Hilft uns Aristoteles heute noch beim Verständnis des Tragischen einer Sophokleischen Tragödie?

Anlässlich des Aristotelesjahres 2016 (2400 Jahre Aristoteles) fanden europaweit eine Fülle von Veranstaltungen statt, die die Wirkmacht und Bedeutung seines Denkens und Werkes für verschiedenste Themenfelder behandelten. Unter der Organisation der Gräzistin Frau Prof. Dr. Gyburg Uhlmann beteiligte sich auch die Freie Universität Berlin mit einem umfangreichen Programm an der Erinnerung an Aristoteles’ Denken und der immensen Wirkung seiner Lehren in Okzident und Orient. Eine wichtige Säule bildeten in diesem Rahmen auch Veranstaltungen für Schülerinnen und Schüler des Griechischen in Berlin und Brandenburg.

Der folgende Artikel ist der Ausfluss einer solchen Veranstaltung, die die Bedeutung des Aristoteles für eine Interpretation und auch das Verständnis des Tragischen bei Sophokles beleuchtete.

Die Veranstaltung nahm ihren konkreten Ausgangspunkt zum einen vom Rahmenlehrplan für das Fach Griechisch. Diesem zufolge besteht im dritten Kurshalbjahr („Das Individuum und die Gesellschaft“) zumindest in den Leistungskursen die Möglichkeit der Behandlung des griechischen Tragödie (C1: „Schuld und Verhängnis in der tragischen Dichtung.“)

Zu den interkulturellen Kompetenzen, die die Schülerinnen und Schüler erwerben sollen, gehört laut dem Rahmenlehrplan, dass sie griechische Texte mit politischen Fragestellungen verstehen, problembezogen analysieren sowie auf die moderne Zeit beziehen sollen. Die Schülerinnen und Schüler sollen dabei die Texte aus und vor ihrem historischen Kontext verstehen und bei ihrer hermeneutischen Erschließung der Texte eigenes Vorverständnis und neue Informationen produktiv aufeinander beziehen. Sie sollen ferner Kenntnisse der griechischen Geschichte und Gesellschaftsstrukturen erwerben, bedeutende Persönlichkeiten der Antike und bedeutende Literaturgattungen in ihren Ursprüngen kennenlernen.

Diesen Kompetenzerwerb kann eine Behandlung Sophokleischer Tragödien zweifelsfrei bedienen. Die Veranstaltung, auf deren Grundlage der folgende Beitrag entstand, verfolgte das Ziel, Möglichkeiten auszuloten, wie Aristoteles‘ Tragödientheorie für die Deutung der menschlichen Schuld im Kontext eines Tragikverständnisses gerade vor dem gesellschaftlichen, historischen und politischen Hintergrund ihrer Aufführung fruchtbar gemacht werden kann. Ferner intendierte sie, dass die Schüler und Schülerinnen sich erste Kenntnisse der Merkmale der Tragik der griechisch-attischen Tragödie erschließen konnten und die historische Persönlichkeit des Sophokles ein wenig kennenlernten.

Zum anderen nahm die Veranstaltung ihren Ausgangspunkt von den Berichten einer Mehrheit von Studentinnen und Studenten in universitären Sophokleskursen, dass sie im Griechischunterricht in der Schule den Philoktet und nicht etwa die Antigone oder den König Ödipus behandelt hatten. Letzteres mag vielleicht eine erste sichtbare Folge einer ausufernden Behandlung des Philoktet in der Sophoklesforschung sein, die zumindest mancherorts nun auch bis in die Wahl der Texte im Schulunterricht wirkt, gilt doch der Philoktet gerade in der anglophonen Sophoklesforschung als die meistbehandelte Tragödie der letzten 40 bis 50 Jahre und zudem als Meisterwerk des großen Dichters, in dem die Kunst seiner tragischen Dichtung ihre Vollendung fand.

Um dieser Tendenz Rechnung zu tragen, behandelte die Veranstaltung die Frage von Schuld und Gesellschaft in der griechischen Tragödie am Beispiel des Philoktet.

Der folgende Artikel wird somit im Anschluss an den Rahmenlehrplan für Griechisch und an diese Veranstaltung die Frage von Schuld und Gesellschaft und einer möglichen Einbindung der Lehre und Erkenntnisse des Aristoteles in dieses Thema behandeln.

I.

Was macht das Tragische in den Sophokleischen Dramen aus?* Die Ansichten zu dieser Frage differieren. Zwei der am meisten vertretenen Positionen sind folgende: (1) Eine der allseits bekannten und weit verbreiteten Deutungen sieht in dem Helden einen schuldlos schuldigen Held.1
(2) Eine weitere, jüngere Position schließt sich der Deutung der Tragödie durch Aristoteles in seiner Poetik an. Sie schließt vor allem an Aristoteles’ Hinweis auf den Fehler (die ἁμαρτία) an, den der tragische Held begeht. Dieser zufolge gerät der Held der Tragödie aus verständlichen Motiven in das für die Tragödie so bedeutsame Leid. Er ist aber nicht völlig schuldlos, sondern ihm ist in einem gewissen Umfang eine subjektive Verantwortung für sein Scheitern beizumessen.2

Das Folgende möchte einen kurzen Einblick in die Plausibilität beider Ansätze eröffnen und zu denken geben, dass Aristoteles’ Deutungen der Tragödie gerade dann Relevanz für eine Deutung erlangen können, wenn der historische, gesellschaftliche und politische Hintergrund des Aufführungsjahres eines Stückes berücksichtigt werden. Von den Sophokleischen Dramen können wir über die Angaben der Hypothesis des Stücks nur den Philoktet sicher datieren. Er ist im Jahre 409 v. Chr. aufgeführt worden. Auch aus diesem Grund eignet sich dieses Stück besonders für eine Betrachtung der Frage der tragischen Schuld eines Protagonisten vor dem historischen gesellschaftlichen und politischen Hintergrund des Aufführungsjahres.

Der Inhalt des Philoktet unter Berücksichtigung der Charaktere und ihrer Ziele im Stück

Im Philoktet gibt es drei Hauptakteure: Odysseus, Neoptolemos und Philoktet.3Alle drei Charaktere verfolgen ein eigenes Ziel und wählen im Laufe des Dramas bestimmte Mittel, um dieses Ziel zu erreichen. Alle drei Figuren drohen ferner auf ihrem Weg zu diesem Ziel zu scheitern:

Odysseus verfolgt im Philoktet des Sophokles ein Ziel zum Wohle der Gemeinschaft. Nach zehn Jahren möchte er den Krieg der Griechen mit Troja endlich beenden. Ein Seherspruch des Helenos, dem zufolge Troja nicht eingenommen werde, wenn nicht Philoktet, durch Worte überzeugt, mit seinem Bogen nach Troja komme (vv. 610–613), eröffnet für das Erreichen dieses Ziels eine Möglichkeit. Odysseus hatte Philoktet allerdings zehn Jahre zuvor zusammen mit den Atriden und den Griechen auf dem Weg nach Troja auf der von Menschen verlassenen Insel Lemnos, als dieser von seinen Schmerzen ermattet schlief, einfach zurückgelassen. Grund hierfür war ein Schlangenbiss, den Philoktet erlitten hatte und der ihn und auch die Griechen quälte. Letztere störte laut Odysseus Philoktets Geschrei bei ihren Opferhandlungen (vv. 1–11). Odysseus muss also nun Philoktet, der in der Zwischenzeit mit seinem verletzten und immer noch eiternden Fuß zehn Jahre lang einsam auf der unbewohnten Insel (v. 2) verbracht hatte, mit Worten zurückgewinnen. Odysseus fürchtet allerdings den Zorn des Philoktet, weil er mitverantwortlich dafür war, dass die Griechen ihn einst einsam auf der unbewohnten Insel zurückließen. Vor allem sieht er in dem Bogen des Herakles, den Philoktet führt und dessen Pfeile niemals ihr Ziel verfehlen, eine Gefahr für sein Leben. Um diesem potentiellen Zorn Philoktets zu umgehen, ist Odysseus auf die Hilfe des unbelasteten Neoptolemos, des noch jungen Sohns Achills angewiesen (vv. 70ff.). Letzterer möchte, wie die Dramenhandlung in ihrem Verlauf zeigt, der Ehre seines Vaters nacheifern.

Um das Ziel zu erreichen, wählt Odysseus ein ganz bestimmtes Mittel zur Ausdeutung des Seherspruchs: Er schmiedet die List, dass Neoptolemos durch Lügen, die nahe an der Wahrheit liegen, Philoktets Vertrauen gewinnt (zum Inhalt der Lüge s. vv. 54ff.). Konkret soll Neoptolemos die Lüge vortragen, dass auch er von Odysseus Unrecht und Leid erlitten habe, indem dieser die Waffen seines verstorbenen Vaters nicht ihm überließ, sondern diese selbst für sich beanspruchte. Dieses Unrecht habe ihn zum Aufbruch veranlasst. Auf dem Rückweg sei er nun auf Lemnos gelandet.

Der Fortgang der Dramenhandlung erweist als erstes Ziel dieser Lüge, dass Neoptolemos, nachdem er das Vertrauen Philoktets gewonnen hat, auch dessen Bogen in seine Hand bekommen soll. An der Oberfläche hat Odysseus mit diesem Plan Erfolg (vv. 651-842). Für Philoktet ist der Verlust des Bogens, mit dem er sich bislang wilde Tiere vom Leib halten konnte, gleichbedeutend mit einem noch größeren Leid: mit der Aussicht auf den drohenden Tod (vv. 978–979 und v. a. 1081ff., 1101ff. und 1146ff.), wenn er nicht mit nach Troja fährt. Das Agieren des Odysseus im zweiten Teil des Dramas, nachdem Neoptolemos den Bogen in die Hand bekommen hat, zeigt nun, dass Odysseus offenbar glaubte, durch sein Agieren Philoktet für eine Mitfahrt nach Troja gewinnen zu können. Denn wenn Philoktet vor der Wahl stehe, entweder zu sterben oder in Troja von den Söhnen des Asklepios von seiner furchtbaren Wunde geheilt zu werden und der gefeierte Eroberer Trojas zu werden, werde er sich trotz seines Zorns auf Odysseus und die Atriden und seines zehn Jahre währenden Leids für die Mitfahrt nach Troja entscheiden. Doch Odysseus’ Plan geht schief und scheitert an der Verbitterung Philoktets. Letzterer ist, nachdem er erkennen muss, dass Odysseus der Urheber der Intrige ist, wieder voll des Hasses ihm gegenüber. Infolgedessen will er lieber den Tod auf sich zu nehmen als mit Odysseus zusammen nach Troja gehen. Odysseus’ scheitert damit offenkundig aufgrund des Mittels, das er gewählt hat (vv. 974–1258).

Auch der zweite Hauptcharakter des Dramas, Neoptolemos, verfolgt ein ganz bestimmtes Ziel, wie seinem anfänglich durch Gehorsamkeit geprägten Agieren zu entnehmen ist (vv. 26ff.). Er möchte seinem gefallenen Vater Achill nacheifern und eine analoge Ehre erlangen. Das Mittel, mit dem er diese Ehre erlangen möchte, sind die bloße Überzeugung (v. 102) und womöglich auch Gewalt (vv. 103–104). Das Mittel der Lüge weist er dagegen als unehrenhaft zurück (vv. 86–95). Erschwerend kommt aus der Perspektive des Odysseus hinzu, dass Neoptolemos Neigungen zum Mitleid mit Philoktets Lebensumständen zeigt, noch bevor er ihn überhaupt gesehen hat (v. a. v. 38, dann später explizit auch rückblickend: v. 806 und vv. 965–966). Odysseus’ Plan droht so bereits zu einem frühen Zeitpunkt, als die Umsetzung der List noch nicht einmal begonnen hat, an seinem Helfer Neoptolemos zu scheitern. Odysseus gelingt es nur mit Mühe und aufgrund seiner rednerischen Begabung Neoptolemos letztlich doch für die Ausführung der List zu gewinnen, indem er ihm vor Augen hält, dass ehrenhaftes Verhalten oft nicht siegreich ist und er in diesem konkreten Fall nur gut und weise genannt werden wird, wenn er die List erfolgreich ausführt (vv. 96–122).

Neoptolemos gelingt es im Folgenden mit Hilfe der Lüge beinahe mühelos das Vertrauen Philoktets zu gewinnen. Philoktet, der nichts von der Lüge ahnt, legt sogar all seine Hoffnungen in den jungen Sohn des Achill (vielleicht am deutlichsten: vv. 807ff. und 867ff.). Der Umgang der beiden ist freundschaftlich und vertraut (exemplarisch: vv. 234ff. und 530ff.).

Da Neoptolemos anfangs seine Abneigung gegenüber dem Mittel des Odysseus kundgetan hatte,  Philoktet ferner gerade Ideale vertritt, die auch Neoptolemos verfolgt, ist es für den Rezipienten des Dramas zunehmend schwierig zu erkennen, ob Neoptolemos mit Voranschreiten seiner Unterhaltung mit Philoktet überhaupt noch auf der Seite des Odysseus steht oder ober er nicht zu Philoktet übergelaufen ist. In jedem Fall lässt den Leser der Eindruck nicht los, dass Neoptolemos innerlich zunehmend Abstand zu Odysseus nimmt und sich nur noch äußerlich und hilflos an die Vorgaben des Odysseus klammert und seiner Gehorsamspflicht folgt. Dass er den Bogen Philoktets sogar nur durch einen schmerzbedingten Ohnmachtsanfall Philoktets in die Hände bekommt und in dem Moment, als Philoktet wieder zu sich kommt, voller Zweifel ist, was er nun machen soll (v. a. v. 974), ob er also weiter Odysseus Gehorsam leisten soll, kann als ausweglose Situtation, in die er sich manövriert hat, begriffen werden. Auch wenn er an der Oberfläche das ihm gesetzte Ziel des Odysseus erreicht hat, kann er sich doch gemessen an seinen Idealen und seinen eigenen subjektiven Zielen kaum erfolgreich sehen. Denn unter dem Strich steht, dass er den Bogen Philoktet hinterrücks in dessen Zustand völliger Hilflosigkeit und nicht durch einen Akt der Überzeugung oder Gewalt – und damit ehrenhaft –  an sich genommen hat. Philoktet dagegen ist nunmehr durch sein Agieren zehn Jahre nach seiner Aussetzung auf Lemnos ein zweites Mal Opfer einer Intrige geworden.

Es ist verständlich, wenn Odysseus in genau diesem Moment (v. 974), als Philoktet zaudert,  eingreift und das Agieren übernimmt. Er will das Erreichen seines Ziels, nachdem Neoptolemos nun die Waffe Philoktets in seinen Händen hält, nicht gefährden. Wenn der nun völlig wehrlose Philoktet Neoptolemos im Folgenden heftigste Vorwürfe macht und ihm sein unehrenhaftes Verhalten vor Augen führt, so kann der Rezipient kaum Anderes schließen, als dass Neoptolemos im Verfolgen seines Ziels aufgrund der Wahl des Mittels beim Erreichen seines subjektiven Ziels gescheitert ist. Die Dramenhandlung spielt mit dem Kontrast zwischen dem Erreichen eines äußeren Ziels und dem Erreichen eines inneren Ziels. Das Erreichen des ersteren ist nicht gleichbedeutend mit dem Erreichen des letzteren. Dieser Eindruck findet eine Bestätigung dadurch, dass Neoptolemos, als er erkennen muss, dass Odysseus aufgrund seiner Taktik gescheitert ist, zurückkehrt und Philoktet den Bogen zurückgibt (vv. 1222ff.).

Neoptolemos widersetzt sich so seiner Gehorsamspflicht gegenüber Odysseus und versucht Philoktet fortan von einer Mitfahrt nach Troja zu überzeugen. Eine neue Offenheit gegenüber dem Gedanken der Mitfahrt nach Troja und den damit für ihn verbundenen Vorteilen zeigt Philoktet aber erst, als es Neoptolemos gelungen ist, das Vertrauen Philoktets zurückzugewinnen. Dies erreicht er im Drama durch zwei Handlungen: Zum einen dokumentiert er ihm sein Wohlwollen durch die Rückgabe des Bogens. Zum anderen zeigt er sich auch dazu bereit (vv. 1402ff.), sein altes (im Rahmen der Lüge vorgebrachtes) Versprechen einzulösen und Philoktet in seine Heimat und nicht nach Troja zu bringen – ein Verhalten, das Philoktet selbst im Drama als ehrenvoll betrachtet hatte.

Schließlich bleibt noch der dritte und eigentliche Hauptcharakter des Stücks: Philoktet. Dieser hat, wie aus seinem Gespräch mit Neoptolemos leicht erkennbar wird, drei zentrale Ziele: (a) das Verlassen der einsamen Insel und die Rückkehr in die Zivilisation (vv. 485–488), am liebsten die Rückkehr zu seinem Vater in das Land des Öta, (b) das Ende des Schmerzes, der von seiner Wunde herrührt (vv. 747–750), (c) das Erlangen von Ruhm und Ehre (s. schon die vv. 249–259 u. ö.), weshalb er sich einst auch aus Überzeugung dem Zug der Griechen gegen Troja angeschlossen hatte.

Sophokles’ meisterhafte Inszensierung zeigt, dass er bei einer Mitfahrt nach Troja alle diese Ziele erreichen könnte. Was ihm aber im Weg steht, ist sein Zorn und sein Hass v. a. auf Odysseus, der ihn einst hinterrücks ausgesetzt hatte (v. a. vv. 974ff.). Dass Philoktet im Drama nun erkennen muss, dass Odysseus sich als der Urheber einer weiteren List erweist, deren Leidtragender er ist, bestätigt ihm in seinem alten Denken und führt zu einem völligen Vertrauensverlust gegenüber Odysseus. Dies macht es verständlich, dass Philoktet nicht mit nach Troja kommen will. Gerade das neuerliche Unrecht fixiert im Drama zunehmend seinen Blick, dass er sich keinem für ihn vorteilhaften Gedanken mehr öffnen kann (vv. 923ff. und 997ff.). Erst als Neoptolemos diese Fixierung des Blicks auf das Unrecht lösen kann, indem er das Unrecht durch die Rückgabe des Bogens und die Versicherung, ihn auch in das Land des Öta zu seinem Vater zu bringen, auflöst, ist das Denken Philoktets nicht mehr gefangen. Erst jetzt kann sich Philoktet dem göttlichen – und im Drama von Herakles als Deus ex machina präsentierten – Gedanken, mit welchem Handeln er seine eigentlichen Ziele erreicht, öffnen. Am Ende geht er aus freien Stücken mit nach Troja (vv. 1445ff).

Auch Philoktet verfolgt in dem Drama ein verständliches und nachvollziehbares Ziel, droht dieses aber durch die Mittel, die er wählt – nämlich zornbedingte Verweigerung, mit nach Troja zu gehen – aus verständlich gezeichneten Gründen zu verfehlen.

II Zur Plausibilität und Attraktivität der Position des schuldlos schuldigen tragischen Helden:

Die im Folgenden thesenhaft dargestellte Position kann als eine klassische Deutung des Sophokleischen Tragikverständnisses betrachtet werden. Sie formt dadurch in vielerlei Hinsicht auch unser Vorverständnis von dem, was wir als das Tragische in seinen Stücken begreifen. Die wesentlichen Züge dieser Positionen lassen sich wie folgt zusammenfassen:4 Ein charakterstarker Protagonist setzt sich mit Beharrlichkeit, Leib und Seele für ein Ziel oder Ideal, das er in seinem Streben verfolgt, ein. Ein weiterer charakterstarker Protagonist zeigt eine analoge Beharrlichkeit in seinem Streben nach einem Ziel, wobei das Streben nach diesem Ziel allerdings in einen Konflikt mit dem Streben des anderen Protagonisten gerät. Der entstandene Konflikt wird als unauflösbar betrachtet. Das Heroische mindestens eines Protagonisten liegt nun darin, dass er sein Ideal trotz des Konflikts nicht aufgibt, sondern unter Aufgabe seines Lebens bis ins Leid oder den Tod weiterverfolgt. Der Protagonist ist ein plastischer Charakter, der ganz und gar von dem Pathos des Zwecks, den er verfolgt, durchdrungen ist. Die Festigkeit und Beharrlichkeit, die ihn zu einem großen Charakter hat wachsen lassen, führt ihn in einer Übersteigerung dieser Eigenschaft schließlich auch ins Leid, das er freiwillig auf sich nimmt. Für die Tat, die der Protagonist aufgrund seines Pathos, von dem er ganz durchdrungen ist, verrichtet, ist er nur objektiv, insofern er die Tat begeht, schuldig. Subjektiv ist er als schuldlos zu betrachten. Denn zum einen kann er nichts dafür, dass er von diesem Pathos durchdrungen ist. Zum anderen ist das Verfolgen des Pathos an sich nicht verwerflich.

Philoktet und auch Odysseus scheinen Züge des so charakterisierten tragischen Protagonisten aufzuweisen. Philoktet verfolgt das Recht des Privaten, er besitzt das Pathos der Menschlichkeit und des Individuums, wenn er gegen eine Staatsmacht kämpft, die ihn – in seinen Augen – für ihre Zwecke funktionalisieren möchte. Seine Beharrlichkeit, seine Fähigkeit, größte Schmerzen und großes Leid zu ertragen und der Einsamkeit zu trotzen, drohen ihn am Ende gar in den sicheren Tod zu führen. Er scheint so sehr durchdrungen von diesem Pathos zu sein, dass er sich den Vorteilen, die für ihn mit einer Mitfahrt nach Troja verbunden sind, nicht öffnen kann. Indem er es ist, der sich der Mitfahrt nach Troja verweigert, kann er am Ende auch als objektiv schuldig für den ihn drohenden Tod betrachtet werden. Subjektiv scheint er dagegen von jeder Schuld freigesprochen werden zu können, weil er keine Verantwortung dafür trägt, dass er von dem Pathos durchdrungen ist, für die Menschlichkeit zu kämpfen und sich nicht von Führern eines Staates usurpieren zu lassen. Odysseus dagegen scheint ganz und gar von dem Pathos durchdrungen zu sein, der griechischen Gemeinschaft mit allen Mitteln zum Sieg verhelfen zu wollen. Hierfür appliziert er all seine Klugheit und rhetorischen Finessen. Doch auch in seinem Agieren kann eine Übersteigerung dieses Pathos gesehen werden, wenn er beim Verfolgen seines Ziels die List von der Aufrichtigkeit entkoppelt und ihm jedes Mittel – am Ende gar die Gewalt – recht zu sein scheint, um Philoktet zur Mitfahrt nach Troja zu bewegen. Objektiv kann dieser Position zufolge auch Odysseus als schuldig dafür betrachtet werden, dass er Philoktet durch seine List in den Tod zu schicken scheint. Subjektiv kann diese Schuld allerdings abgesprochen werden, weil auch er einfach als durchdrungen von dieser an sich nicht verwerflichen Leidenschaft des Einsatzes für die Gemeinschaft zu sein scheint. Auch Odysseus  bleibt so fest und beharrlich seinen Eigenschaften und Zielen treu.

Solche und ähnliche Deutungen der Tragik des Philoktet erfreuten sich lange einer großen Popularität. Sophokles’ Drama des Philoktet diente in dieser Interpretation auch als Projektionsfläche für Erlebnisse des 20. Jahrhunderts. Deutungen dieses Stücks in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg5 sahen in Odysseus vielfach die rücksichtslose und die Individuen usurpierende Staatsmacht verkörpert, die für ihre Ziele alle ethisch-moralischen Prinzipien der Menschlichkeit aufgibt. Philoktet dagegen wurde als das heldenhafte Individuum betrachtet, das sich gegen diese Staatsmacht auflehnt, sich für die Menschlichkeit einsetzt und sogar die Bereitschaft bekundet, das eigene Leben für ein ethisch-moralisch richtiges Handeln zu opfern. In Neoptolemos sehen solche Deutungen den Repräsentanten einer usurpierten und verführten Jugend, die erst allmählich und dann schon zu spät erkennt, dass hinter der Fassade schöner Worte und der Aussicht auf Ehre und Ansehen, mit der sie für das Unternehmen angelockt wurde, grausame und den Menschen und die Menschlichkeit schlechthin verletzende Taten stehen.

Gerade der heldenhafte Widerstand gegen die schier unmenschliche Staatsmacht scheint notwendigerweise mit Leid verbunden zu sein. Dass das Leid so letztlich zur Conditio Humana erhoben wird, in der der Mensch ganz dem Willen und Verhängnis des Göttlichen unterliegt, ist mithin Teil dieses Verständnisses von Tragik.6

Nicht zuletzt sind es eigene Erfahrungen eines Lebens unter Diktaturen oder zumindest eine Kenntnis von Zügen, die in verschiedenen Diktaturen immer wieder beobachtbar sind, die gerade diese Deutung in der Vergangenheit immer wieder attraktiv gemacht haben, ja mehr noch: Deutungen dieser Art als ein Selbstverständnis haben erscheinen lassen.

III. Die Problematik an diesem Vorverständnis und der Weg zu einer alternativen Deutung des Tragischen in seinen Anfängen:

Doch spricht selbst am Beispiel des Sophokleischen Philoktet, in dem dieses Konzept von Tragik fast vollends aufzugehen scheint, einiges gegen diese Applizierbarkeit dieser Position auf die Deutung des Philoktet.

(1) Neoptolemos, der neben Philoktet als der zentrale Protagonist in diesem Drama zu betrachten ist,7 verkörpert kaum das vermeintliche Ideal eines Charakters, der nach diesem Konzept als tragisch zu begreifen ist. Denn er zeigt sich weder unbeugsam noch beharrlich. Anfangs will er über ein moralisch vorbildliches Handeln Ruhm erlangen.8 Dieses Prinzip gibt er auf, als er sich von Odysseus dazu verführen lässt, für das Erlangen des Ruhms die List der Lüge anzuwenden. Und auch Odysseus gegenüber zeigt er sich nicht dauerhaft gehorsam, wenn er Philoktet am Ende den Bogen zurückgibt und ihm gegen den Willen des Odysseus zusichert, ihn in seine Heimat und gerade nicht nach Troja zu geleiten. Neoptolemos gelangt damit über sein konkretes Handeln und die mit diesem verbundenen Erfahrungen in diesem Drama zu der Einsicht, dass dieses Handeln nicht richtig ist und auch nicht zum erhofften Ziel führen wird. Folgerichtig ändert er sein Handeln. In seinem Handeln wird dem Zuschauer ein Beispiel vor Augen geführt, wie ein Handeln scheitern kann, wie das Scheitern aber auch durch die Einsicht und die Umsetzung dieser Einsicht im Handeln vermeidbar wird. Neoptolemos folgt also nicht bedingungslos und unbeugsam Odysseus, wie es sich für ihn als jungen Menschen, der sich noch in der militärischen Ausbildung befand, gehört hätte.

(2) Vor dem historischen gesellschaftlichen und politischen Hintergrund und unter Berücksichtigung des politischen Engagements des Sophokles dürfte man nur schwer dafür argumentieren können, dass das vorgestellte Konzept des Tragischen, das eine subjektive Schuldlosigkeit beinhaltet, die Dichtung des Sophokles tatsächlich beeinflusst hat.9 Sophokles hat sich Zeit seines Lebens für die Polis Athen eingesetzt. Über das Ausführen verschiedener – auch politischer – Funktionen,  wie z. B. der des Strategen, stellte er sich selbst in den Dienste des Wohls der Polis und ihrer Bürger. Es dürfte zumindest nahe liegen, dass er auch seine öffentlich aufgeführten Dramen im Dienste für das Wohl der Polis gesehen hat hat. 409 v. Chr., als der Philoktet aufgeführt wird, tobt der Peloponnesische Krieg schon seit mehr als 20 Jahren. 409 v. Chr. lag ferner die katastrophale Niederlage der Athener auf Sizilien, als ein großer Teil der Generation kampffähiger junger Menschen den Tod fand, erst wenige Jahre zurück. Von Thukydides und Xenophon erfahren wir über die Zerwürfnisse im inneren der athenischen Polis und den tiefen Rissen im demokratischen Bewusstsein in den Jahren nach dieser Niederlage. Wir lesen bei ihnen von den oligarchischen Versuchen: den zehn Probulen, der grausen Herrschaft der 400 und der Oligarchie der 5000. Viele Menschen verloren in den Unruhen dieser Zeit ihr Bürgerrecht und wurden ausgeschlossen.10 Wir erfahren aber auch von kleineren und Hoffnung spendenden Siegen der demokratischen Fraktion und ihrer Flotte, die Athen nach der Niederlage auf Sizilien wieder die Möglichkeit des Durchatmens gaben.11

Für das Jahr 409 v. Chr. planten die Demokraten unter dem Strategen Thrasyllos nun die größte militärische Expedition seit der Niederlage auf Sizilien 413 v. Chr. Es ist zu vermuten, dass sie nach den vorangegangenen kleineren Erfolgen ein weiteres Mal auf einen entscheidenden Sieg und das baldige Ende des leidvollen langen Krieges hofften.

Die Großen Dionysien des Jahres 409 v. Chr., an denen der Philoktet aufgeführt wurde, fanden nun gewissermaßen am Vorabend dieser militärischen Unternehmung statt. Es spricht, wie das Folgende  zeigen möchte, viel dafür, dass der zu diesem Zeitpunkt ca. 86 Jahre alte, weise und höchst erfahrene Sophokles, der noch Blütejahre der athenischern Polis miterlebt hatte, mit seinem Philoktet einen Beitrag zu dem erfolgreichen Unternehmen gerade angesichts der politischen und gesellschaftlichen Zerwürfnisse der Jahre zwischen 413 und 409 v. Chr. leisten wollte.

Bereits die Wahl dieser Version des Philoktetmythos für eine Tragödie ist vor dem politischen und gesellschaftlichen Hintergrund meisterhaft.12  Denn Sophokles kann in seiner dichterischen Gestaltung der Charaktere in diesem Mythos Ähnlichkeiten zu den Bestrebungen gesellschaftlicher Gruppierungen herstellen, denen für den Sieg in diesem Feldzug entscheidende Bedeutung zugekommen sein dürft.

(a) Der äußere Rahmen: Odysseus fährt mit der Hoffnung nach Lemnos, mit Philoktet und dessen Bogen den für die Griechen leidvollen Trojanischen Krieg nach 10 Jahren beenden zu können. Dieser Rahmen findet eine Entsprechung im Jahr 409 v. Chr., nur dass der Peloponnesische Krieg sogar schon mehr als 20 Jahre andauert. Aber auch mit der neuerlichen militärischen Expedition unter Thrasyllos dürften sich Hoffnungen auf einen endgültigen Sieg und ein Ende des Krieges verbunden haben.

(b) Die Situation und die Bestrebungen der Charaktere: (i) Aufgrund der Zerrissenheit in der athenischen Polis gab es Menschen, die über einen kürzeren oder längeren Zeitraum aus der Polis ausgeschlossen waren. Diese finden in der Figur Philoktets eine Entsprechung. Die – zumindest zeitweise – ausgeschlossenen Bürger dürften im Theater beim Mitverfolgen der Dramenhandlung in Philoktets Wünschen und Bestrebungen eine Ähnlichkeit zu den eigenen erkennen, oder aber sie dürften sie zumindest nachvollziehen können: Philoktet möchte wieder Teil haben an der Gemeinschaft. Er hat sein Streben nach Ruhm und Ehre noch nicht aufgegeben. Und er möchte von den Wunden, die er erlitten hat, geheilt werden. (ii) Athen hatte fast eine ganze junge Generation auf Sizilien verloren. Es ist folglich wahrscheinlich, dass an der neuen Unternehmung vier Jahre später eine Reihe von jungen Epheben teilnahm, die aufgrund ihres Alters vier Jahre zuvor noch nicht bei der Sizilienexpedition dabei waren, die aber als Epheben ihren Strategen gegenüber zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet waren.13 Diese jungen Menschen dürften nun im Theater im Charakter des Neoptolemos und dessen Zielen Ähnlichkeiten zu den eigenen Zielen erkennen. Auch für den jungen Neoptolemos ist es im Drama des Sophokles die erste Unternehmung, an der teilnimmt. Neoptolemos möchte ähnliche Ehren wie sein bereits gefallener Vater Achill über ein aufrichtiges Handeln erlangen. Er möchte gut und weise genannt werden. (iii) Die Männer in Führungspositionen dürften schließlich in den Bestrebungen des Odysseus Ähnlichkeiten erkennen. Odysseus sieht sich in der Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft der Griechen. Er hat erlebt, dass ehrenvolles Handeln in dieser Zeit nicht weitergeholfen hat, sondern dass er der List bedarf. Er möchte schließlich mit welchem Mittel auch immer endlich diesen Krieg beenden. Dass die führenden Männer ähnliche Erfahrungen gemacht haben und ähnlich dachten, kann als durchaus wahrscheinlich betrachtet werden.14 

Sophokles’ Dichtung des Philoktet erfolgt nun offenkundig auch unter Bezugnahme auf diesen präsenten politischen und gesellschaftlichen Hintergrund. Er stellt keines der Ziele als falsch oder verwerflich hin. Im Gegenteil wird den Bestrebungen der drei Hauptcharaktere in diesem Drama viel Verständnis entgegengebracht. Es ist deshalb zu vermuten, dass die Zuschauer des Dramas im Jahre 409 v. Chr. die Bestrebungen der einzelnen Charaktere für nachvollziehbar und verständlich hielten.

Es kann vor diesem gesellschaftlichen und politischen Hintergrund nun kaum plausibel sein, wenn man, dem oben dargestellten Konzept des Tragischen folgend, für die Deutung eintritt, dass Sophokles als erstrebenswertes und heroisches Ideal herausstellen wollte, dass der ausgeschlossene Philoktet sich wirklich bis zum Ende und bis zu seinem Untergang weigern sollte, einen entscheidenden Beitrag für den endgültigen Sieg der Griechen und damit für das Wohl der Gemeinschaft zu verrichten, wenn doch gerade die Großen Dionysien etwa über die Parade der Kriegswaisen, für die die Polis sorgte, auch an die Verpflichtungen des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft erinnerten.

Gegen eine Applikation dieses Tragikkonzepts spricht auch die Häufung des Auftretens von Wörtern aus dem Begriffsfeld der φιλία (,Freundschaft‘) im Drama (nur exemplarisch: v. 234, v. 237, v. 242, v. 530, v. 531, v. 532). Als zwischen Philoktet und Neoptolemos eine Freundschaft zu entstehen scheint und sie einander höchstes Wohlwollen zuteil werden lassen, scheint ein positiver Ausgang des Unternehmens möglich. Diese Perspektive findet erst durch das Zutagetreten der Lüge und den mit ihr eingehergehenden Bruch des Vertrauens ein jähes Ende. Das Drama kann so auch als Plädoyer für ein neu zu entflammendes Wohlwollen unter den einzelnen Charakteren betrachtet werden, ohne die das Unternehmen von vornherein zum Scheitern verdammt ist.

Sophokles scheint mit seiner Handlungskomposition mithin vielmehr daran gelegen zu sein, die für das bevorstehende Unternehmen entscheidenden gesellschaftlichen Gruppen in die Verantwortung zu nehmen und sie gerade nicht aus ihrer subjektiven Verantwortung für den Dienst an der Gemeinschaft, das Erreichen des persönlichen Ziels und Glücks und den Erfolg der Polis zu entlassen (oder wenn man so will: ihnen eine subjektive Schuld für ein mögliches Scheitern gänzlich abzusprechen).

Als eine alternative Deutung mag vorgeschlagen werden, dass Sophokles den Zuschauern im Theater vor Augen hält, dass es aller für diese Unternehmung relevanter gesellschaftlicher Gruppen bedarf: dazu gehören auch oder gerade die Integration der Ausgeschlossenen und der jungen Epheben. Es ist nicht auszuschließen, dass der mit 86 Jahren höchst erfahrene und weise Sophokles nun auf der Ebene des individuellen Befindlichkeiten einer ausgeschlossenen Person (Philoktet), eines jungen Militärdienstleistenden (Neoptolemos) und eines Strategen (Odysseus) den Rezipienten vor Augen führt, wie ein solches Unternehmen scheitern wird, aber – durch den guten Ausgang – ebenso zeigt, wie die Fallstricke des Scheiterns umgangen werden können und welches Handeln Erfolg verspricht.

Was Sophokles den Zuschauern vor Augen führt, ist die Schlüpfrigkeit, wie man trotz eines verständlichen und plausiblen Strebens oder eines nachvollziehbaren Zorns bei der Wahl der Mittel Fehler begehen kann, wenn man den Zorn nicht aufgibt. Diese Fehler führen zum Scheitern des eigentlich guten und erstrebenswerten Ziels. Auch wenn die Fehler verständlich und nachvollziehbar sind, so heißt dies demnach nicht, dass der Einzelne sie nicht vermeiden könnte und somit keine subjektive Verantwortung für sie tragen muss:

(i) Odysseus’ Ziel, den Krieg siegreich für die Griechen zu beenden, ist ehrenhaft und nachvollziehbar. Ebenso nachvollziehbar scheint zu sein, dass er nach den Erfahrungen des Krieges der Aufrichtigkeit nicht mehr vollends vertraut, sondern eine List anwendet. Was er aber missachtet und was Sophokles durch seine geschickte Handlungskomposition den Zuschauern deutlich macht, ist, dass er bei der Anwendung seines Mittels der Lüge nicht berücksichtigt, wie sehr die konkrete Ausgestaltung dieser die Psyche, die Befindlichkeit, der jeweils anderen beteiligten Person verletzt. Er zeugt so Widerstand gegen sich und sein Unternehmen. Die Lüge beinhaltet, dass Neoptolemos ihn als schlechten Menschen hinstellt (vv. 64-65). Diese Taktik, die Neoptolemos das Wohlwollen Philoktets einbringen soll, führt dazu, dass Philoktet sein altes Urteil gegenüber Odysseus immer wieder bestätigt findet. Als er dann sogar Odysseus als Urheber der Lüge erkennt (v. 976), ist sein Vertrauen gegenüber Odysseus vollends dahin, so dass Philoktet sich zunächst mit allen Mitteln gegen eine Mitfahrt nach Troja sträubt. Auch Neoptolemos’ Bedenken gegenüber dem Mittel der Lüge nimmt Odysseus nicht ausreichend ernst. Wenn Neoptolemos sich in der Lüge als Vertreter einer aufrichtigen sittlich-moralischen Gesinnung hinstellt und damit genau so, wie er sich sehen möchte, und Philoktet ihn daraufhin in höchsten Tönen preist und lobt, erkennt er, dass ihm auch dieses Verhalten –
wie er es zu Beginn des Dramas erhoffte – bei angesehenen Menschen Lob und Ehre einbringen kann und seine subjektiven Ziele erreichen lässt. Neoptolemos muss am Ende zugeben, dass ihm das Ausführen der Lüge Schmerzen bereitete. Ebenso erkennt er, dass das alternative Mittel der bloßen Überzeugung gepaart mit Wohlwollen – ohne Lüge – wohl größeren Erfolg verheißt. Dass Neoptolemos aufgrund des gewählten Mittels letztlich seinen Gehorsam gegenüber Odysseus aufgibt, zeigt, wie sehr die Wahl des Mittels der Lüge falsch war.

Sophokles’ Dichtung vermag durch diese geschickte Darstellung dem Zuschauer – und besonders den Männern in Führungspositionen – vor Augen zu stellen, was wirklich zu fürchten ist. Zu fürchten ist, dass sie zu beharrlich den eigenen Prinzipien folgen, diesen treu bleiben und nicht ausreichend darum bemüht sind, das Wohlwollen des einst Ausgeschlossenen für sich wiederzuerlangen und Vertrauen zurückzugewinnen oder die Sorgen der jungen Epheben zu berücksichtigen. Sie zerstören so das die Gemeinschaft oder gar Gesellschaft einende Band der φιλία (Freundschaft).

(ii) Philoktet möchte von seiner Krankheit geheilt werden, er möchte weiter Ruhm und Ehre erlangen und er möchte zurück in die Gemeinschaft. Sophokles inszeniert den Philoktet meisterhaft, indem er darstellt, dass Philoktet alle diese Ziele durch eine Mitfahrt nach Troja erreichen könnte. Doch der Moment, in dem ihm dies eröffnet wird, ist auch der Moment, in dem ihm die Lüge eröffnet wird und er sich in seinem Vertrauen enttäuscht, seine Freundschaft zu Neoptolemos gebrochen und sein Wohlwollen ihm gegenüber ohne Entsprechung sieht. Angesichts seiner bitteren Erfahrungen kann er nun an nichts anderes mehr denken als an das abermals erlittene Unrecht und den bevorstehenden Tod, den er ohne Bogen zwangsweise erleiden muss. Dass Odys-seus auftritt und ihn am Ende sogar noch mit Gewalt zur Mitfahrt bewegen möchte, lässt ihn nur noch umso mehr in Hass erstarren.

Im Falle Philoktets ist es sein verständlicher Hass auf Odysseus, der ihn nachvollziehbar Abstand davon nehmen lässt, gerade mit Odysseus, der ihm in seinen Augen nun wiederholt Unrecht zugefügt hat, nach Troja zu segeln. Philoktet lässt in seinem Hass dabei wiederholt Möglichkeiten ungenutzt, in denen er von seinem jeweiligen Gegenüber auf die Vorteile, die eine Fahrt nach Troja für ihn hätte, hingewiesen wird und die seinen ursprünglichen Zielen entsprechen.

Als Neoptolemos ihm den Bogen zurückgibt und Philoktet trotz eindringlicher Überredungsversuche durch Neopotolemos dennoch auch weiter nicht mit nach Troja fahren will, weisen die Charaktere des Dramas gleich mehrfach auf die zu starre Haltung Philoktets hin. Der Chor sieht Philoktets weitere Übel allein als von ihm selbst gewählte an (vv. 1095–1100, vv. 1163–1368). Er fordert ihn ferner auf, die Freundschaft ihm gegenüber nicht von sich zu stoßen (v. 1121f.). Der Chor erkennt in der Rückgabe des Bogens durch Neoptolemos jedenfalls ein neuerliches Wohlwollen und einen Akt der Freundschaft Philoktet gegenüber. Auch Neoptolemos gibt kund, welches Fehlverhalten Philoktets er sieht. Er sei verbittert, akzeptiere keinen Ratgeber (v. 1321). Und wenn sich ihm jemand mit Wohlwollen nähere, hasse er diesen und halte ihn für einen nicht wohlwollend gesonnenen Feind (vv. 1321–1323). Darüber hinaus äußert Neoptolemos, dass Philoktet, nachdem er seinen Bogen zurückerhalten hat, sich aber dennoch weiter einer Mitfahrt nach Troja verweigert, explizit, dass aus diesem Grunde ab jetzt kein Mitleid mehr mit Philoktet gerechtfertigt sei (vv. 1318–1320).

Gerade die letzte Äußerung setzt voraus, dass Sophokles Philoktet in der Verantwortung sieht. Es trägt selbst die Schuld daran, dass sein nun zu starres Verhalten nicht mehr bemitleidenswert ist. Denn das Missverhältnis aus der geringen oder nicht vorhandenen Verantwortung (oder auch: Schuld) für das eigene Leiden und dem immensen Ausmaß des Leidens, das eine Berechtigung für das Mitleid mit ihm bedeutete, scheint im Falle von Philoktets beharrlicher Weigerung nun nicht mehr gegeben zu sein. Wenn Philoktet, obwohl er seinen Bogen zurückerhalten hat, sein Leid selbst wählt, dann verliert er dadurch die Berechtigung eines Mitleidempfindens mit ihm.

Der Hass Philoktets auf Odysseus geht offenkundig einher mit seiner – ebenfalls nachvollziehbaren – Angst, ein weiteres Mal von Odysseus hintergangen zu werden, wenn er nach Troja mitfährt (s. explizit vv. 1360–1362). Diese Angst würde ihn in den Untergang führen.

Die Darstellung des Sophokles kann nun aber auch so gedeutet werden, dass Sophokles bei allem Verständnis für Philoktets Hassgefühl zeigen möchte, dass Philoktet aufgrund dieser Angst das, was wirklich zu fürchten ist, aus den Augen verliert: nämlich dass er durch seinen Starrsinn seine eigentlichen Ziele, wie sie Philoktets Worten zu Beginn des Dramas zu entnehmen waren, überhaupt erst verfehlen wird (nämlich Ruhm und Ehre über ehrenvolle Taten zu erlangen, von seiner Wunde geheilt zu werden und in die Heimat zurückzukehren). Die Dramenkomposition ermöglicht alternativ vielmehr auch die Einsicht in das, nämlich in einem zu langen Beharren eines in seinem Ursprung verständlichen Zorn- oder Hassempfindens keinen Blick mehr für das Verfolgen der eigenen Vorteile zu haben, die auch dem Wohle der Gemeinschaft dienlich sind. Die Affekte und auch die Wünsche Philoktets werden im Verlauf der Dramenhandlung der Situation und den Möglichkeiten, die er hat, zunehmend unangemessener. In diese Richtung ist wohl auch die Aufforderung des Chors an ihn, dass er Maß halten solle (v. 1182: μετρίαζ'), zu verstehen. Solche Aufforderungen und ähnliche Ermahnungen (z. B. vv. 1314ff.) weisen den Zuschauer auch auf ein problematisches Verhalten Philoktets hin, durch das er selbst seine Ziele gefährdet und sich für diese Gefährdung verantwortlich zeigt.

(iii)  Neoptolemos möchte Ruhm und Ehre durch ein sittlich gutes Handeln erlangen. Auch dies dürfte für den jungen Menschen 409 v. Chr. ein nachvollziehbares Ziel sein. Ebenso scheint es vor dem Hintergrund der Erfahrungen in diesen Jahren des 5. Jahrhunderts v. Chr. nachvollziehbar, dass er sich von Odysseus zu der Lüge überreden lässt, wenn Odysseuss ihn dazu bewegt, seine Scham vor der Lüge zumindest für einen Tag aufzugeben (v. 82 und v. 120), um danach einen größeren Gewinn davon zu tragen, nämlich gut und weise genannt zu werden (v. 117 und v. 119). Die Art, wie Sophokles die Handlung in seinem Drama komponiert, führt dem Zuschauer aber auch vor Augen, dass Neoptolemos in seinem Bestreben, Ruhm und Ehre über das Ausführen der Lüge zu erlangen, eine Grenze überschritten hat, die ihn beim Erreichen seines wahren Ziels zunächst scheitern lässt. Die Unerfahrenheit des Neoptolemos, aber auch seine Leidenschaft für Ruhm und Ehre lassen ihn seine Bedenken hintanstellen (vv. 120ff.). Doch die Art, wie er an den Bogen gelangt, macht Neoptolemos nicht glücklich (v. 806, vv. 912–913, vv. 965ff.). In Sophokles’ Darstellung ist das Gegenteil der Fall, wenn er im Moment des äußeren Erfolgs, nachdem Philoktet ihn kurz vor seinem Ohnmachtsanfall in Vertrauen den Bogen übergibt,  sogar kurz davor steht, Philoktet den Bogen zurückzugeben (vv. 969ff.). Dass er überhaupt dazu neigt, den Bogen zurückzugeben, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass er sein inneres Ziel, nämlich durch eine ehrenvolle Tat seinen Beitrag zum Erfolg des Unternehmens zu leisten, nicht erfüllt sieht.

Auch für seinen Fall kann man festhalten, dass das Drama vor Augen führt, was ein junger Mensch in der militärischen Unternehmung wirklich zu fürchten hat: die Aufgabe eines sittlich guten Handelns – mit beeinflusst durch den erwarteten Gehorsam – unter der in schöne Worte gekleideten Aussicht auf Ruhm und Ehre, insofern dieses Handeln die Bande der φιλία gefährdet. Dies zeigt die Rechtfertigung des Neoptolemos gegenüber Odysseus, als er vom Schiff zurückeilt, um Philoktet seinen Bogen zurückzugeben (vv. 1224ff., v a. v. 1228). Neoptolemos äußert explizit, dass er einen Fehler begangen habe (v. 1224: ἐξήμαρτον), weil er Philoktet mit sittlich verwerflichen Täuschungen (ἀπάταισιν αἰσχραῖς) gefangen habe (v. 1228). Zu fürchten ist also, dass ein solches Handeln nicht das nötige Vertrauen und Wohlwollen schafft, sondern Zorn und Hass sät, der in Widerstand des Gegenübers mündet, der selbst durch Gewalt nicht überwindbar ist. Dies wiederum führt zum Verfehlen des eigenen subjektiven Ziels, durch ein moralisch gutes oder zumindest zu rechtfertigendes Handeln glücklich zu werden und Ruhm und Ehre zu erlangen.

Bemerkenswert an diesem Drama ist nun, dass Sophokles nicht nur die Motive aufzeigt, wie die Handlung scheitert, sondern im Kontrast zu den Motiven des Scheiterns auch vor Augen stellt, wie sich das Handeln in diesem Unternehmen erfolgreich gestalten lässt.

(i) Neoptolemos empfindet nicht nur Unlust über sein eigenes, ihm von Odysseus auferlegtes Handeln, sondern er muss auch erkennen, dass Odysseus wegen der Wahl seines Mittels am Erreichen seines Ziels scheitert. Beides veranlasst ihn dazu, Philoktet den Bogen zurückzugeben und fortan zu versuchen, Philoktet durch bloße Überzeugung zur Mitfahrt nach Troja zu veranlassen (s. explizit: vv. 1278ff.), was ihm in der bereits erläuterten Weise auch gelingt. Sophokles lässt Neoptolemos in seinem Handeln erfahren, wie sein wohlwollendes und freundschaftliches Agieren gegenüber Philoktet und gerade nicht ein schroffes Handeln, wie es Odysseus Philoktet gegenüber zeigt, auch das Wohlwollen und Vertrauen Philoktets (wieder)gewinnt. Sophokles führt im Handeln des Neoptolemos mithin vor Augen, dass ein wohlwollendes Handeln, ein Agieren aus einer φιλία, erfolgsversprechend ist. Er verdeutlicht den Rezipienten seines Dramas somit auch die φιλία als das starke Band, das die einzelnen Gruppen der Gesellschaft (erfolgsversprechend) zu einen vermag.

(ii) Auch in der Figur des Philoktet führt Sophokles dem Rezipienten vor Augen, wie ein Scheitern vermieden werden kann. Neoptolemos zeigt durch die Rückgabe des Bogens und auch mit seiner Bereitschaft dazu, sein Versprechen, ihn in der Tat in seine Heimat und nicht nach Troja zu bringen, von neuem Wohlwollen gegenüber Philoktet. Als sie tatsächlich zum Schiff gehen, um in das Land des Öta zu segeln, kann Philoktet erkennen, dass dieses Mal den Worten des Neoptolemos tatsächlich auch Taten folgen. Mit dieser Aussicht auf die Rückkehr in seine Heimat löst Philoktet die Fixierung seines Denkens auf das erlittene Unrecht durch Odysseus. Er zeigt sich in diesem Moment verständlicherweise auch dazu bereit, Neoptolemos in seinen Ängsten beizustehen und ihm zu helfen. Denn Neoptolemos fürchtet die Rache der Griechen, wenn er Philoktet nun in seine Heimat bringt und nicht nach Troja. Philoktet sichert ihm Hilfe über seinen Bogen, den er von seinem ehemaligen Herrn Herakles erhalten hat, zu. In genau diesem Moment, in dem Philoktet seinen Gedanken auf Herakles richtet, erscheint letzterer als Deus ex machina. Herakles hält Philoktet nach den bislang misslungenen Versuchen durch Neoptolemos, Odysseus und den Chor noch einmal die Vorteile vor Augen, die für ihn mit einer Fahrt nach Troja verbunden wären (vv. 1409–1444). Diese entsprechen seinen alten Zielen, die er zu Beginn des Dramas verfolgt hat. Auch eine Rückkehr in seine Heimat scheint den Worten zufolge im Anschluss an den Sieg über Troja möglich zu sein. Ebenso führt Herakles an, dass sie nur siegen werden, wenn er und Neoptolemos wie zwei Löwen zusammenstehen werden. Die Worte des Herakles an Philoktet und Neoptolemos, die als Repräsentanten verschiedener Gruppen der Polisgesellschaft des Jahres 409 v. Chr. gesehen werden können, sind damit auch ein Appell an die φιλία, die Geschlossenheit und Einheit. Nun kann Philoktet, nachdem er sein Denken aus der Fixierung auf das erlittene Unrecht gelöst hat, die Vorteile, die eine Mitfahrt nach Troja für ihn haben, einsehen. Freiwillig folgt er den Worten des Herakles. Damit demonstriert auch er am Ende sein Wohlwollen und seine φιλία gegenüber Neoptolemos und den Griechen.

Dass mit Herakles ein Deus ex machina eingreift, braucht nun nicht bedeuten, dass das Göttliche den Knoten zerschlägt, den der Mensch aufgrund seiner Vermögen nicht zu durchschlagen in der Lage war.15 Alternativ ist auch denkbar, dass der gottesfürchtige Sophokles zu denken gegeben hat, dass im Sinne eines göttlichen Willens, den der Mensch sich aber selbst zu erschließen hat, Wohlwollen und Liebe zueinander als gewinnbringend für die Menschen innerhalb einer Polis sein dürften. Es liegt demnach auch in der Verantwortung des Menschen, sich diese Einsicht zu erschließen und selbst alles dafür zu tun, dass auch ein anderer Mensch sich diese Einsicht und die Kraft eines solchen (göttlichen) Gedankens selbst erschließen kann.16 Ebenso kann es bei allem Verständnis für eine Verbitterung im Handeln aber auch als subjektive Schuld des Menschen angesehen werden, wenn er nichts unternimmt, um sich selbst oder einen anderen Menschen z. B. aus einer leidenschaftlichen Verbitterung zu lösen.

Dieser Deutungsalternative zufolge führt Sophokles den Zuschauern in der Tragödie damit die Gründe vor Augen, warum die einzelnen Personen beim Erreichen ihrer Ziele und auch des Besten für die Gemeinschaft scheitern können. Er zeigt im Kontrast dazu aber auch, wie ein solches Scheitern vermieden werden kann. Sein Drama kommt vor dem konkreten Hintergrund des Jahres 409 v. Chr. einem Appell an das Zeigen von Wohlwollen und φιλία und das Mitgefühl für die Anderen, auch Ausgeschlossenen in der Polisgemeinschaft gleich. Wenn dieses Wohlwollen und die φιλία nicht nur in schönen Worten, sondern auch in Taten demonstriert wird, erntet dieses Wohlwollen selbst Wohlwollen und φιλία. Sophokles demonstriert den Zuschauern im Drama damit nicht nur, welches Denken und Handeln zu fürchten ist, sondern auch, welche Kraft und Macht ein Handeln aus Wohlwollen und φιλία für das Erreichen der persönlichen Ziele und der Ziele der Gemeinschaft besitzt. Der Verweis auf das Göttliche mag den Anspruch in sich tragen, an der konkreten historischen und gesellschaftlichen Situation eine zeitlose Einsicht oder gar Wahrheit verkünden zu wollen, die sich der greise, aber weise Sophokles erschlossen hat.

IV. Aristoteles’ Deutung der Tragödie und ihre Plausibilität

Wenige Jahrzehnte nach der Aufführung des Philoktet und nach der Blütezeit der attischen Tragödie schreibt Aristoteles seine Poetik. In dieser hält er Merkmale einer guten Dichtung und v. a. einer guten Tragödiendichtung fest. Seine Positionen zur Tragödie fußen dabei ganz zentral auf den Stücken der attischen Tragödie, was aus den zahlreichen Erwähnungen von Beispielen aus diesen Tragödien zur Untermauerung seiner Positionen erschließbar ist. Aristoteles liefert uns also eine Position dazu, welche Charakteristika eine gute tragische Dichtung in ihrem Kern ausmachen. Seine Ausführugen zum Tragischen liegen zeitlich damit deutlich näher an den Aufführungsdaten der Stücke und damit wohl auch näher an den dichterischen Diskursen der damaligen Zeit als etwa Positionen, die in der Folge neuzeitlicher und moderner Ansätze zum Tragischen stehen.17

Es scheint beachtenswert, dass Aristoteles’ Lehre in seiner Poetik, wie sie in der umfassenden jüngsten Forschung gedeutet worden ist, die hier vorgestellten Deutungsalternative wohl zu unterstützen vermag. Nur einige wenige, gleichwohl zentrale Charakteristika seiner Ausführungen über die Tragödie seien im Folgenden erwähnt.18

Aristoteles erkennt die tragische Dichtung als eine Nachahmung handelnder Menschen (Poetik, Kap. 2, 1448a2). ,Handeln‘ meint seinem Begriff nach in Aristoteles’ Lehre, dass ein Mensch ein Ziel verfolgt, das er für sich subjektiv als gut erachtet (s. Nikomachische Ethik, 1139a31, 1140a1–23, 1140b4–7).19 Der eigentliche Gegenstand der Tragödie ist nun der gute, wenngleich nicht der perfekte Mensch. Der gute handelnde Mensch verfolgt demnach ein Ziel, das er zum einen für sich subjektiv als gut erachtet, das darüber hinaus aber auch von Betrachtern als gut erachtet werden kann. Die Beendigung eines langjährigen Kriegs, die Reintegration in eine Gemeinschaft nach der Phase eines Ausschlusses, das Erlangen von Ruhm und Ehre in Verbindung mit sittlich guten Taten – Ziele, die die Protagonisten in Sophokles Philoktet besitzen – können damit als Handlungen guter Charaktere begriffen werden.

Der Grund, warum das Handeln eines guten Charakters nach Aristoteles zu einem tragischen Handeln wird, liegt nach Aristoteles nun darin, dass dieser Charakter aufgrund eines zwar verständlichen, aber dennoch von ihm selbst vermeidbaren Fehlers (ἁμαρτία) sein Ziel verfehlt oder zu verfehlen droht (Poetik, Kap. 13, 1453a7–12), nachdem zuvor aber die Motive, die zu einem Scheitern führen, dargestellt wurden. Der tragische Charakter ist damit kein perfekter Charakter. Umfassende Betrachtungen dazu, was Aristoteles in seinem Werk als Fehler (ἁμαρτία) begreift, konnten als wesentliches Merkmal dieses Fehlers herausstellen, dass er aus einer momentanen Verblendung heraus verursacht wird, die in einem Affekt gründet.20 Dieser Affekt führt zu einer Art temporären Unwissenheit, in der der Mensch ein ihm potentiell zur Verfügung stehendes Wissen nicht auf die einzelne Situation anwendet. Der betroffene Mensch wählt infolge des Affekts nicht das richtige Mittel zum Erreichen seines subjektiven Ziels. Aristoteles vertritt explizit die Position, dass der Mensch selbst sich aus einem Affekt lösen kann, indem er sein Denken auf andere oder neue Aspekte lenkt (s. v. a. Rhetorik, 1380a6–b34).21 Insofern ist in den Jahrzehnten nach der Aufführung der attischen Tragödien durchaus die Position gegeben, dass der Mensch auch für die Lösung aus seinem Affekt eine eigene Verantwortung besitzt.

Auch dieses Merkmal des Tragischen scheint eine Entsprechung in Sophokles’ Philoktet finden zu können. Philoktet gerät, wie gezeigt wurde, verständlicherweise in den Affekt des Zorns und Hasses gegenüber Odysseus. Auch wenn er selbst als seine Ziele benannt oder in seinem Handeln offenbart hat, dass er die Einsamkeit der Insel, auf der er sich befindet, verlassen möchte, dass er von seiner Wunde geheilt werden möchte und dass er Ruhm und Ehre erlangen möchte, und auch wenn er diese Ziele gerade mit der ihm in Aussicht gestellten Mitfahrt nach Troja realisieren könnte, stehen ihm sein Zorn und sein Hass auf Odysseus, die aus verständlichen Motiven herrühren, im Weg. Bedingt durch den Affekt des Zorns und des Hasses richtet er sein Denken nur auf die Aspekte des Unrechts, das ihm widerfahren ist. Ganz eingenommen von diesem Unrecht gelingt es ihm sehr lange nicht mehr, Troja mit der Möglichkeit der Realisierung seiner eigenen Ziele zu verbinden. Um Ruhm und Ehre zu erlangen, will er nicht mehr Troja erobern – weshalb er einst an dem Zug gegen Troja teilgenommen hat –, sondern er will Ruhm durch ein neues Mittel erlangen, nämlich über die Beharrlichkeit seines Widerstands gegen Odysseus. Ähnliches kann man auch für Odysseus und Neoptolemos festhalten. Odysseus ereifert sich leidenschaftlich für die Ziele der Gemeinschaft, den Krieg endlich siegreich zu beenden. In dieser Eingenommenheit seines Denkens und der festen Überzeugung, durch das Mittel der Lüge den Seherspruch erfüllen zu können, berücksichtigt er nicht ausreichend den Zorn und Hass, den er durch die Wahl dieses Mittels in Philoktet schüren wird, von dem er zu Beginn der Dramenhandlung aber Neoptolemos noch berichtet hat. Odysseus scheitert durch die Wahl des falschen Mittels. Und obwohl Neoptolemos sich anfangs sicher ist, dass er Ruhm und Ehre nur über das Mittel der sittlichen Aufrichtigkeit erlangen will, gibt er dieses Prinzip unter der Aussicht auf das Erlangen von Ruhm und Ehre und seiner Begeisterung für diese anfangs auf und droht deshalb beim Erreichen seines subjektiven Ziels zu scheitern.

Charakteristisch für die gute tragische Handlung ist nach Aristoteles ferner der Umschlag (die Peripetie, περιπέτεια) der Handlung vom Glück ins Unglück in Verbindung mit einer Wiederkennung (einer Anagnorisis, ἀναγνώρισις) (Poetik, Kap. 10–11, 1452a12–b13).22 Wiedererkennung meint nach Aristoteles zunächst nichts anderes als aus dem Zustand des Nicht-Wissens einer Sache in den Zustand des Wissens von dieser Sache zu geraten. Auch dieses Merkmal ist in der Handlung des Philoktet gegeben. Wenn Handlung nach Aristoteles das Verfolgen des subjektiv als gut vorgestellten Ziels meint, so liegt die Handlung Philoktets darin, der Einsamkeit von Lemnos zu entrinnen, Ruhm und Ehre als Eroberer Trojas zu erlangen und von seiner Wunde geheilt zu werden. Philoktet ist ferner, nachdem Neoptolemos ihm versprochen hat, ihn in seine Heimat zu bringen und so Lemnos verlassen zu können, sehr glücklich (s. v. a. vv. 530ff.). Die Wiedererkennung (ἀναγνώρισις) in diesem Stück tritt ein, als Philoktet zu dem Wissen gelangt, dass er Opfer einer Lüge und Intrige geworden ist. Diese Wiederkerkennung geht einher mit dem Umschlag der Handlung in ihr Gegenteil: Philoktet ist fortan unglücklich, er will Lemnos ohne seinen Bogen nicht mehr verlassen, er zieht den Tod dem Erlangen von Ruhm und Ehre als Eroberer Trojas vor, ihm ist es nicht mehr wichtig, von seiner Wunde geheilt zu werden.

Charakteristisch für diesen Handlungsumschlag ist nach Aristoteles ferner, dass er über das Potenzial verfügt, beim Zuschauer Mitleid und Furcht zu evozieren. Mitleid (ἔλεος) nun entsteht nach Aristoteles dann, wenn ein Missverhältnis zwischen dem Ausmaß des Leidens und dem Grad der eigenen Verantwortung für dasselbe erkennbar ist (s. Poetik, Kap. 13, 1453a4–7 und Rhetorik, 1385b11–1386b7). Dies ist im Falle Philoktets durchaus gegeben. Er konnte die Intrige bislang nicht erkennen, sondern wurde stattdessen mit (bis zu diesem Punkt) falschen Versprechungen getäuscht. Der Schmerz und das Leid, erkennen zu müssen, dass er wieder Opfer einer Intrige wurde, ist dagegen sehr groß. Noch größeres Leid droht ihm ferner mit dem Tod, wenn er ohne seinen Bogen auf Lemnos bleibt, falls er nicht mit nach Troja fährt. Als Furcht (φόβος) bestimmt Aristoteles die Meinung, dass einem selbst etwas Schmerzhaftes oder Leidvolles unmittelbar bevorsteht (s. Rhetorik, 1382a20–1383b10). Auch dies ist im Falle Philoktets gegeben, wenn er sich das Leid- und Unlustvolle vor Augen hält, das ihm ein weiteres Mal von Odysseus widerfahren könnte, wenn er mit ihm nach Troja segelt.

Schließlich beinhaltet die Definition der Tragödie im sechsten Kapitel der Poetik den kontrovers diskutierten Satz, dass die Tragödie, indem sie ἔλεος und φόβος (Mitleid und Furcht, nach einer anderen Deutung: Jammer und Schauder) bewirkt, eine Reinigung (Katharsis, κάθαρσις) eben dieser Affekte (oder nach einer anderen Deutung: von diesen Affekten) bewirkt (Poetik, Kap. 6, 1449b24–28). Wenn man Aristoteles’ Ausführungen in der Nikomachischen Ethik folgt, liegt das Ideal in der richtigen Mitte eines Gefühls oder Affekts (Nikomachische Ethik, 1106b14–34). Dies meint nach Aristoteles, dass das Gefühl oder der Affekt im Idealfalls gegenüber dem Gegenstand angemessen ist, so lange andauert, wie es angemessen ist, der Mensch dieses Gefühl zu dem Zeitpunkt zeigt, wenn es angemessen ist, usw. Diese Passage aus der Ethik ist in der Vergangenheit immer wieder so gedeutet worden, dass Aristoteles mit Reinigung eine Erziehung zu einem richtigen und angemessen Furcht- und Mitleidempfinden über die Rezeption der Dramenhandlung meint.23

Auch dieses Charakteristikum kann in der Dramenhandlung des Philoktet und ihrem Wirkpo-tenzial Verwirklichung gefunden haben. Das Mitleid mit Philoktet scheint anfangs durchaus berechtigt zu sein, da ein tatsächliches Missverhältnis zwischen dem immensen Leid Philoktets und seiner eigenen Verantwortung für dasselbe vorliegt. Allerdings wird in dem Drama durch die handelnden Charaktere nach und nach verstärkt darauf hingewiesen, dass sich dieses Missverhältnis auflöst, nachdem Neoptolemos seinen Fehler erkannt hat, Philoktet den Bogen zurückgibt ihn sogar tatsächlich in seine Heimat und nicht nach Troja bringen will (s. die Ermahnungen des Chors vv. 1095ff., 1165ff., ferner 1081ff.). Am deutlichsten ermahnt ihn Neoptolemos, nachdem er ihm den Bogen zurückgegeben hat, indem er darauf hinweist, dass die, die sich in freiwillig gewählten Übeln befinden, keine Nachsicht und kein Mitleid verdienen (vv. 1318–1320). Dieser explizite Hinweis des Neoptolemos zeigt, dass die Verbitterung Philoktets nun der Situation und dem Zeitpunkt nicht mehr angemessen ist. Die Worte des Neoptolemos verweisen damit implizit aber auch auf eine subjektive Verantwortung, die Neoptolemos nunmehr für sein eigenes Leiden trägt. Fortan wählt Neoptolemos seine Übel freiwillig, weshalb er dann auch kein Mitleid und keine Hilfe mehr verdient. Eine solche Anlage der Handlung durch den Dichter ermöglicht damit dem Rezipienten unmittelbar beim Mitverfolgen der Handlung sein Mitleid mit Philoktet aufzugeben, damit nicht länger mit ihm Mitleid zu haben, als dies angemessen ist. Oder anders formuliert: Die Komposition der Handlung ermöglicht dem Rezipienten ein reines oder gereinigtes Mitleidempfinden. Dem Bewirken eines Mitleidsempfinden wohnt somit auch inne, richtiges und angemessenes Mitleid zu empfinden und es nicht mehr zu empfinden, wenn es nicht mehr angemessen ist.

Gleiches kann auch für das Fuchtempfinden festgehalten werden. In dem Drama wird Philoktet gezeigt, wie er nach dem Handlungsumschwung fürchtet, dass er Ruhm und Ehre verliert, wenn er trotz des Betruges mit nach Troja fährt. Die Dramenhandlung hat geschickterweise aber zu Beginn des Dramas gezeigt, welches die eigentlichen Ziele Philoktets sind und dass Philoktet diese nur über eine Mitfahrt nach Troja realisieren könnte. Die Anlage dieser Handlung verfügt nun über das Potenzial, dass der Zuschauer fürchtet, dass Philoktet aufgrund der Fixierung seines Blicks auf das erlittene Unrecht, die Möglichkeit, alle seine Ziele mit der Mitfahrt nach Troja zu erlangen, völlig aus dem Blick verliert und somit sich selbst und der Gemeinschaft schaden wird. Der Zuschauer kann damit beim unmittelbaren Mitverfolgen der Handlung erfahren, was wahrhaft zu fürchten ist: nämlich die Aufgabe der eigentlichen Ziele aufgrund der temporären Verblendung durch einen Affekt. Dass Philoktets Affekt in dem Drama so lange plausibel, nachvollziehbar und gerechtfertigt erscheint, ist Teil der Tragik nach diesem alternativen Deutungskonzept.

Ferner beinhalten Aristoteles’ Ausführungen in der Poetik (Kap. 15, 1454a16ff.), dass die dargestellten Charaktere gleich sein sollen. Wenn wir Aristoteles’ umfangreichen Darstellungen der Gefühle in der Rhetorik folgen (v. a. Rhetorik, 1387b26–28), beinhaltet ,gleich‘ u. a. dass die Charaktere eine Gleichheit im ihrem in der charakterlichen Disposition (ἕξις) begründeten Streben – und d. h. auch in ihren subjektiven Zielen – zu den Rezipienten aufweisen. Auch dies scheint, wie im ersten Teil dieses Beitrags ausgeführt wurde, im Falle des Philoktet gegeben zu sein. In den Zielen Philoktets dürften die Menschen, die in den gesellschaftlichen Wirren vor 409 v. Chr. aus der Polis ausgeschlossen waren, eine Ähnlichkeit finden. In den Bestrebungen des Neoptolemos können die jungen Epheben Entsprechungen zu ihren eigenen Zielen finden. In den Idealen des Odysseus dürften womöglich die Entscheidungsträger der bevorstehenden Expedition des Thrasyllos Ähnlichkeiten zu den eigenen finden.

Und schließlich und endlich beinhaltet die für Aristoteles schönste Form der Tragödie u. a. auch ein gutes Ende (s. Poetik, Kap. 13, 1452a22–39).24  Warum dies für Aristoteles die schönste Form der Tragödie ist, kann vielleicht auch der Philoktet des Sophokles zeigen. Denn Sophokles führt den Anwesenden im Theater in seinem Philoktet nicht nur vor Augen, welche Motive zum Scheitern führen, sondern auch, wie der einzelne Mensch das Scheitern vermeiden kann, wie er von seiner Verantwortung für seine Affekte richtigen Gebrauch macht und wie er sich letztlich nicht in Schuld an einem Scheitern seiner Ziele und der Ziele der Gemeinschaft verstrickt.

Ein Beachtung und Berücksichtigung von Aristoteles’ zeitnahen Blick auf die attische Tragödie mag demnach besonders dann beachtenswert sein, wenn der politische und gesellschaftliche Hintergrund der Tragödienaufführung mit beachtet wird. In diesem Fall ist durchaus zu erwägen, dass Sophokles das Individuum nicht in jeglicher Hinsicht aus seiner subjektiven Verantwortung für das mögliche Scheitern seines Handelns nimmt und es auch nicht aus der subjektiven Schuld für sein Scheitern entlässt. Es mag zumindest bedacht werden, dass dieser Deutungsalternative zufolge, die Aristoteles’ Ansatz bietet, Sophokles und die Autoren der attischen Tragödie den Menschen Motive für die Art eines Scheiterns eines Handelns, für das sie selbst verantwortlich sind, vor Augen führen wollten, damit sie selbst ein solches Scheitern aus einer affektiven Verblendung heraus vermeiden. Aus dieser Perspektive scheint es naheliegend, dass die Dichter auch einen Dienst für die Gesellschaft verrichteten, indem sie den Menschen bei einem öffentlichen Anlass nicht aus der subjektiven Schuld für viele Fälle des Scheiterns lösten, sondern genau die Momente vorhielten, in denen ihre Verantwortung für das eigene Verhalten und für ein erfolgreiches Zusammenleben in der Polis besondere Wichtigkeit erlangte.