Griechische Welt in Münzen. Die Sammlung der »Lebendigen Antike Ludwigshafen«, von Friedrich Burrer / Barbara Simon, hrsg. von Frank Hennecke und Friedrich Kuntz, Numismatische Gesellschaft Speyer, 2020, ISSN 0938-7269, 18.50 €

Wer möchte nicht reich wie Krösus sein! Die wenigsten wissen, dass der Ruf seines unermesslichen Reichtums daher stammte, dass er Goldstaub von
bestimmter Menge zu Münzen verschmelzen und mit seinem Prägebild versehen ließ – eine maximal gelungene Imagekampagne. Der legendäre Reichtum geht also auf die lydische Erfindung des gemünzten Geldes zurück, die eigentlich wohl bereits in der Regierungszeit seines Vaters Alyattes II. zwischen 650 und ca. 620 v. Chr. erfolgte. In der gesamten damals bekannten Welt verbreitet, erweckten die Elektron-Münzen mit seinem Siegel, einem Stier und einem Löwen, den Eindruck großen Reichtums. Der Begriff Elektron bezeichnet übrigens eine ursprünglich mineralische Legierung aus Gold und Silber, häufig mit einem geringen Kupferanteil. Diese Legierung nimmt durch Sulfidierung des Silbers an der Luft rasch eine dunklere Verfärbung an, ähnlich dem Bernstein, der im Griechischen auch den Namen elektron trägt. Diese lydischen Goldprägungen wurden nach dem Lyderkönig als Kroiseioi bezeichnet. Die Münzen in verschiedenen Größen und Werten sollten die Bezahlung von Söldnern vereinfachen. Die entsprechenden kleinen Münzen fanden Verwendung im täglichen Zahlungsverkehr, erleichterten aber auch den großen Handel, brauchten sie doch nicht mehr gewogen, sondern nur noch gezählt zu werden.
Die ersten Silbermünzen wurden um 550 v. Chr. ebenfalls in Kleinasien geprägt, sie zeigten Abbildungen von Löwe und Stier. Die frühen derartigen Gold- und Silbermünzen wurden nur von einer Seite mit einem Bild versehen, oft symbolisierte ein Tier den Namen der ausgebenden Stadt. In die Rückseite drückte das Prägewerkzeug eine meist rechteckige Vertiefung ein, das „Quadratum incusum“. Den ersten Prägungen in Kleinasien folgte die Insel Aigina mit der Abbildung einer Seeschildkröte. Bald prägten auch Athen und Korinth Münzen. Die Münzen aus Aigina, „Schildkröten“ genannt, sowie die aus Korinth („Fohlen“) und Athen („Eulen“) blieben lange die beherrschenden Zahlungsmittel des frühen Griechenland. Bis 400 v. Chr. etwa setzte sich die Münze in ganz Griechenland gegenüber dem Tauschhandel durch. Man kann heute über 1000 Staaten und Städte nachweisen (das griechische Einflußgebiet reichte zeitweilig von Spanien bis Nord-Indien), die im Laufe der fünfhundertjährigen Geschichte der griechischen Münze wenigstens einmal eigenes Geld ausgegeben haben. Ein weites Feld also für Wissenschaftler und Interessenten unterschiedlichster Fachrichtungen. Große Münzsammlungen an Universitäten und Museen erschließen solche Welten.
Einen besonderen Weg zur Öffnung der „Griechischen Welt in Münzen" geht die Sammlung der „Lebendigen Antike Ludwigshafen" und die Numismatische Gesellschaft Speyer. Mit einem umfassenden Katalog von über 450 Seiten präsentiert sie ihre Sammlung: „Sie steht vor allem den Schulen im Ludwigshafener Raum und darüber hinaus in der Region zur Verfügung. Über den Förderkreis Lebendige Antike Ludwigshafen am Rhein e.V. ist der Zugang zu der Sammlung insgesamt wie zu den einzelnen Münzen eröffnet; sie werden im Tresor der Sparkasse Vorderpfalz in Ludwigshafen verwahrt und können von dort ausgeliehen werden" (Vorwort S. 9). Der Radius wird in der Praxis Gymnasien in Heidelberg/Bruchsal/Speyer/Neustadt/Bad Dürkheim/Worms nicht weit übersteigen; denn ein Versand einzelner Stücke würde komplizierterweise eine Versicherung und anderen organisatorischen Aufwand beinhalten.
Im Jahr 1955 hatte Dr. Walter Roggenkamp, Vater mehrerer Schüler des Theodor-Heuss-Gymnasiums Ludwigshafen, der Schule eine Sammlung römischer Münzen vermacht (vgl. Heinz-Joachim Schulzki, Wolfgang Huber, Geldgeschichte(n) aus dem alten Rom. Die Sammlung römischer Münzen des Theodor-Heuss-Gymnasiums Ludwighafen (Sammlung Roggenkamp), Schriftreihe der Numismatischen Gesellschaft Speyer, Band 40, 1999. 130 Seiten). Bald war der Gedanke entstanden, den „Römern" eine Sammlung griechischer Münzen an die Seite zu stellen, „Diesem Projekt kam zugute, dass der Verfasser Dr. phil. Friedrich Burrer nicht nur über die erforderlichen Fachkenntnisse, sondern durch seine jahrelange Tätigkeit im Münzhandel auch über die Möglichkeiten verfügte, Münzen am Markt kostengünstig zu erwerben. So entstand in den Jahren 2000 bis 2011 eine Sammlung von 94 griechischen Münzen, 90 aus Silber, eine aus Gold und drei aus Elektron. Auch wenn die Ankäufe von gewissen Zufällen wie dem jeweiligen Marktangebot abhängig waren, orientierte sich der Aufbau der Sammlung an bestimmten Kriterien, die sich aus ihrem künftigen schulischen Einsatz (im Geschichts- und Griechischunterricht) ergeben: zum einen sollte der gesamte Zeitraum vom Beginn der Münzprägung in archaischer Zeit bis zum Ende der autonomen Prägung am Ende des Hellenismus abgedeckt werden. ... Zum anderen wurde Wert darauf gelegt, dass die ganze Bandbreite möglicher Prägeherren abgedeckt wurde, also die Poleis archaischer und klassischer Zeit, Monarchen, Bundesstaaten, Anonymi etc. Unter geographischen Gesichtspunkten sollte die gesamte griechische Welt vertreten sein, um so verstehbar zu machen, dass der Einfluss der griechischen Kultur zeitweise von Gallien bis nach Indien reichte. Die Beschränkung auf die drei edlen Metalle Gold, Silber und Elektron lag darin begründet, dass es viel schwerer ist, zu erschwinglichen Preisen gut erhaltene Bronzemünzen zusammenzutragen" (Einleitung, 12).
Entstanden ist ein umfassender Katalog , nicht für akademische Fachkollegen (wie ursprünglich geplant), sondern für ein breiteres interessiertes Publikum, für Lehrer, Schüler und Sammler. Verzichtet wurde auf einen überbordenden wissenschaftlichen Apparat. Die zwei- bis zehnseitigen Texte zu den einzelnen Münzen sind nach folgendem Schema aufgebaut: Historischer Kontext, Interpretation der Münzbilder, Datierung und ggf. Prägeanlass sowie Geldgeschichtliche Informationen. Dem Katalog vorangestellt sind Kapitel zur „Einführung in die Griechische Numismatik", über die Griechische Münze als 'Geld', die Nominalwerte der Münzen, Münzmetalle und Prägetechnik, die Bilderwelt und die Datierung griechischer Münzen (17–54).
Sämtliche Münzen sind jeweils mit beiden Seiten abgebildet, in Farbe (erkennbar bei der Goldmünze S. 433) und in Originalgröße, z. T auch in zweifacher oder vierfacher Vergrößerung. Die Druckqualität ist gut, eine Steigerung der Druckqualität wäre nur mit speziellem Papier möglich und hätte die Kosten des preiswerten Buchs wohl deutlich vergrößert.
Nach diesen entscheidenden Vorarbeiten für den Einsatz dieser sorgfältig zusammengestellten Sammlung wäre der nächste Schritt die Erstellung von mehreren Online-Unterrichtseinheiten zum Einsatz dieser numismatischen Quellen im Unterricht, wie sie aus jüngster Zeit von benachbarten Universitätsseminaren in Heidelberg oder Freiburg/Br. zu anderen Sammlungen vereinzelt bereits vorliegen.
Vgl. das Themenheft Münzen und Inschriften der ZS Der Altsprachliche Unterricht Nr. 2/2008; die Seite Numismatik in Hannover: https://www.numismatik-in-hannover.de/einblicke/ausstellungen/augustus/didaktik/; den Blog der Heidelberg School of Education über Münzen und digitale Numismatik in der Schule: https://hse.hypotheses.org/800; oder das Projekt nummi docent des Seminars für Alte Geschichte an der Uni Freiburg: http://www.altegeschichte.uni-freiburg.de/num/nummi-docent. Weiterführende Literatur zum Thema Numismatik und Schule: https://hse.hypotheses.org/files/2018/01/literatur_numismatikschule.pdf
Anfangs wird der unterrichtliche Nutzer des Katalogs seine Informationen bevorzugt aus den detaillierten Münzbeschreibungen und den einleitenden Kapiteln beziehen. Lernen lässt sich dort gezielt und beiläufig eine Menge, etwa dass es 500 v. Chr bei den Spielen in Olympia als Wettbewerbe Maultierrennen gab, wie die Darstellung einer Maultierbiga auf Münzen aus Syrakus zeigt, die den Sieg Siziliens bei den Spielen 484 oder 480 zeigen (S. 118f). Das Rückseitenmotiv eines springenden Hasen könnte auf die Ansiedlung des Hasen in Sizilien durch Anaxilaos verweisen, von der Aristoteles später legendenhaft berichtete (119). - Die Insel Aigina war ein Machtfaktor im 5. Jahrhundert v. Chr. mit Handelsstützpunkten bis nach Naukratis im Nildelta und hat auf ihre Münzen durchgängig Schildkröten geprägt, anfangs die Seeschildkröte, später dann eine Landschildkröte, anstelle der schwimmenden Beinbewegung eine laufende (285), evtl. um die neueren Münzen von den vielen im Umlauf befindlichen älteren Prägungen zu unterscheiden; eine andere Erklärung war lange der Verlust der äginetischen Vorherrschaft zur See. - Auf einer korinthischen Münze (Nr. 62, 290ff) aus dem 4. Jahrhundert findet man den fliegenden Pegasos (auf der Rückseite Athena mit korinthischem Helm und Halskette); unten den Vorderläufen des galoppierenden Pegasos befindet sich das Beizeichen Koppa, das der alten Schreibweise der Polis als Kürzel dient und bis ins 3. Jahrhundert auf Münzen verwendet wird (291). Als die Griechen das phönizische Alphabet übernahmen, behielten sie die beiden Buchstaben als Kappa und Koppa bei, obwohl die griechische Sprache nur ein Phonem /k/ besaß.
Untersuchungs- und Vergleichsobjekte könnten im Unterricht Gottheiten und sportliche Aktivitäten sein, die Darstellung von Männern und Frauen mit ihren Attributen, von Tieren (Pferd, Greif, Stier, Hirschkuh, Delphin, Krabbe, Schildkröte, Biene, Eule usw.), Pflanzen (vgl. die Gerstenähre auf einer lukanischen Münze, das Eppich-/Sellerieblatt bei Selinunt), mythologischen oder historischen Motiven, schriftliche Angaben auf Münzen, dekorative Elemente, die unterschiedlichen Formen der Incusa und vieles mehr (vgl. bes. Kap. V, Bilderwelt, 47–52).
Bei der Geschichte der Münzen ergeben sich spannende Fragen, warum etwa das pharaonische Ägypten und Sparta lange ohne Münzen auskamen, wer das Recht hatte Münzen zu prägen, warum der politische Bedeutungsverlust von (thessalischen) Städten lange nicht zum Erlöschen des Münzrechts führte, welche Bestandteile die ersten Legenden hatten (anfangs ohne Legende, dann der Name der Polis im Genitiv, das Ethikon im Genitiv Singular), zu welchen (Nicht-)Änderungen die Einführung des ionischen Alphabeth führten. Im Kapitel II über die griechische Münze als „Geld" erfährt der Leser Interessantes über Nennwert und Kaufwert, über die sprechenden Begriffe nomisma und chremata für Geld, wie aus dem Wort für Bratspieß die Bezeichnung für ein Sechstel der Drachme (obol) wurde, wie es zu Goldbarren in Gefäßform kam oder zum Fischgeld in Sarmatien, gegossene Bronze in Form von Delfinen (24). – Die Griechen mussten im Umgang mit Münzen viel aufmerksamer sein als wir heute, häufiges Wiegen war erforderlich, denn es kam nicht selten vor, dass Münzen befeilt wurden, um Edelmetall abzuzweigen. Dazu musste man die Gewichtseinheiten (abseits des Dezimalsystems) kennen, das Talent, 26,196 kg, geteilt zu 60 Minen zu 436,6 g, daraus 6000 Drachmen zu 4,36 g oder 1500 Tetradrachmen zu 17,44 g, die Drachme zerfiel in 6 Obolen mit weiteren Vielfachen oder Teilstücken (ich erinnere mich an den Satz meiner Enkelin beim Spielen im Kaufmannsladen, als es ums Bezahlen mit Spielmünzen ging, ich sie zum Addieren anregen wollte und sie cool sagte, sie wolle das lieber mit dem I-phone erledigen). Ein weiterer spannender Aspekt zum Geld bei den alten Griechen und heute: woher kommen Gold und Silber, wie wird Geld technisch hergestellt, wieso kommt es zum Quadratum incusum, einer unregelmäßigen Vertiefung auf der Münzrückseite, wann wurde dieses abgelöst, welche Folgen hat die mechanische Abnutzung des Ober- und Unterstempels. Ein lohnendes Thema auch die Datierung griechischer Münzen, Forscher haben da interessante Kriterien entwickelt, von der Datierung nach Magistratsnamen, dem Aussehen der Schrötlinge, der stilistischen Untersuchung der Münzbilder, der Untersuchung der Stempelkopplungen, die Auswertung von Münzschätzen, zu berücksichtigen dabei allerdings das Greshamsche Gesetz, wonach Hortfunde teilweise eher aus älteren Stücken bestehen, da in deren Metallgehalt größeres Vertrauen gesetzt wurde.
Der Katalog zur Sammlung der „Lebendigen Antike Ludwigshafen" ist ein Glücksfall für die Kolleginnen und Kollegen im Einzugsbereich dieser Stadt und für alle, die weiter entfernt an Gymnasien arbeiten, nicht weniger ein willkommener Impuls, gleich ob via Museumsbesuch oder digital mit der Nutzung numismatischer Quellen einen lebendigen, erkenntnisreichen Unterricht mit vielen Transfermöglichkeiten und Aha-Erlebnissen zu realisieren.
Dieter Richter, Con gusto. Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht, SALTO, Wagenbach Verlag Berlin, 168 Seiten, 2021, 20,00 € ISBN: 978-3-8031-1362-7

An meine erste Romreise in einem gemieteten VW-Bus erinnere ich mich noch gut. Acht Studentinnen und Studenten machten sich da Anfang der 1970er Jahre auf den Weg von Regensburg in die Ewige Stadt, begleitet und instruiert von ihrem reisefreudigen jungen Studentenpfarrer Dr. Albert Rauch, der an der Päpstlichen Universität Gregoriana und am Collegium Russicum studiert hatte (vgl. https://bistum-regensburg.de/news/das-bistum-trauert-um-apostolischen-protonotar-dr-albert-rauch-3527/). Sein Besichtigungsprogramm von Antike bis Gegenwart war so ausgesucht, wie ich es nie wieder erlebt habe oder selbst bei zahlreichen Italienfahrten als Reiseleiter realisieren konnte. Eine Zeitlang wohnten wir damals auf dem Land in einer weitläufigen Villa nahe Palestrina mit Schwimmbad und einem unvorstellbar üppig tragenden Spalier von Tafeltrauben; vor Augen habe ich immer noch eine Szene in einer Trattoria in Trastevere, bei der es als primo piatto Spaghetti gab, in einer für uns Menschen aus Niederbayern und der Oberpfalz damals unbekannten Länge. Noch heute stellt Wikipedia hierzu lapidar fest: „Spaghetti gelten als schwierige Speise in Bezug auf die Einhaltung der Tischsitten.“ Wir Studenten versuchten uns damals mit dem Messer an den italienischen Teigwaren, keine gute Idee! Das Personal der Trattoria lief zusammen! Von unserem gelernten Römer Albert Rauch erhielten wir sogleich mitten im Lokal einen Kurs im Spaghetti-Essen – mit der Gabel und, wenn es denn sein muss, mit dem Löffel als Hilfsinstrumenten.
In dem neuen Buch von Dieter Richter, Con gusto. Die kulinarische Geschichte der Italiensehnsucht, ist zu erfahren, dass Touristen aus Deutschland (aber auch weiteren Ländern des Nordens) jahrzehntelang noch ganz andere Schwierigkeiten mit der italienischen Küche hatten. Pasta und Pizza essen die Deutschen seit Jahren am liebsten, man braucht nur Kinder zu fragen. Was aber heute wie selbstverständlich auf den Tisch kommt, galt unseren Vorfahren überraschenderweise als ziemlich ungenießbar. Dieter Richter erzählt in „Con Gusto“ unterhaltsam und detailreich, wie aus der einstigen deutschen Abneigung der italienischen Küche eine große Liebe wurde.
Was uns heute unstrittig erscheint, die Wertschätzung der italienischen Küche, hat eine lange Vorgeschichte. Dieter Richter – studierter Altphilologe - erzählt sie als eine Geschichte auch der Italiensehnsucht. Im 17. und 18. Jahrhundert begann die moderne Italienschwärmerei, allerdings eher als Augenlust, denn als Gaumenschmaus. Die klassischen Monumente wurden hochgeschätzt, die Küche hingegen galt für die Reisenden aus dem Norden weithin als ungenießbar, wo nicht gesundheitsschädlich. Die „cucina all’olio” wurde mit „Ölkrankheit” gleichgesetzt.
Belege für solche abschätzigen Urteile finden sich in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts zuhauf und Dieter Richter zitiert sie genüsslich. Zum Beispiel den Konstanzer Gymnasiallehrer Otto Kimmig, der 1896 von seiner Grand Tour nach Italien begeistert zurückkommt, allerdings warnt er vor der italienischen Küche: „Zähes Fleisch, schlechte oder keine Butter, Öl und wieder Öl, Knoblauch über Knoblauch” (15); sogar einer populären medizinischen Diagnose hat die Oliophobie zur Entstehung verholfen: der „Ölkrankheit”. Als der aus dem Herzogtum Holstein stammende und an norddeutsche Kost gewöhnte niederdeutsche Dichter Klaus Groth den Winter 1895 auf Capri verbringt, klagt er in seinen Briefen in die Heimat immer wieder über die lokale Küche. Nichts, aber auch wirklich gar nichts könne man hier mit Appetit essen. „Dazu Durchfall, die Deutschen nennen es hier die Ölkrankheit” (18). Bis weit ins 20. Jahrhundert war den Nordeuropäern das Oliveröl suspekt. Andreas Curtius (1856–1923), Professor für alte Sprachen in Bonn, der nach eigenem Bekunden mehr als zwanzig Mal Italien bereiste, kritisiert 1910 den öffentlichen Straßenverkauf in Neapel:
„Man blickt in Garküchen hinein (...), wo ein Koch seine Makkaroni mit einer Begeisterung preist, als ob er ein Königreich zu verkaufen habe, während er gleichzeitig mit einem Stück Holz in dem großen brodelnden Kessel herumrührt. ... Aber weder Makkaroni noch der harte safranfarbige Risotto noch die Meeresfrüchte, allerlei Getier aus der Salzflut, Krabben, Seekrebse, Seesterne, garstige Tintenfische, alles in Oel gesotten, können infolge ihres widerlichen Anblicks und Geruchs unseren Appetit reizen, während es für die ärmere Bevölkerung Leckerbissen sind” (23f.).
Die Pizza, ein weiteres beliebtes Armeleute-Essen im an armen Leuten reichen Neapel, kommt bei auswärtigen Besuchern der Stadt ebenfalls gar nicht gut weg. Sie gilt als schlechthin unverdaulich. Die erste mir bekannte Erwähnung der Pizza durch einen deutschen Reisenden - so Dieter Richter auf S. 29 – stamme aus der Feder des Historikers Ferdinand Gregorovius: „Man flüchte sich in eine jener wunderlichen Garküchen, wo hinter Bretterverschlägen die pizzi, große flache und runde Kuchen, gegessen werden, welche mit Käse oder mit Schinkenstückchen belegt sind, je nach dem Geschmack des Bestellers. Man bestellt sie und in fünf Minuten sind sie gebacken. Es gehört der Magen eines Lazzarone dazu, sie zu verdauen” (29). (sc. Lazzaroni war vom 17. bis zum 19. Jahrhundert eine Bezeichnung für einen Teil der Unterschicht Neapels ohne eigene Wohnung und Arbeit).
Es war Fanny Lewald, die weltoffene und emanzipierte Berliner Saloniere, die als erste die Vorzüge des Olivenöls gegenüber Butter und anderen tierischen Fetten pries und den Auftakt machte für den modernen Olivenölboom. Auch die pasta lunga, zumal die Maccaroni, wurde als ekliges „gelbgraues Wurmgewinde” abgetan. Sogar der Schriftsteller Johann Gottfried Seume sprach angesichts der Ruinen von Syrakus noch vom „bestialischen Makkaronenfraß”. Auch frutti di mare, also Meerestiere, Fische, Muscheln, Krustentiere waren verpönt. „Pfui, wer kann so etwas essen wollen” schrieb der aus Frankfurt stammende Kaufmann und Schriftsteller August Kellner. Richter weiß, viele für uns heute befremdliche Äußerungen und Geschmacksurteile berühmter und weniger berühmter Italienreisender aufzuspüren. Vor allem die Figur des mangarimaccheroni, des Maccaroni-Essers, wurde zum Emblem des Neapolitaners.
Dem italienischen Eis ist eines der neun Kapitel gewidmet. Wer hat sich noch nicht darüber gewundert, dass italienische Eisdielen in Deutschland alle Venezia oder Dolomiti heißen: „Wie bei den Zitronenmännern und Pomeranzenkrämern steht Migration am Beginn. Waren die Ersteren aus der Gegend von Comer- und Gardasee gekommen, so kamen die Eismacher vorzugsweise aus zwei Dolomitentälern im Veneto, dem Val di Zoldo und dem Valle di Cadore – nicht ohne Grund ist ´Venezia´ und ´Dolomiti´ einer der beliebtesten Namen von italienischen Eiscafés. Durch die Industrialisierung in wirtschaftliche Not geraten, hatten sich viele Bewohner der Täler gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf den Wanderhandel verlegt, schwärmten während der Sommermonate in die Länder der Habsburger Monarchie, nach Deutschland und die Anrainerstaaten aus”(97). ... „Tatsächlich werden noch heute rund zwei Drittel der Eiscafés in Deutschland von Abkömmlingen aus den beiden genannten Tälern betrieben" (98). Für meine Regensburger Lieblingseisdiele aus Studentenzeiten und später (bei Klassenreisen gab es immer Sonderkonditionen), direkt gegenüber den Domtürmen gelegen, kann ich das bestätigte; kürzlich erzählte die fixe mit mehreren prächtigen Eisbechern souverän jonglierende Bedienung, das Geschäft werde nunmehr von der vierten Generation betrieben. Respekt!
Nicht minder zu vermerken ist der Wandel in der bis dahin vorherrschenden deutschen Gastrokultur, die dominiert war von Wirtshaus und Kneipe mit ihrem Akzent auf dem Konsum alkoholischer Getränke. Mit der Eisdiele entsteht ein Ort mit karger, moderner Einrichtung, hellem Ambiente und fremdländischem Flair, der den herkömmlichen Vorstellungen von deutscher Wirtshaus-Gemütlichkeit ganz und gar nicht entsprach. Eine besondere Bedeutung gewann der Eiskonsum – so Dieter Richter – im Rahmen der modernen Kinderkultur. Eis war das erste Genussmittel, das von Kindern selbständig gekauft werden konnte (103). Bald kamen unbekannte Sorten von Kaffee auf die Speisekarten, viele Ladenlokale stellten ab den 1960er Jahren Tische und Stühle auf die Strasse, ein wichtiger Teil der „Meridionalisierung des Nordens”, das Auf-der-Straße-Sitzen wird damit zum Teil des modernen Lebensgefühls.
Ein Migrantenschicksal der besonderen Art hat auch die Pizza, deren Global History mit der Migration über den Atlantik, in die Vereinigten Staaten, begann. Die USA wurden nach der Einigung Italiens und der damit einhergehenden Verarmung großer Bevölkerungsteile im Süden zum wichtigsten Ziel von Millionen von Auswanderern. Und die Küche wanderte mit. 1905 eröffnete der 18-jährige Gennaro Lombardi (Neapel 1887-New York 1958) in New York eine Pizzeria, wohl weltweit die erste außerhalb von Neapel (107). Die Vereinigten Staaten wurden so zur zweiten Heimat der Pizza, nirgendwo wird heute mehr Pizza gegessen als dort. Weitere Stationen der Emigration der Pizza kennen wir: die Erfindung der faltbaren Pizzaschachtel, die Experimentierfreude bei der Belegung, die Transformationen in einen gesamtamerikanischen Snack, die industrielle Produktion, der Vertrieb als Tiefkühlprodukt, die Beliebtheit als Streetfood, die Aufnahme in die Liste des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO 2017. Seit der 1990er Jahren macht der Begriff der Mittelmeerdiät Karriere. Studien wollen nachgewiesen haben, dass die Befolgung einer mediterranen Ernährungsweise vor Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Alzheimer und Demenz schütze.
Das Ziel des gelehrten wie informativen Buches von Dieter Richter gipfelt in dem früher auf dem Land vor mancher italienischen Wirtshaustür zu lesenden Satz: „Qui si manga bene“, „Hier isst man gut.“ Ein Bekenntnis zu Italien und seiner Küche am Ende des Buches. Das kommt nicht überraschend, denn seit den 1990er Jahren und im Zusammenhang mit verschiedenen Gastprofessuren an italienischen Universitäten und der Mitarbeit in süditalienischen Forschungseinrichtungen beschäftigt sich Dieter Richter intensiv und fundiert mit Themen der Grand Tour, der Geschichte der deutsch-italienischen Beziehungen und der Landeskunde Süditaliens, vor allem der Gegend von Neapel.
Con gusto ist ein großartiges, mit Gewinn zu lesendes Buch des emeritierten Bremer Mediävisten im Berliner Wagenbach Verlag, wo Sie überdies Lektüre für mehrere Rom-, Pompeji-, Herkulaneum- , Neapel- und Caprireisen, also für eine moderne Grand Tour aus seiner Feder finden, zum Beispiel Neapel. Eine literarische Einladung. Berlin (Wagenbach) 1998. 2008; Neapel – Biographie einer Stadt. Berlin (Wagenbach) 2005; Der Vesuv. Geschichte eines Berges, Berlin (Wagenbach) 2007; Der Süden. Geschichte einer Himmelsrichtung. Berlin (Wagenbach) 2009; Goethe in Neapel. Berlin (Wagenbach) 2012; Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft. Berlin (Wagenbach), 2014, Die Insel Capri. Ein Portrait. Berlin (Wagenbach), 2018, Fontane in Italien. Berlin (Wagenbach), 2019. Con gusto ist überdies ein überzeugendes Buch über Voraussetzungen, Hindernisse und Folgen von Migration sowie für die großen Vorzüge des kulturellen und kulinarischen Transfers und die vielfältige Bereicherung und glückliche Verwandlung der Gastrokultur im deutschen Sprachraum durch Zuwanderer aus unterschiedlichen Regionen Italiens. Grazie, Italia!
Thomas Alexander Szlezák, Platon. Meisterdenker der Antike. Biografie, 779 S. C.H. BECK München, 2021, ISBN 978-3-406-76526-1, 38,00 €

Athen 399 v. Chr.: Auf der Stadt lasten immer noch die Schatten des verlorenen Krieges gegen Sparta. In ihrem Ringen um innere Stabilität verkraftet die Öffentlichkeit keinen Provokateur wie Sokrates und verurteilt ihn zu Tode. An dem Tag, da er den Schierlingsbecher trinken muß, verliert der junge Platon (428/ 27–348/47 v. Chr.) seinen Lehrer – eine Erfahrung, die sein Leben und seine Philosophie nachhaltig prägen sollte. Um Platons Philosophie also besser erschließen und vermitteln zu können, bringt uns der Thomas Alexander Szlezák nicht nur den Denker, sondern auch den Menschen Platon in seinem Athener Umfeld näher. Der Autor der umfangreichen Biografie, Thomas Alexander Szlezák war Direktor des Platon-Archivs der Eberhard Karls Universität Tübingen und dort bis zu seiner Emeritierung Lehrstuhlinhaber für Griechische Philologie.
Vielleicht haben Sie in Ihrem Bücherregal eines seiner Bücher stehen, etwa den Band: Was Europa den Griechen verdankt. Von den Grundlagen unserer Kultur in der griechischen Antike, UTB, Stuttgart 2010, 220 Seiten, 24,90 EUR Seine zentrale These ist, dass für unser Selbstverständnis der spezifisch europäische Begriff von Freiheit in seinen zwei hauptsächlichen Aspekten als politische und als persönliche Freiheit grundlegend sei. Beide Aspekte wiesen zurück auf die Griechen. Nicht weniger deutlich sind die griechischen Wurzeln unserer Begriffe von Literatur, Wissenschaft und Philosophie sowie von kritischer Geschichtsschreibung und politischer Analyse.
2012 erschien von Thomas A. Szlezák die Monographie Homer oder Die Geburt der abendländischen Dichtung (München 2012, 254 S. 24,95 €) in der er die beiden gewaltigen Epen Ilias und Odyssee als zwei Hauptwerke der Weltliteratur erschließt. Er erläutert, was wir über Homer wissen können, und wendet sich dann den Fragen zu, wie diese Dichtungen aufgebaut und mit welchen literarischen Mitteln sie gestaltet sind, im Mittelpunkt der Handlungsablauf, die Protagonisten, die Konfliktlinien, religiösen und ethischen Vorstellungen. Thomas A. Szlezák lehrt uns, Homer zu lesen.
Nicht anders nun in der neuen bei C.H. Beck erschienenen Biographie Platon. Meisterdenker der Antike. Dieses fast 800 Seiten umfassende Werk bietet eine detailreiche und grundlegende Einführung in Platons Leben, in sein Werk und Denken. Bei einem Durchgang durch Platons Dialoge und Briefe thematisiert er Fragen nach Echtheit, Stil und Chronologie des Gesamtwerks; dies auch schon in dem vielgelesenen und in 17 Sprachen übersetzte Buch: Platon lesen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993. Platon ist der erste und neben Plotin einzige antike Philosoph, von dem kein Werk verloren ging. Doch wurde unter seinem Namen noch mehr überliefert, dessen Echtheit in den meisten Fällen zumindest zweifelhaft ist.
Der lehrende Sokrates. Gemälde von José Aparicio, 1811, im Musée Goya, Castres
Über Szlezáks Buch schrieb Thomas Mayer in der ZEIT: „Er bietet eine detailliert rekonstruierte Biografie, stellt ausführlich die literarischen und stilistischen Mittel vor, derer sich Platon bedient, führt uns in die Maschinenräume von Platons Denken, präsentiert die großen Dialoge Gorgias, Phaidon, Politeia, natürlich das Symposion. Schließlich liefert Szlezák eine Auseinandersetzung mit der Wirkungsgeschichte.“ (Quelle: ZEIT Literatur Nr. 12/2021, 18. März 2021)
Eine Schlüsselrolle im Verständnis der Erkenntnistheorie Platons und seiner mündlichen Prinzipienlehre kommt dem Siebten Brief zu: Die Letztbegründung seiner philosophischen Erkenntnisse kann demnach nicht schriftlich niedergelegt, sondern nur mündlich vermittelt werden, und die Einsicht muß dann wie ein Funke überspringen, der ein Licht entzündet. Rafael Ferber schreibt dazu in der NZZ vom 06.07.2021: „In einer Interpretation des «Siebten Briefes» sieht Szlezák in Platons Aussage, die Sache, um die es ihm zentral gehe, sei nicht sagbar, zwei wesentliche Aspekte: Einerseits sei das «Überspringen des Funkens» der Erkenntnis nicht mitteilbar, andererseits sollten «die zum Aufleuchten der Erkenntnis hinführenden dialektischen Gedankengänge» nicht schriftlich mitgeteilt werden – weil sie damit auch Lesern zugänglich würden, die weder über die nötigen charakterlichen noch intellektuellen Fähigkeiten verfügten, sie zu verstehen.“
Der Autor untermauert die These, dass dieser Brief echt und autobiographisch ist. Platons ungeschriebene Lehre ist einer der Forschungsschwerpunkte Szlezáks. Platon hatte seine veröffentlichten Dialoge als Spiel bezeichnet. Sein Schüler Aristoteles hatte ausdrücklich behauptet, dass es neben den veröffentlichten Schriften Platons noch eine ungeschriebene Lehre gegeben habe. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war diese Frage das zentrale Thema der Forschung zur älteren Philosophiegeschichte: Die Interpretationsrichtung der Tübinger Platonschule.
Tassilo Schmidt schreibt in der NZZ vom 6.7.2021: „Das Buch Platon. Meisterdenker der Antike führt auf umfassende Weise in Platons Leben, Werk und Denken ein. Zu den Grundfragen der Platon-Forschung bezieht Szlezák klar Stellung. Die Figur des Sokrates, wie wir sie aus den frühen und mittleren Dialogen kennen, ist für ihn eine «Schöpfung Platons». Die «Apologie» hält er für nicht unmittelbar nach dem Prozess und dem Tod des Sokrates 399 v. Chr., sondern für «Jahre später» verfasst, wie das schon Nietzsche festgestellt hatte. Die Akademie ist für Szlezák eine Mischung von Privatuniversität und Lebensgemeinschaft mit dem Ziel einer zweckfreien Forschung. Ausführlich werden Platons drei Reisen nach Sizilien geschildert und das Verhältnis zu Dion von Syrakus, der «grossen Liebe in Platons Leben».“
Ulf von Rauchhaupt fasst in der FAZ (10.09.2021) das Anliegen des Buches so zusammen: „Was der Autor unternimmt, ist eine Kartierung des geistigen Kosmos Platons: seiner schriftstellerischen Mittel und Ziele, seiner Wissenschaftslehre, seiner Anthropologie, Kosmologie, politischen Philosophie, seiner Fundamentalphilosophie samt der berühmten Ideenlehre und schließlich, bewusst als Schlussakkord des Buches, Platons Theologie. Es ist ein Platon-Atlas für philosophisch interessierte altphilologische Laien – alles Griechisch ist transliteriert –, die verstehen möchten, worum es dem Athener Denker ging.“
Übrigens finden Sie auf dem Buchmarkt 2021 noch ein weiteres Platonbuch, den deutlich schmäleren Band des 91-jährigen Hellmut Flashar: Platon. Philosophieren im Dialog; Passagen, Wien 2021; 224 S., 24,90 €. Er bezieht Literatur, Kunst und Theater ein und transferiert dabei Platon immer wieder ins Heute.
Katharina Wesselmann, Die abgetrennte Zunge. Sex und Macht in der Antike neu lesen, Theiss-Verlag / WBG Darmstadt 2021. 224 S. mit 10 s/w Abbildungen, Bibliographie, Register, 22,00 € / 17,60 € für Mitglieder, ISBN 978-3-8062-4342-0, auch als Ebook erhältlich

Katharina Wesselmann, seit 2019 Professorin für Fachdidaktik der Alten Sprachen in Kiel, „gelingt es, klug und unterhaltsam zugleich über das Männer- und Frauenbild der Antike zu schreiben”, so lautet das Resümee zu ihrem Buch Die abgetrennte Zunge. Sex und Macht in der Antike neu lesen von Ramona Westhof im Deutschlandradio.
Theodor Kissel fasst seine Rezension (bei spektrum.de) wie folgt zusammen: „Die abgetrennte Zunge ist ein sehr lesenswertes und intelligent geschriebenes Buch, in dem die Autorin ein bislang vornehmlich auf akademische Kreise beschränktes Forschungsfeld für ein breiteres Publikum erschließt. Anders als viele identitäre Bewegungen, die Geschichte mit modernen Wertvorstellungen interpretieren, ohne sich in die jeweilige Epoche und deren Denkweisen hineinzuversetzen, unterliegt Wesselmann dieser selbstgerechten Urteilsweise nicht. Sie versucht vielmehr, »zeitgenössische Erscheinungen in ihre Traditionen einzuordnen« und antike und heutige Perspektiven als konträre Narrative zu begreifen.”
Ramona Westhof beschließt ihre Besprechung des Buches im Deutschlandfunk Kultur: „Die Autorin schafft es, die antiken Texte in einen modernen Kontext zu bringen – und das nicht nur durch ihre vielen popkulturellen und gesellschaftlichen Bezüge, sondern auch durch ihre Sprache. Angenehm unprätentiös und gleichzeitig ernst schreibt sie von „Toy Boys“ oder „Bitches“, um im nächsten Absatz Grundlagen altrömischer Dichtung zu erklären. Das macht das Buch nicht nur informativ, sondern stellenweise auch sehr lustig. Besonderes Highlight: ein Kapitel, in dem Wesselmann antike Schmähtexte mit modernem Rap vergleicht und darin zeigt, dass Zeilen des Dichters Catull und der Gruppe K.I.Z. in Männerbild, Wortwahl und Thematik tatsächlich kaum zu unterscheiden sind. Verständlich, dass solche Vergleiche es nie in den Lateinunterricht geschafft haben – unterhaltsamer gemacht hätten sie ihn allemal.”
Der Titel „Die abgetrennte Zunge” (S. 90ff.) stammt aus der Erzählung von Tereus, Procne und Philomela, die vielleicht brutalste unter den Metamorphosen Ovids, die er selbst als Gruselgeschichte bezeichnet. Tereus und Procne ziehen in seine Heimat Thrakien, wo sie den Itys zur Welt bringt. Nach fünf Jahren verspürt Procne Sehnsucht nach ihrer Schwester Philomela und schickt Tereus los, um sie zu einem Besuch zu holen. Was dann folgt, könnte aus einem modernen Horrorfilm über einen psychopathischen Kriminellen stammen (Zeitungen berichten ja bisweilen von leider realen Figuren dieser Art) ... Man sieht u.a. gleichsam in Zeitlupe, wie Philomela von ihrem Sprachvermögen getrennt wird, der personifizierten Zunge (91). Tereus wird schließlich von den rachsüchtigen Schwestern verwandelt - in einen Wiedehopf, ein Vogel, der aussieht, als starre er vor Waffen. Katharina Wesselmann stellt natürlich die Frage, was wir heute mit derartigen Erzählungen machen, Geschichten (etwa auch von Io und Daphne) mit dem Aspekt des erzwungenen Schweigens und verfolgt in dem Zusammenhang eine Reihe von „Übersprungs”-Interpretationen, geglättete Übersetzungen, Verharmlosungen, Beschönigungen.
Eyribates und Talthybios führen Agamemnon Briseis, die Konkubine des Achilleus zu, Tiepolo, 1757
Die sehr unterschiedlichen Gattungen antiker Literatur (gleich ob Philosophie, Historiographie, Satire oder Mythologie) sind bekanntlich nicht für heutige 14- oder 18-jährige Schülerinnen und Schüler geschrieben, auch nicht für Menschen des 21. Jahrhunderts mit ihren möglicherweise fortschrittlichen Überzeugungen. Das wusste man schon früher, Bücher wurden dann nicht mehr beachtet, beschriebene Blätter nachhaltig zweitverwendet, sie wurden nicht mehr gelesen und abgeschrieben, sie wurden indiziert, inhaltlich neu akzentuiert, später doch wieder rezipiert, umgeschrieben, ad usum Delphini - gar für den Thronfolger, nicht erst im nicht so fernen Viktorianischen 19. Jahrhundert, sondern ziemlich regelmäßig in den prüderen Epochen der europäischen Kulturgeschichte. Texte wurden erheblich gekürzt oder anderweitig entschärft, bevorzugt literarische Größen wie Homer, Aristophanes, Plautus, Terenz, Ovid, Juvenal und Martial, deren Unverblümtheit vor allem in erotischen Fragen den königlichen Hauslehrern in Versailles ab und an zu bedenklich erschien. Bekanntlich ist man mit einigen Bibelstellen ähnlich verfahren. Der eigentliche Titel ad usum Delphini (zum Gebrauch für den Unterricht des Dauphins, so wurde der französische Thronfolger seit dem 15. Jahrhundert genannt) erschien übrigens erstmals in der Sammlung lateinischer Klassiker, die vom Herzog von Montausier in Auftrag gegeben und unter der Aufsicht königlicher Hauslehrer in 64 Bänden von 1670 bis 1698 veröffentlicht wurde.
Achilleus’ Übergabe von Briseis, Wandgemälde aus Pomeji, 1. Jh. n. Chr.
Zurück zu Katharina Wesselmann: An etlichen Beispielen zeigt sie recht überzeugend, dass sich die antiken Texte heute nicht ohne weiteres wie intendiert lesen lassen. Kritisch gelesen könnten sie aber – so ihre These – wichtige Diskussionen anregen, speziell auch bei jungen Lesern mit einer kritischen Sensibilität für alle Fragen der Gerechtigkeit. Katharina Wesselmann nennt die Komödie „Hecyra“, in der das Happy End darin besteht, dass der unbekannte Vergewaltiger, der eine junge Frau geschwängert hat, sich als ihr eigener Ehemann herausstellt. Die Ehre ist also wiederhergestellt. Dass der Ehemann nun ein Vergewaltiger ist, werde im Stück an keiner Stelle thematisiert; die Autorin merkt hier an, dass in Deutschland dies erst seit Ende der 90er-Jahre unter Strafe stehe.
Gabriel Fauré - Pénélope - poster by Georges-Antoine Rochegrosse 1913
Wie soll man also im Schulunterricht mit einer Kultur umgehen, die Frauen als Besitz ansah und sexuelle Gewalt gesellschaftlich legitimierte? Die antike Welt ist eine patriarchalisch geprägte Welt. In dieser waren Frauen – von Ausnahmen abgesehen – keine selbstständig handelnden Personen, sondern ausschließlich über die Beziehungen zu ihren Männern definiert, wie die Autorin im Kapitel Erzählte Frauen zeigt. Ob die Sklavin Briseis oder die treue Penelope, Gattin des Odysseus, stets sind die erzählten Frauen Projektionen der erzählenden Männer mit fest zugewiesenen Geschlechterrollen: Erstere als weibliches Streitobjekt männlicher Besitzansprüche (zwischen Achilles und Agamemnon), letztere als Heimchen am Herd. Frauen gehörten in der antiken Männerwelt nicht in die Öffentlichkeit, wie die Autorin anhand zahlreicher Beispiele nachweist. Wer sich exponierte, wurde ausgegrenzt und dämonisiert, beispielsweise in Sophokles' Drama Antigone wird der Protagonistin ihr Eintreten in die männliche Dominanzsphäre Politik zum Verhängnis.
Penelope (the faithful wife of Odysseus), from Rome, Hadrianic copy of Greek work from 5th century BC, Ny Carlsberg Glyptotek, Copenhagen
Schon bevor ihr Buch erschien, hat Katharina Wesselmann eine Unterrichtseinheit zum Thema der sexuellen Gewalt in Ovids Metamorphosen konzipiert und im LK Latein der Gelehrtenschule Kiel durchgeführt: „Die Idee war es, Lernenden offenzulegen, mit welchen Inhalten sie es bei diesem Werk (auch) zu tun haben und ihnen einen kritischen und gegenwartsbezogenen Umgang damit zu ermöglichen” (S. Rausch, K. Wesselmann, Sexuelle Gewalt in Ovids Metamorphosen. Ein Schulversuch, in: Latein Forum 101/102 (2020), 1–56, hier: S. 4 (vgl. https://www.latein-forum.tsn.at/sites/default/files/2020-12/Rausch-Wesselmann_Ovid.pdf). Im Blickpunkt stehen Daphne und Apollo, Jupiter und Io, Tereus, Prokne und Philomela.
Gold ring representing Penelope waiting for Odysseus. Syria, last quarter of the 5th century BC.
Die beiden Autoren des Unterrichtsentwurfs fügen die verwendeten meist zweisprachigen Texte ihrem Aufsatz bei und präsentieren zudem ein detailliertes Kursfeedback (S. 14ff.) nach Abschluss der Einheit, das weitgehend positiv war, auch wenn die einseitige Fokussierung auf das Thema der sexuellen Gewalt kritisiert wurde: „allerdings halte ich eine solch intensive Behandlung des Themas nicht für massentauglich, da sonst die Gefahr der Vernachlässigung anderer bedeutender Aspekte der Metamorphosen Ovids entstehen könnte. ... Ich hätte mir noch anderes als diese Liebesgeschichten gewünscht, zum Beispiel die Geschichte Phaetons” (S. 14 Anm. 22). Auf weitere Unwägbarkeiten weisen die Autoren selbst hin; sie hätten nicht bedacht, dass in der Lerngruppe Schülerinnen mit besonderen Sensibilitäten hätten sein können, die u.U. weitere psychologische oder therapeutische Betreuung bräuchten (S. 15). Das ist freilich ein zentraler Aspekt.
Was Katharina Wesselmann und ihr Kollege an der Kieler Gelehrtenschule nach Abschluss der Unterrichtsreihe konstatieren (S. 17), gilt mehr noch für ihr Buch, in dem es darum geht, die Antike neu zu lesen: „Dass innovative Zugänge möglich sind und die antiken Texte nicht nur entwerten, sondern in der heutigen Zeit besonders interessant machen, haben wir mit unserer Unterrichtseinheit hoffentlich zeigen können. Dass es kein ganz einfaches Unterfangen ist, sondern Mut und Sensibilität erfordert, muss im Jahr 2020 kein Hindernis mehr sein.”
Rom in eigenen Worten. Texte zu den wichtigsten Orten und Monumenten, Lateinisch/Deutsch, Neuübersetzung, Ausgew., übers. und komm. von Michael Mohr, 176 S. 20 Abb. 2 Karten, ISBN: 978-3-15-014156-4, 12,00 €

Ein Reclam-Bändchen in Iphone-Größe hat bei einer Tour durch das antike und päpstliche Rom unschlagbare Vorteile; und wenn dann noch ein zweifarbiger Druck mit einem Leitsystem und zwei Stadtpläne zur schnellen Orientierung dazu kommen, dann kann solch ein Taschenbuch –gleich ob der Nutzer lateinkompetent ist oder evtl. nicht - seinen Zweck bestens erfüllen. Der Autor vertritt allerdings die Auffassung: „Ein Besuch in Rom gibt eine eindeutige Antwort auf die oft gestellte, deshalb aber keineswegs kluge Frage, wozu man Latein brauche. Wer hier kein Latein kann, wird viele Nachrichten aus der Vergangenheit nicht verstehen können, die ausdrücklich an ihn gerichtet sind” (Vorwort S. 8).
Erst vor wenigen Jahren bekannte Klaus Bartels in seinem großartigen Buch Roms sprechende Steine. Inschriften aus zwei Jahrtausenden (Mainz 2000 und etliche spätere Auflagen): „dieser Cicerone (sc. die Sprechenden Steine) spricht lateinisch, und das ohne Punkt und Komma, und manchmal so gebrochen und verschliffen, so abgekürzt und verschlüsselt, dass auch ein gestandener Lateiner – experto credite! – da anfangs, und nicht nur anfangs seine liebe Mühe hat” (Bartels, S. 9).
Rom um 1490. Holzschnitt aus Hartmann Schedels Weltchronik (Nürnberg 1493)
Denn mehr als 2000 Jahre lang schrieb in der Ewigen Stadt jeder, der der Öffentlichkeit dauerhaft eine wichtige Mitteilung zu machen hatte, auf Stein in Latein. Dieser Band versammelt in sechs Kapiteln entsprechend den wichtigen Regionen des Stadtzentrums (I. Forum und Palatin, II. Kaiserforen und Kapitol, III. Tiberinsel, Marsfeld und Quirinal, IV. Esquilin und Lateran, V. Forum Boarium, Circus Maximus und Aventin, VI. Vatikan) Inschriften auf den bedeutendsten Monumenten; daneben auch ausgewählte Texte römischer und mittelalterlicher Autoren über die meistbesuchten Orte: vom Kolosseum über Pantheon und Engelsburg bis hin zum Petersdom oder zur berühmten Laokoon-Statue. Einen Reiseführer will das Bändchen nicht ersetzen; der Autor rät zum neuen Coarelli und den einschlägigen Titeln sowie zu Büchern von Christoph Neumeister, Kurt Röske, Ulrich Schmitzer; unbedingt nennen müsste man den Wiener Kollegen Johann Stockenreitner (Projekt Rom. Reisebegleiter in die Urbs aererna, Wien 2017).
Der lateinische Text samt Übersetzung und die wichtigsten Informationen zur Einordnung von Text und Monument ergeben einen perfekten Reisebegleiter, um Rom mit anderen Augen zu entdecken – ideal für Klassenfahrten und Bildungsreisen und ihre Vorbereitung, übrigens mit zahlreichen Verweisen auf das 300-Seiten-Buch von Klaus Bartels. Eine unschätzbare Bereicherung seiner Arbeit an diesem Band - so der Autor Michael Mohr – sei die höchst empfehlenswerte Teilnahme am Rom-Kurs des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Rom, gewesen. Dort habe er etliche Einblicke in die stadtrömische Topographie und in die Monumente der Stadt gewinnen dürfen (Vorwort 11).
Ansicht von Rom, ca. 1640. Matthaeus Merian, Topographia Italiae, das ist: warhaffte und curioese Beschreibung von ganz Italien...)
Der Herausgeber Michael Mohr hat in Tübingen und Oxford griechische und lateinische Philologie sowie Geschichte studiert. Er war Redakteur beim Lexikon Der Neue Pauly und unterrichtet – nach Stationen in Rottweil und Konstanz – an einem Gymnasium in Rottenburg am Neckar. – „Rom in eigenen Worten” – ein ganz vorzüglich konzipiertes und gestaltetes Bändchen für Rombesucher auf großer Tour und zu Hause!
Jörg Fündling, Der Antike-Knigge. Angenehm auffallen im Herzen des Imperiums, Reclam 14157, Klappenbroschur, 246 S., ISBN: 978-3-15-014157-1, 12,00 €

„Was würden Sie anziehen, wenn Sie im Rom zu Zeiten des Kaisers Marc Aurel zum Abendessen eingeladen wären? Wer jetzt antwortet »Na, eine Toga!«, der hätte besser mal im Antike-Knigge nachgelesen. Denn der gibt so manches zu bedenken: Sie speisen im Liegen – wollen Sie da wirklich Massen an Stoff auf sich haben? Die Bleigewichte im unteren Saum drücken an den Schienbeinen. Und der kunstvoll drapierte Gewandbausch könnte sich bei einer unachtsamen Bewegung auflösen (und seinen Inhalt – Notiztäfelchen, Kleingeld … – auf der Liege verteilen)!”
Der Aachener Althistoriker Jörg Fündling (bei Reclam erschien von ihm 2016 Asterix. 100 Seiten, 4. Auflage 2020,) hat das Knigge-Konzept auf die Antike übertragen und gibt in launigen Kapiteln Benimmtipps für unterschiedliche Gelegenheiten, eben die berühmten Do’s and Don’ts, treffender gesagt: Fac et noli!
Nach ersten „allgemeinen Hinweisen für Zugezogene und Reisende aus der Provinz” geht es um Kleidung, Schmuck und Frisur, S. 55ff., sowie um (Körper-)Sprache, 66ff.: Welches Latein spricht man auf dem Markt beim Fischändler? Was ist gutes Latein? Der Antike-Knigge warnt vor dem Latein in Ciceros Reden, Vorsicht auch bei altehrwürdigen Fällen wie Ennius oder dem älteren Cato: „Gewöhnen Sie sich gar nicht erst an, maxumus zu sagen und vergessene Vokabeln wiederzubeleben, außer zu Parodiezwecken bei ausgelassenen Abendgesellschaften; das wird sich nicht durchsetzen, es ist nur eine Mode, und die Wenigsten sprechen dieses falsch Latein richtig” (67).
Praktische Tipps auch im Kapitel über den Alltag. Zum Beispiel die Warnung vor Sonnenuhren: „Verlassen Sie sich nicht blind auf die Magie der exakten Schattenanzeige! Falls es sich um ein Beutestück handelt, das auf die Lokalzeit des Herkunftsortes eingestellt ist, stehen Sie dumm da. Verabredungen wie 'Wenn die Sonne zwischen dem und dem Gebäude steht', 'Wenn der Schatten der X-Statue auf den kleinen Brunnen fällt' und dergleichen haben sich da eher bewährt” (74).
Was tun im Krisenfall? „Suchen Sie den Schutz hochgelegener Tempel oder der historischen Akropolis, wenn vorhanden: meiden Sie bei angespannter Atmosphäre die Theater griechischer Städte – im Zweifelsfall läuft der Mob dort zusammen, manchmal auch im Hippodrom (unserem Circus). Marktplätze können relativ sicher sein, falls sie sich nicht durch Luxusgeschäfte zu Plünderaktionen empfehlen” (76).
Im Kapitel Über die Familie (77ff.) geht es um Eheangelegenheiten, Kinder und Sklaven, die Kindererziehung, um Perlen und gute Hausgeister sowie um Schoß- und Haustiere, darunter allerhand exotisches Getier: Flamingos, Strauße, Papageien, aber auch Wachteln, Tauben und Eulen. Die Hausgemeinschaft mit Mäuse jagenden Wieseln (mindestens eines pro mittelgroßem Atrium) wird in der Stadt dem Halten von Hunden vorgezogen (102).
Briefmarke Adolph Freiherr Knigge:
Zentral der Abschnitt: Auf Reisen und als Übernachtungsgast bei Freunden oder Bekannten, 105ff.: „Unser Wort hostis heißt eigentlich 'Fremder' und dann erst 'Feind', wie wir es heute üblicherweise verwenden; wer jetzt aber denkt, wir Römer seien von Geburt an mißtrauisch und gingen, wenn es klopft, immer mit dem Schwert an die Tür, der bedenke, dass vom gleichen Wort auch hospes kommt, und das heißt nicht umsonst 'Gast' und 'Gastgeber'. Der Fremde von heute ist der Gastgeber von morgen und der Besucher von übermorgen”, 106.
Apropos Anrede: „Bei Unbekannten gelten die Regeln vorbeugender Höflichkeit. Wir sprechen uns nicht vorgestellte Leute also mit domine, Frauen mit domina an, auch wenn wir den Verdacht haben, sie seien nicht vornehmer als wir, sondern eher etwas weniger. Von der Anrede 'Kamerad' an einen Soldaten empfehlen wir abzusehen, es sei denn, Sie haben selbst gedient - manche reagieren sehr giftig darauf, wenn ein Nichtveteran sie als seine commilitones betrachtet. Schlimmstenfalls fällt das Wort paganus, 'Zivilist/Bauerntrottel', und das wollen wir doch nicht riskieren, schon da das Militär verdiente Privilegien im Rechtsstreit mit Nichtsoldaten genießt”, 110f.
Weiter: Das Kapitel Einladung zum Abendessen: die Bühne des Soziallebens, 113ff., ist mit 70 Seiten das umfangreichste. Da geht es um verschiedene Formate des Abendessens, natürlich um die Kleidung, um Accessoires und Parfüms, um Gastgeschenke, aber auch um die Frage „Welches Personal nehme ich mit?” Die Platzverteilung im Triklinium ist ein Thema, die Reihenfolge der Speisen, die Frage „Besteck oder Finger?”, die „Leibesnöte” und das Spektrum der Begleitprogramme. Schließlich noch ein Wegweiser durch den Abend. Was passiert wann? (156ff.). Es geht um Gespächsthemen, das Gespräch mit Bekannten und Unbekannten und solche, die Diskretion erfordern. Ein eigener Abschnitt heißt: Als Frau von Welt beim Gelage, 180ff.
Im letzten Kapitel geht es noch um besondere Anlässe, Hochzeit, Erwachsenwerden, Krankenbesuch, Todesfall und Beisetzung und schließlich um Auftritte in der Öffentlichkeit mit dem Ziel „herausstechend korrektes Benehmen in der Masse”, 205ff. Gemeint sind Thermenbesuche, Spiele, Theater, Rezitationen, Kulturelles, der Circus, das Amphitheater und Naumachien und anderes Ungewöhnliche.
Zwei Seiten über „Fremde Sitten, auf die Sie stoßen könnten”, bilden den Schluss des Antike-Knigge; es geht dort um Kontakte zu den fernen Nabatäern, Ägyptern, Griechen, die alle ihre Besonderheiten, die römische Welt aber um spezifische Dinge bereichert haben, den Weihrauch, den Papyrus, Homer und die Fischkonserven.
In einem Nachwort reflektiert Jörg Fündling sein Knigge-Projekt: solche Benimmbücher hat es in der antiken Welt nicht gegeben. Indirekten Benimmunterricht will er aber bei einer Reihe von antiken Autoren erkennen, etwa bei Valerius Maximus, Quintilian, Horaz, Petronius, Martial, Juvenal, Plinius, Cassius Dio und Fronto. „Ein antiker Benimmbuch-Autor des 2. Jahrhunderts hätte vermutlich versuchen müssen, seinen Stoff als Dialog mit fünf bis zehn erfundenen Beteiligten beim Abendessen darzustellen, und ein weit ausholendes theoretisches Vorwort verfasst” (238) - vielleicht findet sich irgendwann ja doch einmal solch eine Schrift.
Andreas Bächli, Andreas Graeser, Grundbegriffe der antiken Philosophie, UB 14049, 283 S. ISBN 978-3-15-014049-9, 10,00 €

Andreas Graeser (1942–2014) war ordentlicher Professor der Philosophie an der Universität Bern, Andreas Bächli ist dort an der philosophisch-historischen Fakultät Privatdozent für Philosophie. In diesem 2021 neu erschienenen Nachschlagewerk (2000 erstmals bei Reclam, damals mit dem Untertitel: Ein Lexikon als UB 18028) erklären sie wesentliche Begriffe der antiken Philosophie und die Spezifika der antiken Philosophenschulen, darunter Akademie bzw. Akademiker, Atomismus, Eleatik, Eleaten, Epikureismus, Neuplatonismus, Peripatos, Platonismus, Pyrrhonismus, Skepsis und Stoa. In insgesamt 48 Artikeln finden sich Begriffe wie Glück, Gut, Idee, Individuum, Kosmos, Materie, Meinung, Nachahmung, Natur, Schönheit, Seele, Subjekt, Wahrheit, Wissen und Zeit.
Die beiden Autoren beschreiben ihre Intentionen im Vorwort folgendermaßen: „Die hier vorliegenden Erörterungen wesentlicher Grundbegriffe der antiken Philosophie verfolgen ein doppeltes Anliegen: Sie sollen wichtige philosophische Thematiken im Spiegel systematischer Interessen verfügbar machen; und sie sollen die Aufmerksamkeit z. T. auf andere Gesichtspunkte wie z. B. Evidenz, Bedeutung lenken helfen, die im Lichte der Gegenwartsdiskussion an Gewicht gewonnen haben. Beides legt eine gewisse Distanzierung zu anderen Lexika nahe, die im Zweifelsfall eher der traditionellen Kanonbildung folgen, Problematisierungen weitgehend vermeiden und weniger an den Bewegungen in der heutigen Diskussion teilnehmen. In diesem Sinne hoffen wir, eine Lücke schließen zu können.”
Der Vorzug einer solchen eher ungewöhnlichen Darstellung liegt auf der Hand. Statt langer Debatten über das „Glück” (S. 112–115) lässt sich nun einfach nachschlagen, auf dreieinhalb Seiten. Im entsprechenden Artikel findet sich ein kurzer begriffsgeschichtlicher Hinweis auf die Eudaimonia und ihre klassische Diskussion in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles; aber auch Platon und Demokrit (aber auch die Epikureer und Stoiker) werden in die Betrachtung einbezogen. Zitiert wird die Unterscheidung Demokrits „Die Seligkeit wohnt nicht in Viehherden und auch nicht in Gold, sondern die Seele ist es, wo der beseeligende Geist seine Wohnstätte hat” (B 171) und: „Wer die Güter der Seele ergreift, der ergreift die göttlicheren, wer die des Körpers, die menschlichen” (Frg. 68 B 37)-
Dietmar Schmitz, Kleine Schriften Antike – Spätantike – Neuzeit – Fachdidaktik. Analysen griechischer und römischer Texte, Aspekte ihrer Rezeption und Transformation, Übersetzungen lateinischer Texte und Gedanken zur didaktischen Umsetzung, Peter Lang Verlag, Berlin 2021, 1020 Seiten, ISBN 9783631836231, 129,95 €

Dietmar Schmitz studierte Klassische Philologie, Romanistik und Hispanistik an den Universitäten Köln, Reims und Düsseldorf. In seiner Dissertation befasste er sich mit den Reden Ciceros. Er war als Studiendirektor für Latein, Französisch und Spanisch an verschiedenen Gymnasien in Nordrhein-Westfalen tätig. An der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster arbeitete er als Lehrbeauftragter für die Fachdidaktik Spanisch. Wir kennen ihn als den Kollegen, der seit vielen, vielen Jahren die umfangreiche Rubrik Rezensionen in der ZS Forum Classicum betreut. Für diese und andere Zeitschriften hat er eine große Zahl an Rezensionen verfasst, daneben Bücher und Aufsätze zur Klassischen Philologie und (hier zeigt sich der Praktiker) diverse Lektürehefte für den altsprachlichen Unterricht. Mit einigen Ausgaben, etwa über Antike Medizin (Freising 2003) und über Rom und die Christen (Freising 2004) habe ich selbst vielfach mit Gewinn unterrichtet.
Er hat nach seiner Dissertation Ciceros umfangreiches Corpus der Atticusbriefe übersetzt und bei Reclam herausgegeben, 1995 eine wissenschaftlich eingeleitete und kommentierte lateinisch-deutsche Edition der Werke des bedeutenden französischen Humanisten Muretus publiziert, welcher eine Tragodie Julius Caesar verfasst hatte, die im College de Guyenne in Bordeaux uraufgefuhrt wurde und spater auch als Druck erschien, gemeinsam mit den Juvenilia, einer Sammlung von Elegien, Satiren, Epigrammen, Oden und Briefen.
1997 folgte die Herausgabe der Kleinen Schriften der auf tragische Weise verstorbenen Düsseldorfer Klassischen Philologin Ilona Opelt, bei Reclam hat Dietmar Schmitz einzelne Biographien Suetons neu übersetzt (über Caesar und Augustus) und als Gesamtausgabe herausgebracht zusammen mit Ursula Blank-Sangmeister, Marion Giebel und Hans Martinet (727 Seiten, 2018).
Kürzlich erschien nun im Peter Lang-Verlag von Dietmar Schmitz eine gewichtige Sammlung seiner 'Kleinen Schriften' im Umfang von über 1000 Seiten. Der Band enthält 26 Aufsätze (davon zehn zu fachdidaktischen Fragen) und 169 Rezensionen zu Veröffentlichungen der letzten 25 Jahre, von denen jeder ambitionierte Altphilologe die allermeisten Titel gerne in seinem Regal stehen hätte, weil sie die Entwicklung des Fachs repräsentieren. Für alle, die Geld- oder Platzgründe ins Feld führen, bietet der Sammelband die Gelegenheit, den altphilologischen Büchermarkt komprimiert Revue passieren zu lassen und ganz gewiss dabei auch manches Übersehene neu zu entdecken. Michael von Albrecht gibt in seinem Geleitwort erste Lesetipps: „Die vorliegende Sammlung Kleiner Schriften (die auch zahlreiche bisher unveröffentlichte Beiträge enthält) vermittelt für den Sprach- und Ethikunterricht - und darüber hinaus für alle an europäischer Kultur Interessierten –vielseitige Anregungen. Das Griechische ist durch Beiträge zu Schimpfwörtern bei Kirchenvätern kompetent vertreten. Der Lateinlehrer, der nach Ersatz für Caesar sucht, wird sich vom Verfasser gerne zu Cicero hinführen lassen – sowohl was den Wert der Rhetorik für die staatsbürgerliche Erziehung als auch was römische Wertbegriffe und Rechtsvorstellungen betrifft. Erfrischend sind Beispiele zur Lektüre lateinischer Briefe – Ciceros natürlich und Senecas (mit der zentralen Todesproblematik), – aber auch die wohlbegründete Anregung, Sueton zu lesen, und zwar sogar im Hinblick auf Sprache und Stil, ein Gebiet, auf dem gerade die klare und nüchterne Ausdrucksweise dieses Autors ein Bollwerk gegen modischen Wortschwall bilden kann. Mit Recht weitet sich der Horizont lateinischer Lektüre auch auf die Patristik aus (z.B. Salvian) bis hin zur Ludgerus-Vita und mittelalterlichen Texten. Der Humanismus ist vertreten ... Als Freund des Lateinsprechens im Unterricht begrüßt man besonders den Beitrag zur Theorie der Konversation und des Briefeschreibens” (11f.).
Stefan Freund hebt (in der Rubrik Neuerscheinungen Juli 2021 auf der Webseite des DAV) besonders die Beiträge „zu den Zeugen in Ciceros Verres-Reden (19–29), zu den römischen Wertbegriffen bei Christen und Nichtchristen in der Spätantike (343–369) und zum ‚Wandel in der Konzeption lateinischer Unterrichtswerke‘ (685–747)” hervor. Einen bemerkenswerten Abschnitt stellen auch die Beiträge zur humanistischen Tradition in der Romania dar (493–523), teilweise spanisch oder französisch), ihr fachdidaktisches Komplement finden sie in Überlegungen über ‚Latein und Griechisch als Basisfächer für das Erlernen der spanischen Sprache‘ (793–798). Alle vier bereits im Untertitel genannten Hauptkapitel enden mit einer Zusammenstellung thematisch einschlägiger Rezensionen.
Dietmar Schmitz hält die Rezensionstätigkeit (auf den Seiten 833-968 beispielsweise 40 Besprechungen von fachdidaktischen Titeln aus den Jahren 1996–2020) im Wissenschaftsbetrieb naturgemäß für eine unverzichtbare Sache: „Ich bin davon überzeugt, dass Rezensionen einen integralen Bestandteil des wissenschaftlichen Diskurses darstellen. Durch die Lektüre zahlreicher Bücher, die ich für verschiedene Zeitschriften rezensieren durfte, habe ich persönlich viel gelernt; mein Blick für manche Details, aber auch für größere Zusammenhänge wurde durch die gründliche Sicht von Monografien, aber auch Aufsatzsammlungen geschärft” (Vorwort, S. 14). Eine Besprechung eines neuen Buches fördert aber nicht nur die eigene fachliche Kompetenz, sondern verweist auf die Stärken eines Buches, stellt ggf. wichtige Erkenntnisse des Autors, Kluges, Amüsantes, Überraschendes, Kontrastierendes vor und berät auf diese Weise in aller Knappheit den Leser. Das macht die Lektüre in einem solchen Megabuch noch im Rückblick interessant, nämlich auf Positionen zu stoßen, die in die wissenschaftliche Debatte mittlerweile Eingang gefunden haben oder auch neu Berücksichtigung verdienen. Solch ein Buch mit Arbeiten, die neben der normalen Unterrichtsverpflichtung an Schule und Universität über viele Jahre entstanden sind, zum großen Teil auch im ehrenamtlichen Engagement für den Deutschen Altphilologenverband als Mitglied der Redaktion des Forum Classicum, kann man nur mit größtem Respekt in die Hand nehmen, darin blättern und lesen. Es lohnt sich!
Gianfrancesco Pico della Mirandola, Pietro Bembo, De imitatione. Briefe über die Nachahmung, Lateinisch/Deutsch, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Rafael Arnold und Christiane Reitz, (Bibliotheca Neolatina 14) Manutius Verlag Heidelberg 2021, 211 Seiten, ISBN 978-3-944512-30-3

Bembos Werke sind teils lateinisch, teils italienisch abgefasst. Sein erstes kleines Werk De Aetna, das er als junger Mann von 26 Jahren schrieb, ist der Ertrag einer Reise, die er zusammen mit seinem Freund Angelo Gabriele nach Messina unternommen hatte; es war namengebend für die bis heute berühmte Bembo-Antiqua, die von Aldus Manutius erstmals für diesen Druck verwendet wurde. Das Ziel der Reise war nicht die Erkundung des Vulkans Ätna, sondern das Erlebnis eines Ausflugs nach Monaten intensiven Studiums bei dem angesehenen Lehrer Konstantinos Laskaris, den sie zum Studium des Griechischen aufgesucht hatten. Nebenbei gewährt dieser Vater-Sohn-Dialog vielfache Einblicke in die geistige Welt dieser venezianischen Patrizierfamilie.
Sein humanistisch gebildeter Vater Bernardo Bembo (1433–1519) gehörte zu den führenden Politikern seiner Heimatstadt. Er war ein Freund von Marsilio Ficino und verfügte über eine vorzügliche Bibliothek, die sein Sohn Pietro später erbte. Pietro Bembos literarisches Konzept beruht auf dem Prinzip einer kongenialen, konsequenten Nachahmung des in der jeweiligen Sprache für Prosa beziehungsweise Poesie besten Vorbilds. Nur so meinte er Einheitlichkeit des Stils erreichen zu können, in der er eine Voraussetzung für Meisterschaft sah. Damit gehörte er zu den Sprachpuristen und Klassizisten, die nichts dulden wollten, was mit dem Stil der „klassischen“ Autoren unvereinbar ist.
Giovanni Francesco Pico della Mirandola war der Neffe und Schüler von Giovanni Pico della Mirandola, der mit seiner außergewöhnlichen Bildung und seiner Beredsamkeit seine Zeitgenossen stark beeindruckte. Pico verfasste Biographien seines Onkels Giovanni Pico und des von ihm verehrten Savonarola. Er war u. a. mit Willibald Pirckheimer und anderen deutschen Humanisten befreundet, mit denen er im Briefwechsel stand. Philosophiegeschichtlich bedeutsam wurde Pico durch seinen Skeptizismus, erstmals seit der Antike wies er wieder auf den Pyrrhonismus.
Pietro Bembo als Kardinal. Gemälde von Tizian, 1539/40, National Gallery of Art, Washington
Imitatio ist die Übersetzung des griechischen Begriffs mimesis. Wir empfinden heute Nachahmung als Gegenteil von Originalität und ein von Vorbildern beeinflusstes Produkt gerät leicht in den Geruch eines Plagiats. In der Antike dachte man anders: jede Epoche setzte sich mit der vorhergehenden auseinander, in Nachahmung, Überbietung oder auch in bewußtem, erkennbaren Kontrast. Homer ist das unerreichte Vorbild allen epischen Dichtens. Cicero stellt die Geschichte der Redekunst so dar, dass alles auf ihn selbst hinauszulaufen und in ihm als dem vollkommenen Redner zu gipfeln scheint. Horaz rühmt sich, als Erster bestimmte Formen der Lyrik in seiner römischen Heimat eingeführt zu haben; das Bild des unbegangenen Terrains stammt von ihm.
Wie fruchtbar die Debatte um das rechte Maß an Nachahmung in der Renaissance war, das möchten die Herausgeber dieses Buches anhand des Briefwechsels zweier Zentralgestalten und Stilvorbilder des frühen 16. Jahrhunderts in Italien zeigen. Die Briefe, die die beiden Gelehrten austauschten, waren zur Veröffentlichung bestimmt. Das zeigt die ausgefeilte Form und es war in dieser Zeit die übliche Praxis seit der Publikation von Ciceros Briefen an Atticus durch Petrarca und der Epistulae familiares durch Coluccio Salutati, zwischen 1375 und 1406 Kanzler der Republik Florenz und zu seiner Zeit einer der einflussreichsten Gelehrten in Italien.
Das Briefeschreiben nach ciceronischem Vorbild wurde im damaligen Schulunterricht gelehrt. Der Austausch der beiden italienischen Humanisten Gianfrancesco Pico della Mirandola (1469–1533) und Pietro Bembo (1470–1547) aus dem Jahr 1512/1513 umfasst drei Briefe, wobei die zwei Briefe von Pico ein Antwortschreiben Bembos gewissermaßen einrahmen. „Diskutiert wird die Frage, ob der lateinisch schreibende Zeitgenosse sich überhaupt nach einem Vorbild richten solle, wie nah er sich daran zu halten habe, ob ein einziger 'bester Autor' oder das Beste aus vielen nachzuahmen sei. Diese Streitfrage wird in besonders eleganter und bisweilen auch witzig-ironischer Art und Weise abgehandelt” (S. 11). Das Buch geht auf eine gemeinsame Lehrveranstaltung der beiden Herausgeber und Übersetzer im Sommer 2019 an der Universität Rostock zurück, wo Rafael Arnold als Professor für Romanistische Sprachwissenschaft und Christiane Reitz als Professorin für Latinistik von 1999 bis zu ihrer Emeritierung 2019 tätig sind.
Giovanni Francesco Pico della Mirandola
Die drei Briefe, die mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat versehen sind, werden im lateinischen Original und in deutscher Übersetzung wiedergegeben – einer, wie ich es empfunden habe, außerordentlich schönen und treffenden Übersetzung mit einem ganz besonderen Rhythmus und Sprachfluss. Vorangestellt ist ein sorgfältige Einführung in den Text und eine Beschreibung der biographischen Hintergründe der beiden Humanisten, ebenso eine Liste der Textausgaben und älteren Übersetzungen des Briefwechsels. Ein Personenregister unterstützt die weitere Erschließung der Briefe.
Roms fließende Grenzen. Archäologische Landesausstellung Nordrhein-Westfalen 2021/2022, hrsg. von Erich Claßen, Michael M. Rind, Thomas Schürmann, Marcus Trier, 584 S. mit 410 farb. Abb., wbg Theiss, Darmstadt 2021, 40,00 €, 32,00 € für Mitglieder, Museumsausgabe 29,90 € (Nur in den Museumsshops erhältlich), ISBN 978-3-8062-4428-1

Über 400 Kilometer erstreckte sich die Grenze zwischen der römischen Provinz Niedergermanien und dem „freien Germanien”. Ein durchgehendes Bauwerk errichteten die Römer dafür nicht – der Rhein erfüllte den Zweck viel besser. Entlang dieser Flussgrenze reihten sich zahlreiche Kastelle, Wachtürme und Legionslager auf. Daraus sind bedeutende Städte – die wichtigsten Namen kennt jedes Kind – und vielfältige Kulturlandschaften entstanden. Nordrhein-Westfalen verfügt über einen bedeutenden Abschnitt dieser Grenze mit hochrangigen archäologischen Denkmälern und Fundstellen.Sie prägen die Region am Rhein noch heute und sind gerne und viel besuchte Orte. Der Niedergermanische Grenzabschnitt ist Teil einer internationalen, zusammenhängenden Einheit, die in Teilbereichen (Hadrians- und Antoninuswall in Großbritannien, Obergermanisch-Raetischer Limes in Deutschland) bereits als UNESCO-Welterbestätte „Grenzen des Römischen Imperiums“ anerkannt wurde. Das vom UNESCO-Welterberat genehmigte Konzept sieht ausdrücklich vor, weitere Abschnitte als Welterbe einzutragen (vgl. https://www.unesco.de/kultur-und-natur/welterbe/welterbe-deutschland/niedergermanischer-limes).
Der Niedergermanische Limes war eine der wichtigsten Grenzen des Römischen Reiches. Er reichte von Remagen in Rheinland-Pfalz bis Katwijk (Niederlande) an der Nordsee. Diesem Limesabschnitt wurde nun im Juli 2021 der UNESCO-Welterbetitel verliehen, Grund genug, von September 2021 bis Oktober 2022 diese Anerkennung zu feiern und mit spektakulären Neufunden, Modellen und Aktionen den Alltag in der ehemaligen römischen Provinz Niedergermanien und den angrenzenden Gebieten lebendig werden zu lassen, in Detmold, Xanten, Bonn, Köln und Haltern am See.
24. September 2021–27. Februar 2022
Lippisches Landesmuseum Detmold:
Grenzüberschreitung am Limes
30. September 2021–16. Oktober 2022
LVR-Archäologischen Park Xanten:
Der Limes am Niederrhein
25. November 2021 – 29. Mai 2022
LVR-LandesMuseum Bonn: Leben am Limes
25. März 2022 – 30. Oktober 2022
LWL-Römermuseum Haltern am See:
Rom in Westfalen 2.0
29. April 2022 – 9. Oktober 2022
Kulturzentrum am Neumarkt Köln:
Rom am Rhein
Das Nomen „limes“ hat sich wohl aus den Begriffen limus = quer bzw. limen = Türschwelle entwickelt. „limes“ bezeichnete zunächst Raumeinteilungen, wie zum Beispiel Besitzgrenzen, Wege oder Schneisen. Seit Caesar wird der Begriff „limes“ auch im Zusammenhang mit militärischen Vorgängen gebraucht, etwa für Waldschneisen in feindlichem Gebiet. Frontinus bezeichnete als limites die Vormarschwege, die im Zuge der Chattenkriege Domitians in die Wälder geschlagen wurden. Tacitus verwendet in der „Germania” das Wort „limes” für eine in die Tiefe gestaffelte Grenzzone und als Bezeichnung für eine trockene Landgrenze, im Gegensatz zu „ripa“ für eine nasse Flussgrenze. Wir bennennen heute mit dem Begriff Limes die von den Römern im 1. bis 6. Jahrhundert n. Chr. angelegten Grenzwälle und militärischen Grenzsicherungssysteme in Europa, Vorderasien und Nordafrika, bringen dabei freilich unser im 20. Jahrhundert gewachsenes Vorverständnis von leidvollen Grenzenziehungen mit.
Wie entstand diese Flussgrenze entlang des Rheins; die mehr als 400 Jahre Bestand hatte, und wie veränderte sie sich? War sie eine Grenze nach unserem heutigen Verständnis, trennte oder verband sie? Wie lebten die Menschen am Limes und diesseits und jenseits dieser Grenze? Tauschte man sich aus und beeinflusste man sich oder pflegte die Bevölkerung links des Rheins nur die römische Lebensweise und rechts des Rheins nur die germanische? Gab es ein friedliches Miteinander oder eher ein Gegeneinander? Auf all diese Fragen und viele mehr gibt der Begleitband zur Archäologischen Landesausstellung Nordrhein-Westfalen Antworten. In reich bebilderten Beiträgen bündelt er die aktuellen archäologischen Erkenntnisse, die fünf unterschiedliche Ausstellungen zu „Roms fließenden Grenzen“ beleuchten.
Der fast 600 Seiten zählende Katalogband zu den fünf leicht zeitversetzten beginnenden Ausstellungen bringt einiges Gewicht (exakt 3080 g)
auf die Waage und ins Bücherregal, stellt freilich auch den gegenwärtigen Forschungsstand in 85 zwei bis achtseitigen Artikeln knapp und reich illustriert zusammen, gegliedert in folgende Kapitel: 1) Roms fließende Grenzen – Archäologische Landesausstellung Nordrhein-Westfalen, 2) Der Rhein im Brennpunkt der Geschichte, 3) Das römische Rheinland – Die Provinz Niedergermanien, 4) Roms Adler am Rhein – Der Niedergermanische Limes in NRW, 5) Mediterrane Lebensart – Römische Städte im Rheinland, 6) Vici, Villen, Wohnstallhäuser – Leben auf dem Lande, 7) Drehscheibe Niedergermanien – Wirtschaft und Handel, 8) Von Göttern zu Gott – Kulte und Religionen, 9) Westfalen zur Römerzeit – Die Germania magna zwischen Rhein und Weser, 10) Rom auf Zeit – Die Lager an der Weser, 11) Rom auf Zeit – Die Lager an der Lippe, 12) Leben mit Rom – Einfluss und Tradition zwischen Rhein und Weser, 13) Anhänge.
Aus Berlin und Brandenburg, wo es auch reizvolle Landschaften und speziell aus jüngster Zeit auch zahlreiche archäologisch-historische Funde zu verzeichnen gibt, sieht man denn neidvoll nach NRW ob der riesigen Zahl von Funden und neuen Erkenntnissen, aber auch voller Respekt vor der gewaltigen Leistung für solch ein archäologisches Landes- und Museumsprojekts (auf sieben Seiten engbedruckt sind alle Mitarbeiter und Verantwortlichen genannt). Mit dem Blättern in diesem Katalog kommt die Leselust. Ob es nun die Frage ist „Was sind eigentlich Grenzen?” (S. 53) oder Caesars falsche These, dass der Rhein die Trennlinie zwischen Galliern und Germanen sei (65), die bekanntlich unzutreffende Meldung „omni Gallia pacata” (85), ob man Neues über Wasserwege, Häfen und Römerstraßen wissen möchte, über Nachbauten römischer Schiffe oder mediterrane Lebensart am Rhein (231), den römischen Ausstattungsluxus in Köln und das Leben in der Stadt und auf dem Land, über Xanten / Colonia Ulpia Traiana und die jüngste Entwicklung des dortigen Archäologischen Parks, über römischen Bergbau und römische Kalkbrennereien und Ziegeleien - in diesem Katalogband findet der interessierte Leser entscheidende Informationen auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand, gut lesbar und verständlich präsentiert.
Mit diesem Buch kann man – schon der drei Kilogramm wegen – nicht eine oder mehr oder alle Ausstellungen durchwandern, die unser Interesse wecken, aber zur Vorbereitung eines Museumsbesuchs und nicht weniger zur Nachbereitung wird es vorzügliche Dienste tun.
Jean-Claude Golvin, Gérard Coulon, Häfen für die Ewigkeit. Maritime Ingenieurskunst der Römer, Aus dem Franz. von Birgit Lamerz-Beckschäfer. 2021. 224 S. mit 110 farb. Abb., wbg Zabern, Darmstadt 2021, ISBN 978-3-8053-5321-2. 50,00 €, 40,00 € für Mitglieder

Wenn ich mich an meine Studienzeit erinnere und an die archäologischen Seminare und Vorlesungen, die ich besucht habe, dann ging es da um Tempel, Villen und Theaterbauten, um Arenen, Foren und Grabdenkmäler, um Skulpturen, Wandgemälde und Keramiken, vieles ausgesprochen überwältigend, etwa das Wissen um die Kurvaturen des Parthenon. Geniale Ingenieurskunst und technische Baukomplexe aber waren kein Thema, abgesehen von Wasserleitungen und Fernstraßen.
Eine Neuerscheinung wie jene von Jean-Claude Golvin, Gérard Coulon, Häfen für die Ewigkeit. Maritime Ingenieurskunst der Römer (2020 in Paris erschienen unter dem Titel Le Génie Maritime Romain) macht unterdes Staunen über diese technischen Wissensbestände, die in den vergangenen Jahrzehnten offensichtlich großen Zuwachs hatten.
Vergegenwärtigt man sich die Ausdehnung des Römischen Imperiums zum Ende der Republik, dann ist es ja zwingend, dass rund ums Mittelmeer Seebrücken und Docks, Lagerhäuser und Leuchttürme, Werften und Bootsrampen, also Hafenanlagen von riesigen Dimensionen errichtet wurden, in Ostia und in der Bucht von Neapel, in Marseille und Narbonne an der südfranzösischen Küste, Leptis Magna in Libyen oder Seleukia Pieria in der heutigen Türkei. Rund ums Mittelmehr entstanden durch die Römer spektakuläre Hafenkomplexe, um ihre Macht - und noch wichtiger: die Versorgung des Imperiums zu sichern.
Dass der Leser diesen Eindruck grandioser Versorgungsanlagen gewinnen muss, liegt auch am Autor Jean-Claude Golvin, einem begnadeten Rekonstruktionszeichner antiker Stätten, der die Hafenarchitektur und Meerestechnik der Römer opulent und bis tief in die technischen Details ins Bild gesetzt hat. Seine Zeichnungen wirken wie Luftaufnahmen auf Küstenstriche, Stadtteile, Hafenanlagen und Infrastrukturbauten der antiken Welt. Man kann sich kaum satt sehen. (In meinen Anfangszeiten als Lehrer lernte man noch im fachdidaktischen Seminar, morgens ins Buchregal zu greifen und im Oberstufenkurs die Schülerinnen und Schüler schauen zu lassen. Dieses Buch hätte unbedingt das Zeug für eine solche Unterrichtsmethode!).
Eine entscheidende Zäsur im Hafenbau ist der Einsatz von Unterwasserbeton, dem schon Vitruv einen langen Passus widmete, vielleicht gerade weil die Methode der Herstellung zu seiner Zeit noch neu war. Moderne Portlandzemente, die unter Wasser abbinden und aushärten, sind weniger robust und haltbar (man braucht nur in die Jahre gekommene Universitätsgebäude aus Beton in den Blick nehmen) als römischer Unterwasserbeton, dessen besondere Eigenschaften auf dem Zuschlagstoff Puzzolanerde (pulvis puteolanus) beruhen. Es handelt sich um verdichtete Vulkanasche, die feinkörnigen Sand, Bimsstein und Kristalle enthält; Puzzolan findet man in den phlegreischen Feldern bei Neapel zwischen Pozzuoli und Baiae sowie in den Albaner Bergen. Im Lauf des 1. Jhs. n. Chr. äußerten Seneca und Plinius d-Ä. ihr Erstaunen über die Eigenschaften der Puzzolanerde.
Die experimentelle Archäologie hat sich des Baustoffs angenommen, die beiden Autoren berichtet etwa von dem Projekt Romacons 2004 in Brindisi, wo man neue Erkenntnisse über die Mengenverhältnisse und Zeitspannen bekommen hat und zur Erkenntnis kam: Das Anrühren des Betons – wir haben dazu Maschinen – erwies sich als langwierig und extrem mühsam (S. 25). „Pro Tag stellte das Team 0,8 Kubikmeter her. Die angemischte Masse musste umgehend weiterverarbeitet werden, weil sie schon nach wenigen Stunden abzubinden begann. Innerhalb von zwölf Stunden verfestigte sich der Beton soweit, dass man die Fläche betreten konnte. Die endgültige Aushärtung nahm im Trockenen 90 Tage und unter Wasser sechs bis 15 Monate in Anspruch. Dabei fiel auf, dass der Beton auch danach immer härter wurde" (25). Schon Ende des 1. Jhs. v. Chr. und später in der Kaiserzeit bauten römische Ingenieure an den Mittelmeerküsten gewaltige Häfen. Dank solcher Infrastrukturen erlebte der Handel einen so überwältigenden Boom, dass der Dichter Juvenal zu Beginn des 2. Jhs. in einer seiner Satiren schrieb: „Schau auf die Häfen und das von großen Schiffen erfüllte Meer: die Mehrzahl der Menschen ist schon auf See” (Sat. XIV, 275–277).
Im ersten Kapitel versuchen die Autoren die Voraussetzungen für die Entstehung eines Hafens nachzuvollziehen; antike Quellen schweigen sich darüber aus. Dies geschieht mit einem Blick auf Beispiele aus der phönizischen, griechischen und hellenistischen Welt: Sidon, Karthago, Athen, Seleukia und Alexandria. Die komplexen Aufgaben eines Hafens verlangen eine multidisziplinäre Zusammenarbeit von Architekten und Technikern, es geht um die einsetzbaren Schiffstypen, um die Infrastrukturen, die Einbindung in ds Straßen- und Flussnetz, vor allem musten die Winde in Betracht gezogen werden, um die Zufahrt zum Hafen möglichst optimal auszurichten. Im Voraus musste der Meeresboden vermessen und auf seine Festigkeit überprüft werden; zu diesen Vorarbeiten gehörten schließlich auch die Bereitstellung der benötigten Maschinen, Schiffe, und Frachtkähne sowie die Beschaffung der Baustoffe, die nicht immer vor Ort vorhanden waren (S. 29). Und dann selbstverständlich eine große Zahl von Arbeitskräften, alles zusammen eine beträchtliche logistische Leistung. Nur ein Beispiel: Für den Bau des Hafens in Caesarea Maritima musste auf dem Seeweg (von Neapel nach Palästina 2500 km), wie man jüngst berechnet hat, 24000 Kubikmeter Puzzolanerde, sprich 52000 Tonnen, herbeigeschafft werden.
Wer heute sein Segelschiffchen oder Motorboot in einem Hafen an Havel oder Spree ankert, der kennt die Verschlammungs- und Versandungsgefahr. Diese Realität stellte auch in der Antike ein großes Problem dar und es ist erstaunlich, welche Maßnahmen „im aussichtslosen Kampf gegen gegen die Versandung” (45ff.) ergriffen wurden, vom Umleiten von Fließgewässern, dem Bau unterirdischer Stollen und Staumauern bis zu regelmäßigen Baggerarbeiten. Für solche menschlichen Eingriffe (49ff.) hat man an vier oder fünf Standorten (Marseille, Neapel) mittlerweile Belege, nämlich Schiffsfunde, die als Eimerkettenboote identifiziert und deren Funktion exakt beschrieben werden.
Viel Technik auch beim Bau von Molen und Wellenbrechern. Steinschüttungen liegen nahe, sind aber technisch nicht problemlos und bei größerer Wassertiefe sehr aufwendig; so behalf man sich in Caesarea Maritima mit riesigen Blöcken, die in vorgefertigten Schalungen durch Betonguss selbst hergestellt wurden. Die Verwendung von schwimmenden Senkkästen lässt sich für Alexandria, Caesarea Maritima und andere Häfen gut nachweisen. Diese großdimensionierten Kästen (z.B. 15 x 11,5 x 2m) wurden schwimmend an ihren Bestimmungsort gebracht und dann mit Unterwasserbeton ohne Zuschlagstoffe gefüllt. So beschwert versank der Holzkasten und setzte horizontal auf dem Meeresboden auf, der vorher gründlich stabilisiert und vermessen werden musste (75).
Bei solchen Themen zeigt sich das absolut Besondere an diesem Buch. Die technischen Abläufe, die verwendeten Geräte, viele einzelne Arbeitsschritte sind großformatig und nachvollziehbar in kolorierten Zeichnungen dargestellt; Fotos könnten nicht besser sein, gäbe es denn solche aus römischer Zeit. Auf dem neuesten Stand der Forschung und bis ins Detail rekonstruieren Gérard Coulon und Jean-Claude Golvin die Hafenarchitektur und Meerestechnik der Römer und veranschaulichen die Fülle der Probleme, die die antiken Ingenieure zu lösen hatten. Banales Beispiel Abb. S. 95: Beförderung von Geröll üblicher Größe (rund 500 Kilogramm). Man rollt den Stein ohne große Mühe einen Abhang hinunter. Sinddie Keile gut platziert und stößt man den Stein gleichmäßig und im richtigen Moment an, hilft sein Eigengewicht dabei, ihn zu befördern. - Das muss ich einmal probieren; bislang habe ich mich immer ohne Keile oder stabile Holzscheite abgequält, allerdings nicht mit 500 kg!
Bei manchen Themen kommen die beiden Autoren vor Begeisterung selbst ins Schwärmen: „Seit etwa einem Jahrzehnt gibt es erstaunliche viele Untersuchungen zu römischen horrea, nicht zuletzt angeregt durch das Forschungsprogramm Entrepots et lieux de stockage du monde gréco-romain antique. Eine der interessantesten Arbeiten in diesem Kontext ist ein faszinierender Überblick, der 'zu einem besseren Verständnis der Ökonomien des antiken Mittelmeerraums beiträgt, indem er die Frage der Lagerung wieder in den Mittelpunkt der Überlegungen stellte'” (115). In diesem Kapitel erfährt der Leser, warum Kornspeicher nach Norden oder Nordosten ausgerichtet sein sollen, warum ihre Wände fast einen Meter dick sind, warum sie nur wenige und kleine Fenster haben, warum es um diese Speicher eine 100 Fuß breite Sicherheitszone geben soll und was gegen Schädlinge, etwa Kornkäfer und Mäuse zu unternehmen ist.
Nicht wenige Leuchttürme bauten die Römer in Hafennähe, in die sie nachts mit Feuer die Schiffe in sicherer Fahrt leiten sollten. Auch hier greifen die Autoren auf neue Forschungsarbeiten und Entdeckungen zurück und setzen die Kenntnis von Quellen, von antiken Texten über Münzen, Mosaiken, Gemälde, Reliefs und Vasenmalereien bis Graffiti voraus. Sie unterscheiden drei Grundtypen von Leuchttürmen und stellen dann die Leuchttürme von Pharos, Leptis Magna, Patara (erst zu Beginn der 2000er-Jahre ausgegraben), Caesarea Mauretania, Cherchell, Boulogne und Dover vor. Offen ist die Frage nach den Brennstoffen für die Leuchtfeuer; für die meisten Türme gilt, dass die Brennstoffe – in Frage kommen Holz, Holzkohle, Öl, Harze, Naphta (Rohbenzin) und sogar Viehdung – mit Menschenkraft zu den Lagerräumen bzw. Feuerstellen geschafft werden mussten, das die Treppenstufen mit 90 cm Breite für den Einsatz von Eseln oder Maultieren nicht ausreichten (147).
Spannend zu lesen auch die letzten Kapitel über Schiffswerfen und Hellingen, flache Rampen, über die man Boote und Schiffe zu Wasser ließ oder aufs Trockene schleppte, über außergewöhnliche Hafenkomplexe, wie diejenigen von Leptis Magna, den besterhaltenen römischen Hafen, von Forum Iulii (Fréjus), die verbundenen Häfen im Golf von Neapel (mit höchst beeindruckenden 'Luftausnahmen' der Städte und Hafenregionen) und den gewaltigen Komplex Portus-Ostia.
Aber man muss das Buch bis zum Schluss lesen, ab Seite 195 geht es um ungewöhnliche Missionen der Kriegsmarine, eine davon das Aufziehen der Sonnensegel im Kolosseum (200ff.), eine andere, der Transport ägyptischer Obelisken nach Rom, durchgeführt von der kaiserlichen Marine mit ihren versierten Ingenieuren und Fachkräften.
Von den Einwohnern von Myra (Türkei) bekam Kaiser Augustus den Titel „Sieger über die Erde und das Meer” und auch Nero schmückte sich in der Weiheinschrift auf dem Leuchtturm von Patara mit diesem Titel. Im Hafen von Ancona steht ein 18 m hoher Triumphbogen aus dem Jahr 114 n. Chr.; die Inschrift oben auf den Prunkfassade huldigt Trajan dafür, dass er „Seeleuten den sichersten Zugang zum italischen Boden gewährt und den Hafen aus eigenen Mitteln vergrößert hat”.
„Entgegen dem uralten, bis heute nicht auszurottenden Vorurteil waren die Römer also eine großartige Seefahrernation, die sich sowohl auf den Seehandel als auch auf das Wasserbauwesen verstand, denn in beiden Bereichen bewiesen sie ihre unbestrittene Meisterschaft” (206).