die für die Gedichte (Statius 2.2, 2.7, 3.1) zahlte, denn Statius hebt bewundernd ihre jugendliche Grazie hervor. Zur Zeit der Entstehung der Texte war sie ungefähr vierzig – es gibt menschliche Sehnsüchte, die sich offenbar nie ändern” (S 234).
Im Kapitel „Foxit nach Kirgisien” (267 ff.) geht es um eine Landschaft, „in die nicht einmal Alexander der Große vorgedrungen war“, um Homers Ilias, cremefarbene Clematis sibirica, die weiße Rose fedtschenkoana (wohl die Mutter aller zweimal blühenden Rosentypen) und kurios aussehende Disteln. – Das Kapitel „Der Ätna-Ginster” (287 ff) gibt den Anstoß, die Familie der Ginsterbüsche durch halb Europa und die Zeit seit Carl von Linné zu verfolgen. "Was für ein großartiger Busch der Ätna-Ginster ist, ging mir zu Beginn der 1990er Jahre in dem einst berühmten irischen Garten in Malahide auf, der nur eine kurze Busreise vom Stadtzentrum von Dublin entfernt ist. ... Kurze Zeit später besuchte ich den Ätna, und es war klar, warum diese Pflanze so ein Überlebenskünstler ist. Die Ausläufer des Berges sind mit feinem schwarzen Kies bedeckt, den Lapilli früherer Vulkanausbrüche. Es herrscht ständig große Trockenheit, doch brauchen die Blätter des Ginsters nur wenig Wasser und sind so angelegt, dass sie Feuchtigkeit gut speichern können. Die Büsche werden bis zu fünf Meter hoch und brechen, wenn die Sommer in Sizilien am heißesten sind, in eine Flut gelber Blüten aus” (S. 287f.).
Der Name Alexanders des Großen fällt im Zusammenhang mit der Lotusblume. (siehe Fotos auf den Seiten 244 und 245). „Er war derjenige, der die Lotosblüte in Indien entdeckte und eine Schlussfolgerung zog, die ich jetzt verstehe. Als er die Blüte sah, befand er sich am Indus, war jedoch der Meinung, er sei am Oberlauf des ägyptischen Nil. Und er dachte, ,ägyptische Bohnen’ würden entlang des indischen Flusses wachsen, was beweise, dass es eine Verbindung zu Ägypten gab. Nach seinen Eroberungen gelangte ein rosafarbener Lotos nach Nordgriechenland in die Nähe von Alexanders Heimat Makedonien, wo die Blume große Bewunderung hervorrief. Letzteres kann ich ohne Weiteres verstehen, doch ich verstehe jetzt auch das Durcheinander mit den ,ägyptischen Bohnen’” (S. 299).
R.L. Fox schreibt über seinen Besuch in den Gärten der Villa d’Este (307 ff.), über „Das botanische Palermo” (S. 388 ff.) und über seinen Reiterjob in Dienstes von Hephaistion (S. 92 ff: „Ein englischer Gärtner in der Reiterei Alexanders des Großen”). „2003 vernetzte ich drei der am wenigsten zusammenhängenden Abteilungen in meinem persönlichen Bereich. Sie bilden beileibe keine offensichtliche Einheit. Der eine Bereich ist Gärtnern und das Interesse an botanischen Gärten. Ein zweiter Bereich sind Pferde, und der dritte Bereich ist mein lebenslanges fasziniertes Interesse für Alexander den Großen. Im stickigen Thailand galoppierte ich für Alexander durch einen großen botanischen Garten, der von der englischen 'Royal Horticultural Society’ weder gelistet noch anerkannt ist. Ich habe meinen Realitätsbezug durchaus nicht verloren. All das ist wirklich passiert, und zwar dank der Filmindustrie, der Königin der Illusionen: einem Kinofilm fürs breite Publikum. Zuerst in Marokko und dann in Thailand übernahm ich eine Rolle in Alexanders Reiterei, meinem Superstar Colin Farrell treu ergeben und geführt und angeleitet von unserem Gott Dionysos, dem unnachahmlichen Oliver Stone, Regisseur des Monumentalfilms Alexander” (S. 92).
Natürlich handelt das Buch in erster Linie von Blumen und wie man sie wo und wann pflanzt. Was für Böden brauchen sie? Welcher Rittersporn ist zu empfehlen? Von welchem hat man mehr? Von all dem handelt Fox auch, und er erzählt Geschichten von Gärten und Gärtnern, die er kennen gelernt hat. Er lässt Leser eintauchen in britische Gartentradition und vergessenes Wissen über Pflanzen. Anschaulich, elegant und sachkundig beschreibt er Gärten von der Normandie über Korea, Bangkok und Marokko bis in die Ukraine (vgl. das Kapitel „Reiseführer für ein Jahr”, S. 75ff, mit Gartenreisezielen Deutschland, England und den USA) und lässt uns teilhaben an einer unvergleichlichen gärtnerischen Neugier und Weisheit. Die Leser werden durch die Jahreszeiten geführt, beginnend mit dem Winter, und auch quer durch Kontinente.
Fox lässt kein Thema aus (vgl. „Lady-Killing“, S. 129ff, hier geht es um das Bekämpfen von Schädlingen wie der „Gefurchten Dickmaulrüsslerin”), das für Gärtner von Bedeutung ist (etwa in „Kränkelnde Kastanienbäume” die Miniermotte,
S. 291 ff.), und vertritt z.B. in Sachen Glyphosat eine recht resolute Position. Im Kapitel „Wühlarbeiten” (S. 201 ff.) schildert er lebhaft und humorvoll (vgl. auch „Gegenderte Landschaft”, S. 212 ff.), bisweilen auch politisch herrlich inkorrekt, seine Gedanken zu den Aktivitäten eines Dachses in seinem eigenen Garten: „Teams von Wissenschaftlern liefern immer wieder Berichte an Parlamentsausschüsse ab mit der Frage, ob man es nicht erlauben sollte, Dachse zu töten, und zwar wegen der Gefahr, die sie für Kühe darstellen. Wieder einmal möchte ich darum bitten, auch das Risiko für Gärtner in Betracht zu ziehen. Ich gehöre nicht zu den Rindviechern und bin nicht tuberkulosegefährdet. Mein Antrag auf eine Tötungslizenz ist rein geistiger und gartenbaulicher Natur. Dachse haben meinen Frühlingsgarten zerstört. Sie haben sämtliche Krokusse ausgegraben und sämtliche Tulpenzwiebeln weggefressen. Meine Zwiebeln muss ich jetzt in Töpfen aussetzen, an die sie mit ihren Klauen nicht mehr drankommen. Natürlich habe ich mit den Fachleuten bei der ,Chelsea Flower Show’ gesprochen, aber keiner hat eine Ahnung, was man tun könnte.”
Im Original lautet der Titel des Buches „Thoughtful Gardening“ (umsichtiges, nachdenkliches Gärtnern) und man glaubt Robin Lane Fox gerne seinen Hinweis: „Ich würde freilich nie jemandem das Gärtnern aufdrängen, es ist hart, es besteht nicht nur aus Vergnügen und Freude. Aber wenn Sie es in sich haben, begleitet es Sie immer. Wenn ich reise, denke ich am ersten Tag: Ah, wie schön, ich muss nicht an meine Lilien denken. Das ist herrlich, warum lebe ich eigentlich, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen? Und in der zweiten Nacht habe ich, was ich grüne Träume nenne. Dann ist es Zeit, nach Hause zu fahren.”
Eine Anregung von Robin Lane Fox nehme ich aus diesem Buch unbedingt mit: „Für ganz Europa gilt ein Grundsatz, der leider von vielen praktizierenden Gärtnern ignoriert wird: Suchen Sie in jeder Stadt, die Sie besuchen, grundsätzlich den Botanischen Garten auf. In der Vergangenheit wurden deren Gründer von der Erkenntnissen der Pflanzenheilkunde inspiriert und die Ergebnisse sind immer noch erkennbar: Gärten, in denen es nicht primär um die Kunst des Gärtnerns geht, und Botanikzentren, die sich nicht im Zentrum der Wissenschaft der Genetik befinden. Seit Jahrzehnten besuche ich solche Gärten – von Leiden bis Wien, von Urbino bis Berlin. Noch viel mehr Gärten warten auf einen Besuch ...” (S. 388).
Ailianos, Tierleben. Griechisch und deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Kai Brodersen,
Sammlung Tusculum. Berlin: De Gruyter 2018, 864 S.
ISBN 978-3-11-060932-5, 79,95 €

Claudius Ailianus, geboren um 170 in Praeneste, dem heutigen Palestrina in Latium, gestorben nicht vor 222, war ein römischer Sophist und erwarb sich als ein Schüler des Pausanias von Kaisareia und als Bewunderer des Herodes Atticus eine so elegante Beherrschung der griechischen Rhetorik und Sprache, dass er μελίγλωσσος („Honigzunge“) genannt wurde. Er sprach im Alltag wohl Lateinisch, beherrschte aber das klassische Griechisch außerordentlich gut (vielleicht stammten seine Vorfahren aus der griechisch-sprachigen Welt), so dass er in dieser Sprache publizierte, zumal seine Quellen nahezu ausnahmslos griechischer Provenienz waren. Im Unterschied zu anderen Sophisten unternahm Klaudios Ailianos offenbar keine weiten Reisen, sondern verbrachte sein Leben größtenteils in Latium. Er wurde über 60 Jahre alt und erlebte noch den Tod Elagabals.
Neben einem Werk über „Vermischte Forschung” (2017 in der Tusculum-Reihe in der Übersetzung von Kai Brodersen erschienen) schrieb Ailianos ein umfangreiches Buch zum Tierleben, 17 Bücher samt Vorwort und Epilog, in der zweisprachigen Tusculumausgabe respektable 850 Seiten. Der Autor zeigt uns eindrücklich, was antike Menschen an Tieren bemerkenswert fanden. Eine sehr schöne Begründung für seine Fleißarbeit gibt er selbst in seinem Epilogos:
„Alles, was mein Fleiß, meine Überlegung und meine Mühe und der Wunsch, auch hier mehr zu lernen, aufgespürt und gefunden haben, nachdem bewährte Männer und Philosophen um die Kenntnis dieser Gegenstände gewetteifert haben, ist von mir abgehandelt worden, so gut ich es vermocht habe, ohne etwas zu übergehen, was ich wusste, und ohne träge Vernachlässigung und Entehrung der vernunftlosen und sprachlosen Herde. Vielmehr hat mich auch hier die mir innewohnende und angeborene Liebe zur Einsicht entflammt.
Es ist mir auch nicht unbekannt, dass manche, die scharf auf Hab und Gut sehen und auf Ehre, Macht und Ruhmliebe ausgerichtet sind, es mir zum Vorwurf machen werden, dass ich meine Muße auch für diese Dinge verwendet habe. Es wäre ja möglich gewesen, mich herauszuheben, an den Höfen Geltung zu erlangen und zu großem Reichtum zu gelangen. Ich aber beschäftige mich mit Füchsen, Eidechsen, Käfern, Schlangen und Löwen und damit, was der Leopard tut und wie kinderlieb der Storch ist, wie wohlklingend die Nachtigall und wie philosophisch der Elefant, dazu auch mit den Arten der Fische, den Reisen der Kraniche, der Natur der Drachen und dem Übrigen, was diese Schrift mühsam zusammengetragen hat und bewahrt . ... Ich weiß, dass manche auch nicht billigen werden, dass ich nicht die Erzählung von jedem Tier gesondert und nicht von jedem alles zusammen geboten, sondern das Bunte bunt gemischt über Vieles gehandelt habe, dass ich hier die Erzählung von diesen Tieren unterbrochen habe und dort umgekehrt bin, um über dieselbe Natur anderes zu sagen. Ich bin freilich, was mich betrifft, erstens weder ein Sklave fremden Urteils und Willens noch glaube ich, einem anderen folgen zu müssen, wohin er mich führt; zweitens jage ich im Bunten des Lesens nach dem Anziehenden, um das Gräuel des Einerlei zu meiden; daher wollte ich diese Schrift wie eine durch Vielfarbigkeit prächtige Wiese oder einen Kranz mittels der gleichsam blumentragenden zahlreichen Tiere verweben und verflechten. Wenn aber den Jägersleuten auch nur ein Tier zu entdecken ein glücklicher Fund scheint, halte ich es für edel, nicht nur die Spuren so vieler Tiere oder ihre Glieder zu erfassen, sondern alles aufzuspüren, was die Natur jenen gegeben und dessen sie jene gewürdigt hat. Wenn aber einer bei so vielen Tieren Sitten und Bildung, Einsicht, Klugheit, Gerechtigkeit, Sittsamkeit, Mut, Liebe und Frömmigkeit nachjagt, sie zeigt und ans Licht stellt, wie sollte der nicht der Bewunderung wert sein?” (843–845).
Der Übersetzer Kai Brodersen wählt als Benennung für das ohne Titel überlieferte Werk des Ailianos (gebräuchlich ist: Περὶ ζῴων ἰδιότητος – De natura animalium) in Anlehnung an Alfred Edmund Brehms (1820–1884) „Illustrirtes Thierleben” (berühmt nicht zuletzt wegen seiner Abbildungen und seines journalistischen, sehr anrührenden Schreibstils) die Bezeichnung „Tierleben” weist aber zugleich darauf hin, dass das Buch kein systematisches Werk und nicht etwa mit der zoologischen Schrift des Aristoteles Historia animalium zu vergleichen ist: Handbücher mit systematischem Duktus gab es damals und Ailianos wollte durch bunt gemischte Erzählungen den Leser unterhalten und nachdenklich machen. Allerdings wurde Ailianos’ Tierleben im Mittelalter auch als naturkundliche Quelle genutzt, ein Abschreiber sortierte im 15. Jahrhundert sogar das gesamte aus fast 800 kurzen Passagen bestehende Werk in 225 systematische Kapitel um. 1556 publizierte der bedeutende Schweizer Arzt und Naturforscher Conrad Gesner gleichsam als Ergänzung zu seinen eigenen ab 1551 erschienenen tierkundlichen Sammlungen die erste Druckausgabe des „Tierlebens” – Habent sua fata libelli!
Brodersen vermerkt in seinem Vorwort, dass die jüngere Forschung sich bemüht, Ailianos als Zeugen für das Denken seiner Zeit zu verstehen. Ailianos stelle so die böse Menschenwelt der heilen Tierwelt als Negativ gegenüber. Das Werk entspreche damit einer Grundhaltung, wie sie durch die stoische Philosophie jener Zeit geprägt sei, bei Ailianos seien die Tiere immer wieder sogar besser als die Menschen (vgl. S. 14ff). Resümierend schreibt Brodersen, Ailianos’ Tierleben erweise sich als wichtiges Werk für Naturkunde, vor allem aber für antike Auffassungen über das Verhältnis von Mensch und Tier und zugleich als feinsinniges Zeugnis für seine Entstehungszeit (S. 17).
So berichtet Ailianos von zutreffenden Beobachtungen und erzählt Geschichten in Fülle, hin und wieder gibt er aber auch die ihm überlieferten Berichte skeptisch oder distanziert wieder. Er nennt an die 100 Autoren, die er allerdings nicht alle selbst im Original gelesen, sondern in (vielfach verlorenen) thematisch strukturierten Sammelwerken studiert hat. Kai Brodersen listet in seinem Vorwort die Namen der Autoren auf, deren Arbeiten Ailianos verwertet hat, allen voran Homer. Zitate aus überlieferten und verlorenen Komödien finden sich, Philosophen, Geschichtsschreiber und Vertreter der hellenistischen Dichtung werden zitiert. Es versteht sich von selbst, dass auf diese Weise Texte höchst unterschiedlicher Art zusammenkommen. Natürlich spielen tierkundliche Titel von Aristoteles, seinen Schülern, insbesondere Theophrast, eine wichtige Rolle, bis hin zu Oppians Halieutica, die er wohl benutzt hat, aber nicht namentlich erwähnt. Die Quellenforschung im 19. und 20. Jahrhundert hat die vielen Zitate aus der älteren Literatur gesammelt und geordnet, um auf diese Weise einen Zugang zu heute sonst verlorenen antiken Werken zu gewinnen. Diese modernen Zusammenstellungen sind im Literaturverzeichnis (S. 852ff.) genannt, die Fragmentnummern stehen in der Übersetzung.
Die Tierkunde entpuppte sich also auch philologiegeschichtlich als hoch ergiebig und ist nicht nur bedeutsam wegen seiner „bunten und bestens lesbaren Zusammenstellung von Wissenswertem und Kuriosem aus dem Tierleben” (S. 14). Übrigens hat Ailianos’ Tierkunde in unseren Tagen einen mächtigen Bewunderer gefunden: „Für seine Persönliche Bibliothek von 75 Bänden der Weltliteratur wählte der große argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899–1986) kurz vor seinem Tod nur drei antike Schriften aus: die Historien des griechischen Geschichtsschreibers Herodot aus dem 5. Jahrhundert v. Chr., das lateinische Epos des Vergil aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. und das griechisch geschriebene Tierleben des Römers Claudius Ailianos” (S. 7, vgl. S. 20). Borges bekennt: „Nach vielen Jahrhunderten ist dieser Traktat gleichzeitig unverantwortlich und entzückend” – und: „Claudius Aelianus verkörperte den besten Typ des Römers: den hellenisierten Römer. Er hat Italien nie verlassen, aber keine Zeile auf Latein geschrieben. Seine Quellen sind immer griechisch. Es bleibt seine gelassene Stimme, die von Träumen erzählt.”
Letzter Hinweis. Mit dem vorliegenden Band und einer großen Übersetzungsleistung hat Kai Brodersen Ailianos' Tierleben erstmals mit allen 17. Bänden zweisprachig zugänglich gemacht. Die Lektüre lohnt sich! Finden Sie Ihr Lieblingstier. Mir haben es die Elefanten besonders angetan (vgl. 6.52, 7.7, 7.15 und über 50 weitere Stellen).
Gérard Denizeau, Klassische Mythen in Bildern erzählt. Meisterwerke der Malerei von Goya bis Picasso.
(Originalausgabe: La Mythologie expliquée par la peinture, Larousse 2017),
224 Seiten mit 120 farbigen Abbildungen und einem Register,
Wissenschaftliche Buchgesellschaft / Theiss Verlag Darmstadt, 2018,
49,95 €, 39,96 € Mitglieder, ISBN 978-3-8062-3749-8

Gérard Denizeau ist Kunsthistoriker, Musikwissenschaftler, Schriftsteller und Publizist. Der Katalog seiner Veröffentlichungen zur Kunst- und Musikgeschichte ist lang. Zeitgleich mit diesem Buch ist übrigens im Theiss Verlag in gleicher Manier der Titel „Die Bibel in Bildern. Meisterwerke der Malerei von Michelangelo bis Chagall” (Originaltitel: La Bible expliquée par la peinture) erschienen. Bücher solchen Zuschnitts, wollten sie Vollständigkeit anstreben, würden viele Regalmeter und ganze Bibliotheken füllen, ist doch jedem Besucher einer europäischen Gemäldegalerie klar, dass ohne die Bibel und ohne Hesiod, Homer, Kallimachos, Vergil und Ovid – um nur die allerwichtigsten zu nennen – sehr viele Wände in den renommierten Bildergalerien leer wären. Aus den Lektüreausgaben von Rudolf Henneböhl wissen wir, dass der Rekurs auf die antike Mythologie bis ins 21. Jahrhundert und unsere Gegenwart weltweit ungebrochen ist.
Als Autor eines Buches „Klassische Mythen in Bildern erzählt” möchte man über die schiere Fülle solche Bilder verzweifeln, solange es nicht gelingt, eine begründete Auswahl zu treffen und die Überfülle auf ein überschaubares Maß zurückzuführen. Unser Autor will „dem Leser rund fünfzig Werke schmackhaft machen, die in zeitlicher Logik präsentiert werden. Von der Erschaffung des Universums bis zu den antiken Epen, von den ersten Göttern bis zu den Helden, die Homer oder Vergil besangen, wird jedes dieser Werke, die wegen ihrer Beispielhaftigkeit oder ihrer Schönheit ausgewählt wurden, mit seiner Sage, einer Erklärung und Entschlüsselung aus mythologischer wie künstlerischer Sicht vorgestellt” (S. 11).
Vom antiken Italien bis zum zeitgenössischen Spanien, vom barocken Flandern bis zur symbolischen Schweiz, vom romantischen Frankreich bis zum präraffaelitischen England, die 42 Maler, die dieses Buch illustrieren, bieten eine Art Mosaik der Mythologie nach Jahrhunderten und Ländern. Einfach durch das Buch zu blättern bietet dann viele Kontraste und Überraschungen. Der Louvre ist mit zwölf Bildern am häufigsten vertreten, zusätzliche drei stammen aus anderen Pariser Museen und weitere sieben aus dem übrigen Frankreich von Bayeux über Beauvais, Compiègne, Chantilly, Lyon, Avignon, Aix en Provence und Ajaccio. Aus Museen und anderen Stätten in Italien kommen acht Bilder, aus dem Prado in Madrid vier, aus Deutschland (nur) eines, und zwar aus dem Museum der bildenden Künste Leipzig. Für deutsche Leser ist diese Auswahl und der vorrangige Blick auf Bilder in französischen Museen von Vorteil. Die spezifische Intention des Autors, anhand von Bildern dem Betrachter einen Zugang zur antiken Mythologie zu verschaffen, gilt aber wohl nicht nur für Frankreich: „Da immer weniger Schüler Latein und Griechisch lernen, ist das Band zwischen der antiken Mythologie und der modernen Vorstellungswelt schwächer geworden. Das Interesse für Kunstgeschichte wächst jedoch, und so könnte die Bindung wieder enger werden” (Vorwort, S. 11). Dieser Zugang bleibt aber eher vordergründig, zumal der Eindruck erweckt wird, die Künstler hätte einfach mal bei Homer oder Ovid nachgelesen und dann losgemalt. Dass durchwegs Übersetzungen und Handbücher im Spiel waren und zudem die antike Überlieferung der Mythen reichlich komplex und in vielen Varianten und Modifikationen verlief, wird ausgeblendet. Die Angabe von Textstellen aus der antiken Literatur fehlt gänzlich. Dafür bezaubern vor allem die Bilder – und es sind die klingenden Namen der Künstler: Böcklin, Botticelli, Boucher, Bruegel, Caravaggio, David, Delacroix, Goya, Ingres, Klimt, Picasso, Poussin, Raffael, Rubens, Stuck, Tiepolo, Tintoretto, Tizian, Turner, Waterhouse und Watteau. Auch von den mir nicht geläufigen Künstlern seien einige Namen genannt: Théodore Chassériau (1815.1856), Giovanni Battista Gaulli (1639–1709), Léon Cogniet (1794-1880), Jean Cousin d. Ä. (um 1490 – etwa 1550), Herbert James Draper (1863–1920), Charles Gleyre (1806–1874), Pierre Narcisse Guérin (1774–1833), Philippe Auguste Hennequin (1762–1833), Frederic Leighton (1830–1896) und andere.
Mit 50 noch so schönen Bildern kann man nicht die ganze antike Mythologie erschließen, das wäre aber auch wenig sinnvoll. 50 durchwegs großformatige Bilder geben aber genügend Anstoß, um in diese Welt einzudringen und sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das größte Plus dieses Buches stellt aber die Präsentation der Bilder dar: auf die ganzseitige, vielfach auch über eineinhalb Seiten große Präsentation des jeweiligen Bildes mit Erklärungen zum mythologiegeschichtlichen Hintergrund folgt das jeweilige Bild nochmals im close-up-Modus, d.h. die Aufmerksamkeit des Beobachters wird auf drei bis sechs Bildausschnitte gelenkt, während der Rest des Bildes in den Hintergrund tritt. Das ist ein interessantes Spiel, das man beim Blättern gut mitmachen kann, wenn man sich die Gesamtaufnahme betrachtet und überlegt, worauf Gérard Denizeau wohl unser Interesse lenken wird. Diese Detailaufnahmen werden dann in einigen Sätzen erklärt, bevor in einem weiteren größeren Abschnitt das Bild und der Maler kunsthistorisch eingeordnet wird. Ein opulenter und didaktisch gut aufgemachter Band.

Innovationen der Antike, hrsg. von Gerd Graßhoff & Michael Meyer,
Philipp von Zabern / WBG Darmstadt 2018.
144 S. mit etwa 120 überw. farb. Abb., ISBN 978-3-8053-5094-5, 39,95 €, 31,96 € Mitglieder
Innovationen in der Antike? Fehlanzeige! – Das war viele Jahrzehnte die allgemein vertretene Position. In diesem Buch wird ein klarer Paradigmenwechsel vertreten: Innovationen formten und beeinflussten bereits den Alltag der Menschen in der Antike. Ein interdisziplinäres Expertenteam des Exzellenzclusters Topoi stellt erstmals fächerübergreifend und basierend auf neuesten Forschungsergebnissen die bedeutendsten Innovationen der Menschheitsgeschichte vor: von spezialisierter Viehzucht, über die Entwicklung effizienter Bautechniken bis hin zu Zeit- und Wassermanagement.
Die Herausgeber des Bandes sind zwei Berliner Wissenschaftler: Gerd Graßhoff ist Wissenschaftshistoriker und Philosoph und seit Oktober 2010 Professor für Wissenschaftsgeschichte der Antike an der Humboldt-Universität zu Berlin. Michael Meyer hat seit 2008 eine Professur für prähistorische Archäologie an der Freien Universität Berlin inne. Beide sind an ihren Universitäten Sprecher für das Exzellenzcluster Topoi.
„Innovationen sind nicht notwendigerweise neue Erfindungen, sondern können auch in der ,Durchführung neuer Kombinationen bestehen’. Inzwischen herrscht ein allgemeiner Konsens, dass neue Techniken und Produkte oder Verfahren der Herstellung für die wirtschaftliche Entwicklung von höchster Bedeutung sind. Allerdings ist die Meinung, dass dies ein modernes, eben kapitalistisches Phänomen sei, ebenso tief verwurzelt. Prähistorische und antike Gesellschaften seien hingegen im Bestehenden verhaftet und letztlich innovationsfeindlich gewesen” (S. 8). Wenn dies nun anders gesehen wird, wie kam es dazu eigentlich?
Zwei entscheidende Veränderung hätten Raum für einen grundlegenden Perspektivwechsel geschaffen. Die erste große Veränderung brachte die radiocarbon revolution. Seit der Eichung („Kalibration”) der 14C-Messdaten an der Jahrring-
kurve von Bäumen erhalten wir sehr präzise Datierungen, wodurch die Chronologie grundlegend korrigiert wurde. Die zweite große Veränderung war die Öffnung der Länder der ehemaligen Sowjetunion für gemeinsame archäologische Forschungen, die es nun erlauben, die Entwicklungen im kleinen Europa mit denen im großen Eurasien zu verbinden. In dieser Perspektive fällt auf viele Innovationen neues Licht. So ist die Bedeutung des nordpontischen Steppenraums für die Ausbreitung von Rad und Wagen erst in neueren Forschungen deutlich geworden, obwohl eine Vielzahl hölzerner Wagen aus bronzezeitlichen Gräbern schon lange bekannt war. Rad und Wagen gehören zu den technischen Errungenschaften des 4. Jahrtausends v. Chr. – dass diese Zeitspanne zu den innovativsten Phasen in der älteren Geschichte gehört, habe ich aus diesem Buch gelernt. Entsprechende Hinweise und plausible Belege findet man in allen Beiträgen immer wieder.
Eine andere wesentliche Erkenntnis resultiert aus den Forschungsergebnissen, dass viele Innovationen schon vor 6000 Jahren rasch über weite Teile des eurasischen Doppelkontinents verbreitet wurden. „Ohne Lehrbücher und Planskizzen wurde das Wissen, wie Räder und Wagen gebaut sowie Ochsengespanne angeschirrt werden mussten oder wie Kupfererze abgebaut und Beile und Armringe gegossen werden konnten, weitergegeben und in den lokalen Dorfgesellschaften auch weiterentwickelt. Die rasche Verbreitung dieses Wissens über große räumliche Distanzen zeigt, dass regionale Netzwerke durchlässig waren. Zugleich garantierte die Verbreitung des Wissens auch seine Sicherung für die Zukunft, denn in den schriftlosen Kulturen war das Wissen immer an eine Person gebunden” (S 14).
Das 4. Jahrtausend v. Chr. war also eine besonders dynamische Zeit, die durch eine Vielzahl von technischen Neuerungen – sog. Basisinnovationen – und einem raschen Wissenstransfer gekennzeichnet war: auf die Legierung des Kupfers folgten waffentechnische Innovationen, die Heranzüchtung des Schafs erlaubte die Gewinnung und Verarbeitung von Wolle, die Domestizierung des Pferdes erlaubte die Kontrolle größerer Rinder- und Schafherden und das schnelle Durchmessen des Raums (Die Geschwindigkeit des Pferdes blieb der Takt der Geschichte bis in die Neuzeit, erst durch die Eisenbahn wurde eine weitere Beschleunigung freigesetzt). Die Kultivierung der Olive und des Weins veränderte die Ess- und Trinkkultur grundlegend: bis heute prägen Brot, Öl und Wein, die 'mediterrane Trias', die Küche des Mittelmeerraums. Die Produktion von überlebensgroßen Statuen von Göttern und Herrschern aus Stein und bald auch aus Bronze im Vorderen Orient und Ägypten lassen sich als ikonografische Innovationen im 4. Jahrtausend v. Chr. bezeichnen. Jede dieser Innovationen brachte ökonomische, soziale und kulturelle Konsequenzen mit sich. „Sie veränderten auch die Körper der Menschen. Sie wurden durch intensives Training, Fahrer, Reiter, Krieger oder (in Ägypten und Mesopotamien) Schreiber. Man könnte sagen, dass wir im 4. Jahrtausend v. Chr. wurden, was wir noch bis in das 20. Jahrhundert waren. In nur wenigen Jahrhunderten wurden viele der Techniken entwickelt, die Europa bis in die Neuzeit prägten” (S. 15).
Neben der naheliegenden Erkenntnis, dass technische Innovationen immer auch mit Rückschlägen und Wissensverlusten begleitet waren und der Tatsache, dass die Erfindungs- und Experimentierphase vieler Techniken in der Regel archäologisch nicht erfasst wird, sich also ein pragmatischer Gebrauch des Innovationsbegriffs empfiehlt, bleibt die entscheidende Frage weiterhin unbeantwortet, „ob die innovativen Techniken im Zeichen der Krise entstehen, in der kreative Lösungen dringend gefragt sind, oder Innovationen besonders unter günstigen Rahmenbedingungen von Frieden und geistiger Freiheit ermöglicht werden” (S. 18).
Was den technischen „Innovationsschub” in der Zeit des Hellenismus angeht, so nennt Philon von Byzanz, ein zeitgenössischer Verfasser einer Reihe von Abhandlungen über „mechanische” Wissenschaften im späten 3. Jh. v. Chr., als entscheidenden Grund für die vorherrschende Innovationsfreudigkeit: „dies ist neuerdings den alexandrinischen Technikern gelungen, weil sie durch Ruhm und Kunst liebende Könige mit reichen Mitteln versehen wurden” (Philon, Belopoiica 3; vgl. S. 125).
Aber zurück zu den einzelnen Themen, die im Vorwort von Gerd Graßhoff und Michael Meyer und in neun Einzelbeiträgen abgehandelt werden: S. 8ff.: Technische und soziale Innovationen von Svend Hansen und Jürgen Renn; S. 20ff.: Die textile Revolution von Wolfram Schier und Susan Pollock; S. 34ff.: Meilensteine des Wasserbaus von Jonas Berking, Anette Schomberg und Brigitta Schütt; S. 47ff.: Rinder und Räder – Zwei innovative Entwicklungen, die das Leben in der Steppe veränderten? von Elke Kaiser; S. 60ff.: Waage und Wandel – Wie das Wiegen die Bronzezeit prägt von Jochen Büttner; S.79ff.: Innovation Eisen – Vom Hethiterreich über das rußige Elba bis nach Mitteleuropa von Wiebke Bebermeier, Fabian Becker, Markolf Brumlich u. a.; S. 96ff.: Innovation der Zeit: Evolution antiker Sonnenuhren von Gerd Graßhoff; S. 108ff.: Die Einführung der Ziegelbauweise in Rom von Ulrike Wulf-Rheidt (†); S. 124ff.: Von Pumpen, Orgeln und Uhren –Wassertechnische Informationen im Hellenismus von Anette Schomberg. 136f.: Anmerkungen; 137–142: Literatur; 144: Adressen der Autoren.
Hier ließen sich nun viele hochinteressante neue Erkenntnisse referieren, etwa „Wie sehr Wiegen das Gesicht der Welt geprägt hat” oder warum Diodor die Insel Elba mit dem Attribut „Aitháleia”, die „Rußige” oder die „Rauchige” belegt hat, übrigens ebenso wie Ovid: „Ilva Aethalis” – das rußige Elba. Auch den Schlackenfunden, der Rekonstruktion des Ofentyps und seiner Funktionsweise und der Eisenverhüttung südlich von Berlin (Teltower und Glienicker Platte) gilt größere Aufmerksamkeit (S. 89–94).
Fasziniert hat mich der Aufsatz von Gerd Graßhoff über antike Sonnenuhren wegen der vielen bemerkenswerten Details.
In einem Repositorium Ancient Sundials wurden bislang 750 Sonnenuhren aller Typen (es gibt davon fünf, nämlich den Schattenwerfer, die Äquatorialuhr, die Spatuhr, den Typ „Rhodos” und die Konische Sonnenuhr vom „Box”-Typ; vgl. 99–107) registriert und mehr als 250 Objekte mit modernsten Verfahren der Streiflichtmethode genau bestimmt und in Datenbanken für Nutzer mit einer Creative-Commons-Lizenz wissenschaftlich zugänglich gemacht. Überrascht hat mich die folgende Beobachtung: Es „finden sich in der Gesamtmenge der mehr als 700 nachgewiesenen antiken Sonnenuhren keine zwei Exemplare, die voneinander exakte Kopien sind. Eine Massenproduktion oder 1-zu-1-Kopien von Sonnenuhren hat es in der Antike nicht gegeben. Dies ist angesichts der Produktionsweise erstaunlich. Die Herstellung von Sonnenuhren verlangte ein so hochspezialisiertes Fachwissen, dass nur wenige Werkstätten oder Fachleute mehrfach Aufträge zur Herstellung von Sonnenuhren erhalten haben mussten. In keinem Fall erleichterten sich jedoch Werkstätten ihre Arbeit, indem sie Replikate ein und desselben Typs herstellten” (S. 104f.). Die meisten Sonnenuhren der Antike im 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. wurden in Kontexten von Tempeln oder öffentlichen Stätten gefunden, die einen Zeitbezug zu religiös aufgeladenen Nutzungen hatten. (Sollten Sie einmal nach Nürnberg kommen, gehen Sie den Nürnberger Sonnenuhrenweg mit 19 Stationen und (vielfach renovierten) Sonnenuhren an Bürgerhäusern überwiegend aus dem 16. Jahrhundert; vgl. https://www.sonnenuhrenweg-nuernberg.de).
Ein weites Feld sind die fünf Grundtechniken des antiken Wasserbaus: Brunnen, Wasserleitungen, Dämme, Wasserspeicher und Wasserhebesysteme. Die Wassertechnik bildete in einem umfassenden Sinn sogar die Basis antiker Kulturen. Und das nicht erst seit dem Entstehen der Bewässerungskulturen an Euphrat, Tigris und Nil. „Auch in Griechenland und Rom wäre antike Stadtkultur ohne ausgefeilte Wassertechnik unmöglich gewesen. ... Der erfolgreiche Einsatz von Wassertechniken ebenso wie der Verlust entsprechender Fähigkeiten entschieden zu einem erheblichen Teil über Aufstieg und Niedergang ganzer Kulturen. Allerdings fällt auch auf, dass viele der antiken Strategien und Technologien zur Wasserversorgung und Bewirtschaftung noch heute von Bedeutung sind. In vielen Bereichen gibt es sogar eine Rückbesinnung auf diese Verfahren, da sie häufig dem jeweiligen Naturraum und dessen natürlichem Wasserdargebot angepasst und daher nachhaltiger sind” (S. 45).
Die Ziegelbauweise haben die Römer nicht erfunden (trotz des Dictums von Augustus, er habe eine Stadt aus Ziegeln vorgefunden). Lehmziegel wurden bereits um 10000 v.Chr. hergestellt. Der entscheidende Schritt hin zur Erfindung des gebrannten Ziegels, der aus tonhaltigem Lehm geformt und in Öfen gebrannt wird, geschah erst um 3500 v. Chr. Mit diesen Ziegeln konnten nun sehr dauerhafte Bauten errichtet werden (vgl. S. 108). Nicht die Verwendung von gebrannten Ziegeln, sondern ihre Verwendung mit einer anderen bautechnischen Neuerung, der Entwicklung des opus caementicium, führte zu einen bedeutenden Innovation, zu einer Revolution der Bautechnik. Sie hat die Entwicklung von Infrastrukturbauten beflügelt, wie weitgespannte Brücken oder imposante Aquädukte für die Wasserversorgung. Ohne die Erfindung des opus caementicium sind Bauten wie das Pantheon oder die gewaltigen Badeanlagen, wie die Caracalla- oder Diokletiansthermen nicht denkbar. Weitere Innovationen kommen dazu, etwa die standardisierte Herstellung von drei Ziegeltypen. sog. bessale mit einer Kantenlänge von 19,7 cm, sesquipedale mit einer Kantenlänge von 44,4 cm und bipedale mit einer Kantenlänge von 59,2 cm. Der Vorzug der Standardisierung lag in der Beschaffung (S. 112) der für Großbauten erforderlichen Ziegelmengen. „Im Rahmen der Topoi-Forschungsgruppe ,XXL – Monumentalized Knowledge. Extra-Large Projects in Ancient Civilizations’ konnte diese für den Kaiserpalast auf dem Palatin in Rom ermittelt werden. ... Die Wände sind aus in Dreiecke geteilte sesquipedales geschichtet, von denen eine Mindestanzahl von 1866000 notwendig war. Für Tür- und Fensterstütze sowie für Entlastungsbögen waren zusätzlich mindestens 97500 bipedales erforderlich. Allein für die Herstellung des Rohbaus mussten in zehn Jahren Bauzeit ca. 28000 t Ziegelmaterial zum Palatin gebracht, dort teilweise gelagert und dann zum jeweiligen Baustellenabschnitt transportiert werden. ... Eine Auswertung aller bekannten Ziegelstempel der Kaiserpaläste auf dem Palatin hat erbracht, dass für den Neubau Kaiser Domitians die Ziegel aus mindestens 40 unterschiedlichen Produktionen bezogen wurden” (S. 113 ff.). Der Aufsatz über die Verwendung von Ziegeln bietet noch eine Fülle von Informationen etwa über dekorative Effekte, den mit der Bauweise verknüpften Kosteneffekt, den Einfluss auf Gewölbeformen, die Schalungstechnik und eine Fülle ingenieurtechnischer Meisterleistungen.
Das letzte Kapitel gilt „Pumpen, Orgeln und Uhren”, ein Abschnitt ist überschrieben „Die Erfindung der Uhr in Alexandria”. Damit ist nicht etwa die sog. Athenische Gerichtsklepshydra gemeint, mit der die Länge der Reden bei Gericht zu begrenzen war, sondern ein Gefäß, aus dem Wasser über einen Zeitraum von 12 Stunden floss und an dessen Stundenskalen man die Zeit im Inneren mittels des sinkenden Wasserspiegels ablesen konnte. Diese Wasseruhr des Ktesibios präsentiert sich als etwas völlig Neues. Kenntnis davon gibt ein in arabischer Übersetzung überlieferter Text mit dem Titel Buch des Archimedes über die Herstellung der Uhren (S. 132).
Wer in Sachen Innovationen der Antike auf der Höhe der Zeit sein möchte, sollte sich mit dieser faszinierenden Einführung in ein äußerst aktuelles Phänomen befassen. Die Lektüre lohnt sich!