Nachdem Phaedrus lange eher unter motiv- oder sozialgeschichtlichen Aspekten untersucht wurde, hat man in jüngerer Zeit begonnen, ihn in literarischer Hinsicht ernst zu nehmen.1 Deutlich wurde dabei, dass er sich nicht nur auf verwandte Gattungen wie die iambische Dichtung und besonders die Satire bezieht, sondern dass die Fabeln durch zahlreiche Bezüge in ein intertextuelles Gewebe eingebunden sind, das sich von der frühgriechischen Literatur bis in die augusteische Dichtung und in Phaedrus’ eigene Zeit erstreckt.2 Dass die römische Liebeselegie einen Subtext für Fabeln darstellt, mag man nicht vermuten.3 Dass Phaedrus sich aber auch mit dieser Dichtung spielerisch auseinandersetzt, soll am Beispiel der Fabel 2,2 gezeigt werden.

Anus diligens iuuenem, item puella.

 

A feminis utcumque spoliari uiros,                                                                              

ament, amentur, nempe exemplis discimus.

aetatis mediae quendam mulier non rudis

tenebat annos celans elegantia, 

animosque eiusdem pulchra iuuenis ceperat.           5

ambae, uideri dum uolunt illi pares,

capillos homini legere coepere inuicem.

qui se putaret fingi cura mulierum,

caluus repente factus est; nam funditus

canos puella, nigros anus euellerat.                        10

Die vorliegende Fabel4 könnte man als Schwank oder in gewissem Sinne noch als Kurznovelle bezeichnen;5 sie entfernt sich deutlich von dem, was ein Leser von einer Fabel erwartet. Sie entspricht auch im Aufbau nicht dem üblichen Schema.6 Mit etwas Mühe ließe sie sich wie folgt anpassen: Promythion (1-2), Exposition (3-5), Actio (6-7), Reactio/Schluss (8-10).

Die Fabel nimmt im Promythion durch exemplis (2) Bezug auf den Prolog des zweiten Buchs.7 Die ‚These‘ steht als Aussage im AcI voran, die Hauptbeteiligten werden am Anfang und Ende des Verses eingeführt, die ‚tätigen‘ Personen dabei zuerst genannt a feminis; die Männer bilden zwar das Akkusativsubjekt uiros, doch sind sie durch die passivische Formulierung als ‚Opfer‘ dargestellt. Die Tat wird durch die Auflösung in der Hebung betont: spoliari. So bleibt schließlich in der Mitte die zentrale Aussage hierzu als adverbiale Bestimmung übrig: utcumque ‒ Männer werden wie auch immer/nach Belieben von den Frauen beraubt. Diese ausweglose Lage wird zu Beginn des folgenden Verses noch auf eine erheiternde Weise durch konzessive Konjunktive präzisiert: Es hilft den Männern nicht, ob sie lieben oder geliebt werden bzw. sich lieben lassen. Im ersten Fall wird man an den durch die Komödie und vor allem die Liebeselegie verbreiteten Topos des Verliebten denken, der von der geschenkefordernden Geliebten ausgenommen wird;8 dass es sich später in der Fabel um geraubte Haare handelt, lässt den Topos nachträglich noch komischer erscheinen. Der zweite Fall mag nicht sofort einleuchten; doch ist dies der Scherz, den diese Fabel bietet und im Folgenden veranschaulicht.9 Das Promythion schließt mit dem Hauptsatz, wobei der Autor die erste Person Plural wählt und sich somit miteinbezieht: exemplis discimus.10

Obwohl der Leser nach dem Promythion von einer Opposition Mann-Frau ausgehen muss, wird in der Exposition ein Dreiecksverhältnis von einem Mann und zwei seinetwillen rivalisierenden Frauen dargestellt; zunächst verläuft der Konflikt also zwischen den beiden Frauen.11 Hierbei steht das Altersverhältnis der Frauen als entscheidend im Mittelpunkt. Um wen es sich bei dem Mann handelt, ist nicht wichtig; er begegnet uns lediglich als quendam (3); sein einziges Merkmal steht am Zeilenanfang: Er ist mittelalt (aetatis mediae 3).12 Dies wird nicht genauer bestimmt, bleibt wohl bewusst in der Mitte zwischen den beiden Frauen.13 Auch über die beteiligten Frauen erfahren wir nichts. Dass die „Szene wahrscheinlich in einem gehobenen Prostituiertenmilieu angesiedelt“ sei,14 ist möglich, lässt sich jedoch nicht beweisen; die Darstellungsart erinnert, wie im Folgenden gezeigt wird, eher an die literarische Welt der Liebesdichtung des Catull oder der Liebeselegie ‒ hierzu gehört auch die ‚Wahl‘ zwischen junger und alter Frau.15 Das Alter der ersten Frau wird hier zurückhaltend freundlich durch non rudis (3) charakterisiert, erst später wird sie als anus (10) und damit als wirklich alte Frau bezeichnet; bei dieser Litotes, die zunächst als ‚nicht jung‘ zu verstehen ist, schwingt jedoch zugleich etwas anderes mit, denn sie ist ‚nicht unerfahren‘ ‒ ein Motiv, das in der Liebeselegie vielfältig verwendet wird.16 Das Verhältnis der beiden wird durch tenebat (4) bestimmt;17 das Imperfekt deutet die lange Dauer an (und vielleicht auch den konativen Aspekt), die Form macht deutlich, dass es die Frau ist, die den Mann ‚hält‘, d.h. sie ist die Liebende, die den Mann an sich binden will; wie sie dies erreicht, wird nach einer Trithemimeres als Partizipialkonstruktion nachgereicht: Die Jahre verbirgt sie durch ihre Eleganz ‒ auch dies ein Motiv aus der Liebeselegie;18 dies ist wichtig, denn es geht nicht um ein groteskes Bild einer alten Frau wie etwa bei Horaz;19 man könnte sich eher denken, dass die Dame Ovids Ars gelesen hat.20 Denn hier wird dem tenere ein ganzer Abschnitt gewidmet; die erste Aufgabe des Liebesschülers ist die Eroberung, die zweite, dem Verhältnis Dauer zu verleihen;21 in unserem Zusammenhang ist die Einleitung zum zweiten Buch besonders wichtig, da hier das Verhalten beider Frauen vorgezeichnet zu sein scheint: arte mea capta est, arte tenenda mea est (ars 2,12). Zu Beginn des an die Frauen gerichteten dritten Buchs betont der Liebeslehrer ferner, dass Frauen besonders lernen müssten, der Liebe Dauer zu verleihen: defuit ars uobis; arte perennat amor (ars 3,42); zudem wird hier vor dem kommenden Alter gewarnt (3,59ff.). Die von Ovid im Folgenden empfohlene raffinierte simplicitas könnte durchaus der hier genannten elegantia (4) entsprechen. Das zweite Verhältnis ist kontrastierend dargestellt und lässt sich offensichtlich leichter und damit kürzer erklären: Sein Herz (animos 5) hatte eine andere erobert (ceperat 5), was einen deutlichen Gegensatz zu tenebat darstellt.22 Über sie muss nicht mehr gesagt werden als pulchra iuuenis; die Schönheit steht voran, die Jugend wird durch die Auflösung in der Hebung betont. Wie die ältere der beiden Frauen ist die zweite hier etwas unbestimmt mit iuuenis bezeichnet;23 auch sie wird am Ende durch puella (10) als deutlich jünger dargestellt. Dieser Ausdruck lässt freilich die besonders seit Catull in der römischen Liebesdichtung verbreitete Konnotation der verführerischen Geliebten mitklingen.

Die ‚Handlung‘ ist nur knapp in zwei Versen umrissen (6f.): Beide Frauen haben das gleiche Ziel, was durch ambae (6) hervorgehoben wird: Sie wollen ‚ihm‘ gleich scheinen. Der Leser erwartet nun, dass sie sich selbst ändern, doch wird im Folgenden klar, dass beide das gleiche Ziel verfolgen: Er soll vielmehr ihnen gleich scheinen. Die Vorgehensweise ist so überraschend wie komisch:24 Sie beginnen ihm im Wechsel die Haare auszureißen (7), auch dies eine Steigerung eines Motivs aus der Liebeselegie.25 Der ‚Höhepunkt‘ der Handlung ist kunstvoll dargestellt: capillos als wichtigstes Wort steht am Zeilenanfang; die folgenden zwei Auflösungen in Hebungen bringen Bewegung in die Handlung; legere steht zudem als zentrale Tätigkeit in der Mitte des Verses.

Die Folge bzw. der Schluss ist wieder etwas länger ausgeführt (8-10), und zwar aus der Sicht des Mannes. Der einleitende Relativsatz verknüpft die Abschnitte, indem er nachträgt, was sich der Mann bei dem Verhalten der Frauen dachte:26 Er glaubte, durch die liebevolle Sorge (cura 8) der Frauen ‚schöngemacht‘ (fingi 8) zu werden.27 Knapp wie erheiternd ist das Ergebnis dargestellt: Der Mann fand sich unvermutet als Kahlkopf wieder (caluus 9).28 Der abschließenden Erklärung bedürfte es nicht unbedingt; sie fasst das Handeln der Frauen aber in schönem Parallelismus zusammen, wobei die Farben jeweils den Kontrast zum eigenen Alter darstellen: canos puella, nigros anus euellerat (10).29 Am Ende der Fabel ist die zunächst erwartete Opposition Mann-Frau auf einem Umweg doch erreicht.

Blickt man auf das Promythion zurück, das durch die Wortwahl spoliari an anderes denken ließ, ist die dargestellte Folge nicht ohne Komik.30 Die Misogynie, die man zu Anfang noch vermuten könnte, scheint am Ende nicht mehr vorhanden.31 Mir scheint dies eher ein heiterer Umgang mit einem weit verbreiteten Topos zu sein. Der Mann ist durch sein Verhalten weniger ein Opfer als dem Spott ausgesetzt, denn es ist ja sein Handeln, das ihn in diese Situation gebracht hatte. Der im Promythion so betonte Lernerfolg (exemplis discimus 2)32 wird dadurch in lustiger Weise relativiert.

Diese eigenwillige Fabel stammt nun nicht gänzlich aus Phaedrus’ Feder, denn in der Sammlung griechischer Prosafabeln, die unter Aesops Namen läuft, aber wohl in das 2./3. Jh. n. Chr. zu datieren ist, findet sich eine enge Parallele (31 P. [=Hsr.]).33 Der Vergleich zeigt, wo Phaedrus offensichtlich eigene Akzente gesetzt hat.34 In der griechischen Variante wird die Pointe schon am Anfang angekündigt, da der Mann als ‚halbergraut‘ (μεσαιπόλιος) bezeichnet ist. Warum der Mann beiden Frauen zugetan ist, wird nicht erklärt. Die Beweggründe der Damen sind drastischer gezeichnet: Die Ältere schämt sich, mit einem Mann zu verkehren, der jünger ist als sie, die Jüngere will keinen Greis zum Liebhaber. Auch in der Anlage unterscheidet sich diese Fassung, denn das Ausreißen der Haare wird jeweils im Anschluss an den Beweggrund genannt. Was der Mann sich denkt, erfahren wir nicht, nur die vorhersehbare Folge. Das Epimythion ist gänzlich anders: Das Ungleiche (τὸ ἀνώμαλον) ist schmerzbringend. Auch bei Babrios lesen wir eine Version des Stoffs (22), die sich nicht wesentlich von der aesopischen unterscheidet.35 Die enge Verwandtschaft der beiden griechischen Varianten36 lässt die oben aufgezeigten Akzente bei Phaedrus umso deutlicher werden; sie stammen wohl von ihm. Von Misogynie, gar noch einer vom Kynismus beeinflussten, kann man wohl nicht sprechen.37

In den späteren Prosaparaphrasen lässt sich zur vorliegenden Fabel keine Entsprechung finden. Bisweilen wurde auf die Fabel des Pfaus verwiesen,38 der allen anderen Vögeln seine Federn gibt, sodass er am Ende den Kältetod stirbt.39 Er wird zwar als freundlich und ‚höflich‘ (mansuetus et curialis) beschrieben, doch erwartet er als Gegenleistung öffentliches Lob. Das Motiv ist daher nur entfernt zu vergleichen. Später taucht die Fable in anderen Akzentsetzungen auf. La Fontaine (1,17) ließ den Mann selbst die Lehre ziehen.40 Sir Roger L'Estrange (1692) hielt sich relativ eng an die aesopische Variante, ergänzte allerdings eine neue ‚Moral‘ (141):

A man und two wives

It was now Cuckow Time, and a certain middle-ag’d Man, that was half grey, half brown, took a fancy to marry two Wives, of an Age one under another, and happy was the Woman who could please him best. They took mighty Care of him to all manner of Purposes, and still as they were combing the good Man’s Head, they’d be picking out here and there a Hair to make it all of a Colour. The matronly Wife, she pluck’d out all the brown Hairs, and the younger the white: So that they left the Man in the Conclusion no better than a bald Buzzard betwixt them. 

The moral: ‘Tis a much harder Thing to please two Wives, than two Masters; and he’s a bold Man that offers at it.

Die besondere Ausformung durch Phaedrus trat offensichtlich wieder in den Hintergrund. Er hatte den bekannten Stoff zugespitzt und durch Anspielungen auf die römische Liebesdichtung amüsant gemacht.41 Eine solche Umformung verortete die Fabel freilich in der lateinischen Literatur ihrer Zeit und machte sie motivgeschichtlich für die Tradierung offensichtlich unattraktiv. Für einen zeitgenössischen Leser jedoch hat die Fabel in ihrer überraschenden Verbindung zweier Gattungen sicherlich einen besonderen Reiz gehabt.

Literaturangaben

Grundlagen für Zitate

Aesop

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Auf Grund der unterschiedlichen Auswahl und Zählung wird daneben verwiesen auf:

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                         Fasc. I. Editionem alteram curavit H. Hunger, Leipzig 41970               

                         Fasc. II. Indices ad fasc. 1 & 2 adiecit H. Haas. Editionem alteram curavit H. Hunger, Leipzig 1959

Babrios

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Phaedrus

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