Arinda Crˇaciun (Illustration), Carsten Aermes (Grafik und Buchgestaltung), Susanna & Johannes Rieder (Text und Konzeption): Hunde im Futur. Eine Grammatik in Bildern. 128 Seiten, durchgehend farbig illustriert, mit gefalzten und ausklappbaren Seiten, Format: 20,5 × 24,5 cm, € 25,00, ISBN 978-3-948410-21-6

Den Titel „Hunde im Futur” finde ich pfiffig, auch wenn Hunde bekanntlich gar nicht im Futur stehen können, was junge Leser in diesem Bilderbuch leicht mitbekommen werden. Der Titel gibt einen willkommenen Anlass zum Gespräch über die Anfangsgründe der deutschen Grammatik, über die vier Kasus, über Numerus und Genus, über die Artikel, Adjektive, Pronomina, Verben und die Tempora (einschließlich Futur II), die Modi und Genera Verbi, Adverb und Satzglieder plus die Satzarten Aussagesatz, Ausrufesatz und Fragesatz - ein volles Programm, empfohlen für clevere Kinder ab 8 Jahren.
Auch wenn die Sprachbildung mit Bilderbüchern seit Comenius ein immer wieder neu entdecktes Thema ist (Lernen soll „wie ein Spiel und kurzweilig vor sich gehen”) , eine Grammatik in Bildern ist mir als Thema für ein Bilderbuch bislang noch nicht untergekommen, auch wenn wir alle vor Augen haben, dass die Lateingrammatiken der letzten Jahrzehnte mit Farben, Symbolen, Markierungen und allerhand visuellen Hilfen arbeiten, von Bilderbüchern sind sie allerdings noch weit entfernt. Die Grammatik in Bildern beginnt dort, wo eine klassische Schulgrammatik aufhört und vermittelt intuitiv die grammatikalischen Grundbegriffe durch Illustration und Buchgestaltung; das ist die Idee von Susanna und Johannes Rieder. Übersichten und Tabellen, die ja überall leicht nachzuschlagen sind, sind bewusst nicht enthalten, sondern höchstens angedeutet, etwa bei der Konjugation von Verben im Ind. Praesens. Der Inhalt orientiert sich am Basiswissen, das für alle Schularten relevant ist. Dabei wird weniger Wert auf abschließende Vollständigkeit als vielmehr auf Inspiration und vertieftes Verständnis gelegt, so die Autoren.
Als erstes fiel mir - Lateinlehrer, der ich bin - auf, dass die beiden Autoren die lateinischen Termini verwenden (was in Berlin bei den meisten Grundschulen arg verpönt ist und wenn, dann werden z.B. als Nomina unsachgemäß ausschließlich Substantive bezeichnet) und sogar lateinische Erklärungen angegeben werden. Zum Terminus Präposition: „Prae bedeutet auf Lateinisch vor, das Wort ponere bedeutet setzen. Eine Präposition steht also fast immer vor dem Wort, auf das es sich bezieht.” Lateinische Erläuterungen auch für die Namen der einzelnen Pronomina: demonstrare, possedere (sic!), indefinitum, interrogare werden dazu bemüht. Komplizierter die Erklärung des Passivs als Leideform („pati heißt auf Lateinisch leiden oder erdulden”), wobei der Begriff aber trotzdem irreführend sei, schließlich gebe es ganz viele Handlungen im Passiv, die überhaupt nichts mit Leiden zu tun hätten. – Aber das sind Finessen und ich weiß, dass Kinder oftmals ein besonderes Interesse an schwierigen Bezeichnungen haben und sich die exotischen Namen z.B. von Stilmitteln (z.B. Alliteration, Oxymoron, Chiasmus, Homoioteleuton usw.) vielfach hartnäckig merken.
Dieses Wissen haben die beiden Autoren und Verlagschefs des Münchner Susanna Rieder Verlags wohl aus ihren Begegnungen mit dem Lateinunterricht. Susanna Rieder betont ausdrücklich, dass Sie reichlich Erfahrungen als jugendliche Pädagogin gesammelt habe (sie „konnte ihre Passion für grammatikalische Zusammenhänge als Nachhilfelehrerin ihres Bruders ausleben”) und ihr solch ein Bilderbuch ganz besonders am Herzen gelegen sei: „Diese Grammatik in Bildern bietet einen sinnlich-haptischen Zugang zu den grammatikalischen Grundbegriffen. Den Lernenden soll die Angst vor dem oft als starr und langweilig empfundenen Regelwerk genommen werden. Die grammatikalischen Phänomene werden durch die Illustrationen und die Buchgestaltung so dargestellt, dass die Erklärungen mit so wenig Text wie möglich auskommen.” (Hier können die Macher von Grammatiken für den LU die ein oder andere Kritik einer erfahrenen Praktikerin heraushören!)
Der didaktisch-methodische Ansatz dieses Buches liegt in den Illustrationen, im Schriftbild, in der Farbgebung und im Seitenklappmechanismus. Jede rechte Seite nennt das Thema; bei den vier Fällen heißt es etwa: „Ich rufe die Großmutter an.” Links ist zu lesen: „Wen oder was rufe ich an?” Bei den Akkusativen wird jeweils eine größere Schrifttype verwendet. Klappt man die rechte Seite auf, so erfährt der Leser: „4. Fall. Akkusativ” und die Formen des Akk. Singular und Plural von Großmutter, Großvater und Stiefmütterchen (Neutrum, weil Verkleinerungsform, war schon zu lernen),
Die Futur I-Seite finde ich besonders beispielhaft und gelungen. Auf der entsprechenden Doppelseite steht die Neugier weckend: „Hier entsteht eine Hundeschule”. Zweifach aufgeklappt findet man knappe Informationen zu Futur I und Futur II. Der Leser dürfte aber primär seinen Blick schweifen lassen über eine Reihe von Hunden in Aktion mit einzelnen Sätzen im Futur, die durchaus mit Humor formuliert sind, so träumt ein Dalmatiner „Morgen gehe ich nicht in die Hundeschule” mit dem Kommentar: „In der gesprochenen Sprache verwendet man statt des Futurs meistens einfach Präsens, auch wenn man über etwas spricht, das eigentlich in der Zukunft liegt.”
Zwischen den Seiten kann der junge Leser/die junge Leserin vielerlei erfahren, etwa dass man aus Verben auch Adjektive bilden kann, dass es den unbestimmten Artikel nur im Singular gibt, dass es ein natürliches und ein grammatikalisches Geschlecht gibt, dass der Konjunktiv zeigt, was alles möglich ist, dass Konjunktionen sich wie Gelenke verhalten, alles AHA-Erlebnisse für diejenigen, die zu ihrer Aufnahme bereit sind.
Die Freude der Verleger und Verlagsmitarbeiter über das Erscheinen des 128 Seiten (auf eine Seitenzählung wurde verzichtet) starken Buches ist gut nachvollziehbar: „Unser Frühjahrstitel Hunde im Futur ist nun endlich da, aus der großartigen Druckerei Società Editoriale Grafiche AZ bei Verona, die mit viel Liebe und Getüftel den komplizierten Seitenklappmechanismus zum Laufen gebracht haben.” Für diesen zeichnet Carsten Aermes verantwortlich, mit den Illustrationen begeht Arinda Grˇaciun, geboren im rumänischen Bras¸ov, ihr Bilderbuchdebüt. Beide leben und arbeiten seit vielen Jahren in Berlin.
Andreas Platthaus nennt Hunde im Futur in der FAZ eine ebenso ungewöhnliche wie überfällige Grammatikfibel: „Überfällig, weil überall in den Familien Klagen über Sprachverfall in den Schulen zu hören sind. Welches Kind wüsste denn heute noch, was ein Adverb ist, welches in Konjunktiv oder Plusquamperfekt zu sprechen? ... Dass korrekter Sprachgebrauch immer noch ein Aufstiegs- und Machtinstrument darstellt, wird gar nicht geleugnet, aber das Wissen darum scheint zu einer pädagogischen Haltung beizutragen, die lieber alle gleich schlecht ausgebildet sehen will als alle gleichgut. Das ist ja auch bequemer. Es ist allerdings auch kontraproduktiv, denn wer wohlsituiert aufwächst, wird leichter kompensiert bekommen, was ihm die Schule vorenthält. Die Dummen bleiben die Schlechtergestellten. Grammatikkenntnisse sind von sozialpolitischer Bedeutung” (FAZ 26.4.2021, S. 10).
Pseudo-Oppian, Kynegetika, Griechisch – deutsch, Sammlung Tusculum, herausgegeben von Stephan Renker, De Gruyter Berlin 2021, 217 Seiten, ISBN: 9783110657418, 39,95 €

Stephan Renker ist als DAAD-Lecturer an der German Faculty of Shanghai International Studies University tätig. Erste Überlegungen zu Theorie und Praxis des Vorhabens, das zu dieser zweisprachigen Ausgabe der Kynegetika des Ps.-Oppian führten, präsentierte er 2017 anlässlich der XXII. Aquilonia an der Universität Hamburg. Das Ergebnis ist die erste vollständige deutsche Übersetzung der Kynegetika – eines Lehrgedichts über die Jagd - seit über 250 Jahren.
Die erste und einzige vollständige Übersetzung stammt von Samuel Heinrich Lieberkühn, einem Prediger aus der Herrnhuter Brüdergemeinde, aus dem Jahr 1755. Er scheint, so St. Renker, mit seinem Werk wenig zufrieden gewesen zu sein, wenn er schreibt: „Was nun die Uebersetzung betrift, so gestehe ich sehr gern, daß sie mir sauer geworden ist. Die Menge ungewöhnlicher Wörter, und der bei der Jagd gebrauchten Ausdrücke und Redensarten, können uns im griechischen schon einigermaßen in Verwirrung setzen" (S. 16). Überhaupt sei ihm „alles gleichgültig ..., was man davon sagen" werde, sodass er auch „nicht aus der Haut fahren" werde, „wenn die Welt auf seine Schriften schimpfen werde". Eine zweite Übersetzung der Kynegetika stammt von Max Miller aus dem Jahr 1885. Als Lehrer publizierte er in den Schulprogrammen seiner jeweiligen Gymnasien, zunächst an der Königlichen Studienanstalt Amberg, später am Königlichen Luitpold-Gymnasium München (wo zu dieser Zeit Albert Einstein Schüler war, dessen Namen die Schule seit 1965 trägt). Lieberkühns Übersetzung war recht frei, fast schon eine Nachdichtung und durchgehend im Paarreim gehalten, Millers (unvollständige) Übersetzung hielt sich eng an den Wortlaut des Originals. Stephan Renker bietet in Anlehnung an die drei Übersetzungsmaximen Wolfgang Schadewaldts (S. 36f.) eine moderne, zielsprachig orientierte und damit flüssig lesbare Übersetzung. Die Ausgabe enthält den griechischen Text der maßgeblichen Ausgabe von Manolis Papathomopoulos, eine ausführliche Hinführung zu Gattung, einen großen Abschnitt zur literarischen Geschichte der Jagd im antiken Griechenland, Angaben zu Autor und Werk sowie umfangreiche erläuternde Anmerkungen. Den Band beschließt eine reichhaltige Bibliographie.
Die Identität des Autors ist weiterhin ein ungelöstes Problem. Erster Satz des Buches: „Wer die Kynegetica verfasst hat, ist unklar". Nun, es gibt einen Dichter namens Oppian, über den vier Viten berichten mit einigen hübschen Anekdoten. Dann gibt es unter dem Namen Oppian zwei Lehrgedichte, die aus fünf Büchern bestehenden Halieutika / Über den Fischfang und die aus vier Büchern bestehenden Kynegetika / Über die Jagd. Textinterne Argumente sprechen für die Identifizierung von zwei unterschiedlichen Dichtern als Autoren der beiden Werke. Oppian, der Halieutiker, wird auch als Oppian der Ältere oder Oppianus Ciliciensis oder Anazarbensis genannt, während Oppian, der Kynegetiker, als der Jüngere oder Oppianus Apameensis, bezeichnet wird. Zur Datierung beider Texte hat mein Lehrer an der Uni Regensburg wesentlich beigetragen. Fritz Fajen - 1965 bei Ernst Heitsch promoviert und mit ihm 1967 von Göttingen an die Donau berufen – datiert (S. 13) die Halieutika in die Jahre 176–178, womit sie 35 Jahre älter sind als die Kynegetika.
In dem vier Bücher und insgesamt circa 2200 Hexameterverse umfassenden Lehrgedicht aus dem frühen dritten Jahrhundert berichtet uns der griechisch schreibende Oppianus Apameensis in unterhaltsamer Weise über verschiedene Aspekte der Jagd. So lesen wir von der Aufzucht von Jagdpferden und -hunden, den unterschiedlichen Arten pflanzen- und fleischfressender Tiere sowie von einfallsreichen Jagdmethoden. Der Leser erfährt die Namen vieler Pferde- und Hunderassen und ihre unterschiedlich ausgebildeten Fähigkeiten. Sollten Sie einmal in die Lage kommen, wilde Leoparden jagen zu müssen, nutzen sie Oppians Trick mit süßem Wein (IV 320ff):
Sie ... trinken mit ihren Lippen
den dionysischen Wein und tollen anfangs
Tänzern ähnelnd alle untereinander umher.
Darauf aber werden ihre Körper schwer und auf die göttliche Erde
neigen sie ruhig ihre Köpfe. Und alle wirft
ein mächtiger Schlummer zu Boden, den einen hier, den andern dort.
Wie wenn bei einem Gelage, wenn Krüge geleert werden,
gleichaltrige Jugendliche, denen eben der erste Bart wächst,
lieblich singen, sich gegenseitig nach dem Abendessen
herausfordern mit wechselnden Bechern,
erst spät aufhören, es den einen hierhin, den andern dorthin wirft
und die Kraft des Weines ihnen Verstand und Augen beschwert,
so taumeln jene äußerst wilden Tiere übereinander
und werden ohne große Mühe zur Beute der Jäger.
Massimo Osanna, Pompeji. Das neue Bild der untergegangenen Stadt, wbg Philipp von Zabern (Verlag) Darmstadt, mit etwa 200 Abb. s/w und farbig, Bibliographie, 412 Seiten, 2021, ISBN 978-3-8053-5274-1, 50,00 € (40,00 € für Mitglieder)

Ein Pompeji-Buch über die spektakulären Entdeckungen der letzten Jahre, über Fresken wie das berühmte Bild von Leda (vgl. Cover) und dem Schwan, das 2018 gefunden wurde; über prächtige Mosaiken wie im Haus des Orion, über Gemälde, Graffiti, Architektur, die hier zum ersten Mal in Buchform publiziert werden – zudem mit vielen bislang unveröffentlichten Bildern. Autor ist Massimo Osanna. Von 2009 bis 2014 leitete er die Spezialschule für Archäologie in Matera, übernahm diverse Gastprofessuren in Italien, Frankreich und Deutschland, u.a. in Heidelberg und Berlin, von 2014 bis 2020 leitete er die Archäologischen Parks von Pompeji, Herculaneum und Stabiae und seit Sommer 2020 ist er Generaldirektor der staatlichen Museen Italiens. Ihm unterstehen mehr als 500 staatliche Museen, Monumente und Ausgrabungsstätten.
Es ist Anfang November 2010. Kurz bevor sich die Tore öffnen und die Besucher hereinströmen, stürzt in Pompeji eines der berühmtesten Gebäude ein. Die Nachricht geht um die Welt, italienische und internationale Zeitungen prangern den Zustand der Vernachlässigung an, in dem sich das Flaggschiff des archäologischen Erbes in Italien befindet. Sie erinnern sich. Seitdem sind zehn Jahre vergangen, in denen Pompeji buchstäblich neu erstand. Massimo Osanna ist einer, wenn nicht der wichtigste Protagonist dieser „Auferstehung”. Wer könnte also besser als er durch die grandiosen Entdeckungen der letzten Jahre führen.
Spektakuläre Nachrichten aus Pompeji über außergewöhnliche Funde gab es seither in den vergangenen Jahren mehrfach; so berichtete Massimo Osanna vom Fund eines prächtigen Pferdes, gesattelt und aufgezäumt (also wohl zur Flucht vorbereitet), das man im einem Stall bei einer Villa in einem Vorort Pompejis neben den Überresten von zwei oder drei anderen Pferden gefunden habe. Das Gebäude soll einem bedeutenden militärischen Kommandeur gehört haben. In der Nähe des Stalls der antiken Villa Civita Giuliana wurde zudem ein vierrädriger Wagen entdeckt, der für Zeremonien wie Hochzeiten benutzt wurde. Er war reich geschmückt mit Eisenteilen, schönen Bronze- und Zinndekorationen und hat die Zeit fast unversehrt überstanden. Nachrichten über viele außergewöhnliche Entdeckungen, die unser Verständnis der antiken Welt voranbringen, findet der Leser in dem soeben erschienenen Pompeji-Buch von Massimo Osanna.
In der Grabungskampagne 2019 kam ein hervorragend erhaltenes Antefix aus samnitischer Zeit (Ende 4./Anfang 3. Jh. v. Chr,) ans Licht, das oberhalb einer Votiv- und Bauschuttgrube niedergelegt worden war. Für diese Epoche kann der Dekor des Daches rekonstruiert werden: Antefixe mit dem Haupt der Minerva wechselten sich mit solchen, auf denen das Haupt des Herkules dargestellt war, ab. Die Ikonographie Minervas mit phrygischem Helm war in der gesamten Region Kampanien weit verbreitet und somit ein typisches, ja unverwechselbar kampanisches Element.
Er beginnt im ersten von elf Kapiteln mit der Gründung Pompejis Ende des 7. Jahrhunderts, im 6. Jahrhundert war es eine richtige Stadt. Abgesehen von einer Rekonstruktion des frühen Straßennetzes weiß man wenig über die konkreten Orte des täglichen Lebens. Allerdings kennt man Heiligtümer dieser Zeit, ferner einen Befestigungsring , der seit dem 6. Jh. v. Chr. die 64 Hektar große Stadt umfasste. Die Frage nach den Ursprüngen Pompejis ist komplex, man muss mit Glück in großen Tiefen graben. Eine tragende Rolle wird seit Langem den Etruskern zugeschrieben. Pompeji war wahrscheinlich kein oskisches Zentrum, das von einheimischen Gemeinden (wie Nola oder Nuceria) unter Mitwirkung und Anregung von etruskischen Familien gelenkt wurde, sondern es war wohl tatsächlich eine etruskische Gründung (S. 20). Das belegen Aufschriften auf Gefäßen, die in Heiligtümern gefunden wurden und die in der ersten Person zum Betrachter „sprechen”: Mi mamarces tetanas – 'ich (gehöre) Mamarce Tetana'. Zu lesen auf einem Bucchero-Gefäß, eine typisch etruskische Keramikgattung mit einer schwarz glänzenden Oberfläche. Der Vorname Mamarce kommt noch auf zwei weiteren örtlichen Inschriften vor und begegnet im nördlichen Latium und Umbrien häufig, ebenso der Gentilname Tentana in (Nord-)Etrurien (59). Die Anfänge Pompejis werden von sprechenden Gefäßen begleitet, die eingeritzten Worte zeichnen dabei das Bild einer in Sprache und Kultur etruskischen Stadt, sie erzählen zudem eine ganze Menge über Menschen, ihre Herkunft, ihre Riten und die frühe Stadtgeschichte, davon handeln die ersten 75 Seiten.
Die umlaufende Porticus, die das Heiligtum am Foro Triangolare begrenzt, ist mit dorischen Säulen und einem in Metopen und Triglyphen untergliederten Architrav ausgeführt. Wegen des Stils und der architektonischen Ordnung wurde lange über den Zeitpunkt ihrer Errichtung diskutiert, der traditionell in hellenistische Zeit gesetzt wurde. Die jüngeren Ausgrabungen aber belegen einen Bau in der Zeit nach dem Erdbeben von 62 n. Chr. unter Verwendung älterer Bauelemente.
Mit Kapitel 3 kommt Massimo Osanna in die Zeit, als der Vesuv die Stadt verschüttete: „Straßen, Häuser, Läden: neue Erkenntnisse aus der Regio V” (77-122), wo sich im Vicolo dei Balconi eine Reihe von Häusern mit maeniana (maenianum = Balkon) erhalten haben und jenes Thermopolium, dessen Bilder kürzlich um die Welt gingen (vgl. Farbabbildung 29). Die Ergebnisse neuer Grabungen werden hier erstmals vorgestellt. Der Leser durchschreitet Straßen und Gebäude und wird dabei vom (vormaligen) Leiter des Archäologischen Parks von Pompeji persönlich aufmerksam gemacht auf Stuckdekoration und Fassadenverkleidung, Graffiti an den Wänden innen und Wahlaufrufe draussen, auf die Raumaufteilung in der Casa di Orione, die Belegung der einzelnen cubicula, Küchenausstattung, Fußbodenbeläge und Umbauten; es geht um die Klinen im Triclinium und deren Besetzung, „üblicherweise drei Personen (manchmal auch nur zwei, wie es in vielen bildlichen Darstellungen der Fall ist, besonders wenn die Atmosphäre aufgeheizt und das Bankett ausschweifender wurde)” (102), um das Interior Design und die unterschiedlichen Pompejanischen Stile. „Die Orion-Mosaike: Bilder durch die Sterne deuten” stehen im Zentrum von Kapitel 4. „Hier zeigt sich der unermüdliche Wunsch der Eigentümer, das Alte zu bewahren, indem man es restaurierte. In den wichtigsten Räumen des Hauses wurde, wie wir schon gesehen haben, eine Dekoration belassen, die auf das 2. Jh. v. Chr. zurückgeht, eine Epoche, die gern als das 'goldene Jahrhundert' von Pompeji bezeichnet wird. Kurz gesagt, wir haben hier eine Art Archäologie der Archäologie” (123). Viele Fragen wirft die Gestalt des Orion auf und die Darstellung einer einzigartigen Tierwelt, bestehend aus Haus-, Wild- und regelrechten Fantasietieren, gestaffelt auf mehrere Ebenen hintereinander, die M. Osanna sorgfältig beschreibt und kenntnisreich deutet als ein Unikum im Reigen mythologischer Oriongeschichten.
Neben der Eingangstür in die Casa di Orione kam ein in roten Lettern geschriebener Wahlaufruf zum Vorschein. Er nennt den Namen des Celsus, der als Ädil kandidierte. Die Abkürzung unter dem Namen kehrt in vielen dieser tituli picti wieder, mit denen für die Wahl einer bestimmten Person geworben wurde.
Mit Pompeji verbinden wir den Begriff Graffiti in seinen vielfältigen Ausprägungen; darum geht es in Kapitel 5 (153–177). „Viele Texte beeindrucken mit einer solchen Menschlichkeit, wie sie uns in dieser 'Flaschenpost' vom Untergang Pompejis erreicht, sowie dadurch, dass sie in direkter und vertrauter Weise ewig Aktuelles, Zeitloses thematisieren wie Liebe, Freundschaft, Sehnsucht, Wut, Dreistigkeit, Sexualität in jedem Sinne. Und auch Zitate von Dichtern, auswendig gelernte Verse, Stilübungen fleißiger Schüler, die stolz ihre literarische Bildung zur Schau stellten” (155). (Der erste Vers des ersten Buch der Aeneis ist nicht weniger als siebzehnmal auf den Wänden Pompejis zu finden!). M. Osanna nimmt dabei nur die Casa del Giardino in den Blick („Auch im Atrium reißen die Überraschungen nicht ab. Die Wände dieses Raumes sind regelrecht von Inschriften, Zeichnungen und Karikaturen übersät” S. 168), dort fand man in einem Raum, der wohl nur zeitweise benutzt wurde, eine auf Augenhöhe mit Zeichenkohle geschriebene Notiz, welche „der Vermutung Nahrung gibt, der Vesuvausbruch habe sich nicht im Sommer (am 24. August) ereignet, sondern erst im Herbst (Oktober? November?)” (168). In einem cubiculum, in dem Umbauarbeiten stattfanden, war zu lesen: XXVI K NOV IN OLEARIA / PROMA SUMSERUNT (...) – Am sechzehnten Tag vor den Kalenden des November haben (...) in der Vorratskammer für Öl (...) genommen. Osanna diskutiert die Lesung der Inschrift und ihre Interpretation und schließt sich dem Befund als lectio facilior an (172).
Ein spektakulärer Fund steht im Mittelpunkt des 8. Kapitels (217-248), nämlich „die längste Inschrift Pompejis”, die über vier Meter reicht und sich auf sieben Zeilen erstreckt (223ff.), offensichtlich ein ganz besonderes Grabmal. Der Text berichtet von den Taten des Grabherren und den wichtigsten Momenten seines Lebens, vom Anlegen der Toga virilis, die seine Volljährigkeit und den Eintritt in die Bürgergemeinschaft symbolisierte, über seine Hochzeit bis hin zu Handlungen, die seine Großzügigkeit unterstreichen sollten. So veranstaltete er ein öffentliches Bankett (mit 456 Triklinien zu je 15 Speisenden, also für 6840 eingeladene Vollbürger der Stadt; vgl. S. 226), Gladiatorenspiele und Tierhatzen, verteilte verbilligten Weizen und kostenloses Brot, spendete Geld an Dekurionen und Magistrate und anderes mehr. Die ausgesprochen spannend zu lesenden archäologisch-historischen Erläuterungen des Autor führen zur Feststellung, dass die in der Inschrift erwähnte große Anzahl von Spielen kurz vor den schicksalhaften Ereignissen im Jahr 59 n.Chr. stattgefunden haben; gemeint ist die Massenschlägerei im Amphitheater, die zu drastischen Maßnahmen des Kaisers führten. Osanna schreibt dazu: „Meines Erachtens wirft die Inschrift ein neues Licht auf einen kritischen Moment in der Geschichte der Vesuvstadt. Sie lässt vor unseren Augen das Szenario einer düsteren, von Tacitus nicht weiter ausgeführten Intrige entstehen, die schließlich zur Verbannung der beiden Duumvirn führte” (225). Nach vielen Seiten lebhaften Diskurses stellt M. Osanna schließlich die Frage nach der Identität des Grabherrn; ins Spiel kommt dabei ein 1843 an der Porta di Stabia gefundenes Relief im Archäologischen Museum von Neapel, das die üblichen drei Phasen von Gladiatorenspielen zeigt, als Teil des neu gefundenen Grabs. Nach Darstellung mehrerer Argumentationsstränge fällt der Name Gnaeus Alleius Nigidius Maius (wenn ich mich recht erinnere, war das eine Person, die in einem von mir lange benutzten Lateinlehrbuch eine gewichtige Rolle spielte). Über ihn berichten zahlreiche tituli, Wandinschriften aus Pompeji, mit vielen Informationen über diese öffentliche Person, und weitere Funde, Massimo Osanna breitet die archäologischen Erkenntnisse über die brilliante Karriere dieses Mannes detailliert aus, der als eine der bekanntesten Politiker-Persönlichkeiten der Stadt gilt.
Die letzten drei Kapitel des Buches, nicht weniger lesenswert als die bislang beschriebenen und als Basiswissen zu Pompeji unentbehrlich, nehmen die „Stratigrafie einer Katastrophe„ in den Blick, also den minutiösen Ablauf, wie er sich aus den vulkanischen Befunden ergibt; sodann geht der Autor der genialen Idee Giuseppe Fiorellis nach, seit 1860 Grabungsinspektor, der die bei den Ausgrabungen entdeckten Hohlräume mit Gips ausgoß, um einen Abguss der ganzen Person zu erhalten. Auch die bei diesem Vorgehen generierten Figuren von Menschen und Tieren haben ihre wechselhafte Geschichte, die G. Fiorelli lebhaft beschrieb: „Die Archäologie ist nun nicht mehr nur auf die Marmor- oder Bronzestatuen der Alten angewiesen, sondern kann ihre Leichname studieren, die nach achtzehn Jahrhunderten des Vergessens dem Tode entrissen wurden” (300).
Die zahlreichen wilden Tiere, die hier von jemandem festgehalten werden, der sie eingefangen hat, sind ungewöhnlich und für uns etwas Neues. Die Tiere überlagern einander in der Darstellung zum Teil und verschmelzen fast schon zu einer nicht mehr bestimmbaren Mischung aus realen und Fabeltieren.
Kapitel 11 (303–345) könnte auch am Anfang des Buches stehen, vielleicht ist es in dem einen oder anderen Fall auch zu empfehlen, damit die Lektüre des Buches zu beginnen, weil es die unter dem Titel „Das zweite Leben Pompejis” die lange Geschichte der Ausgrabungen schildert, welche die Geschichte der Klassischen Archäologie verändern und so großen Einfluss auf die europäische Kultur haben sollte. Das Kapitel beginnt mit dem Bericht des Militäringenieurs Roque Joaquin de Alcubierre an Karl III., König von Neapel, mit der Bitte ein neues Gebiet namens Civita di Torre Annunziata erforschen zu dürfen, und dem Beginn der offiziellen Ausgrabungen 1748. Die Funde, so radikal sie der Erde auch abgerungen waren, zeigten dem Rest Europas einen Ort, an dem die Zeit keine Bedeutung zu haben schien und die Vergangenheit wieder lebendig wurde. Die Intellektuellen der Aufklärung stritten über die notwendige Ausrichtung der Forschungen, die europäische Kultur begeisterte sich für Pompeji. Osannas Exkurs in die Anfänge reicht bis in Heute, speziell vom Einsturz der Schola Armaturarum bis zum Grande Progetto Pompei (317ff). Das Grande Progetto lief zwar Ende 2019 aus, aber in Pompeji ist damit eine neue Ära angebrochen.
Fresco aus der Casa del Poeta Tragico (heute im Archäologischen Nationalmuseum in Neapel): vielleicht die Kopie eines berühmten Gemäldes des griechischen Malers Timanthes. Iphigenie wird von Odysseus und Diomedes zum Priester Kalchas getragen, der sie opfern wird. Iphigenies erschütterter Vater, Agamemnon, bedeckt sien Gesicht mit Hand und Schleier und lässt den Zuschauer sein Leid nur erahnen.
Eine neue Ära verlangt auch ein ganz neue Betrachtung von Pompeji. Osanna ist ein Buch gelungen, in dem das alltägliche Leben der Römer vor der Katastrophe ebenso thematisiert wird wie die Probleme des modernen Denkmalschutzes. Zur Sicherung der einzigartigen Stadt stellte die EU 105 Millionen Euro bereit, Geld, das es vorher in dieser Dimension für Pompeji nicht gegeben hatte, was auch der Grund dafür war, dass man die nun seit über 250 Jahren nach und nach ausgegrabenen Gebäude nicht ausreichend sichern konnte. Osanna kann aber nicht nur von Sanierungsarbeiten erzählen. Die seit 2010 initiierten Sicherungsarbeiten betrafen auch einige Straßenzüge am Rand der bisherigen Ausgrabungen. Und dort stieß man auf einige Überraschungen, die nicht nur Osanna begeisterten. Und von diesen Überraschungen erzählt er sehr ausführlich und lässt seine Leserinnen und Leser miterleben, dass Archäologie eine richtige Detektivarbeit ist, in der man aus winzigen Spuren, Fragmenten, Inschriften, Bildern und verbrannten Resten das Leben einer ganz und gar nicht so unbedeutenden römischen Stadt im 1. JahrhundIn der Casa di Leda; Blick vom Schlafzimmer zum Atrium hin. In der Schlafzimmern Pompejis sind solche erotischen Darstellungen nichts Außergewöhnliches, denn die Einwohner haben gern Bildmotive ausgewählt, deren Botschaft zur Raumfunktion passte. kann.
So wird sein Buch tatsächlich zu einer ganz persönlichen Bilanz dieser zehn Jahre, die nicht nur den Bestand Pompejis für die nächsten Jahre gesichert, sondern die wissenschaftliche Welt auch mit vielen neuen Entdeckungen bereichert haben, die das Bild einer römischen Stadt der Antike lebendig werden lassen.
Hermann Parzinger, Verdammt und vernichtet. Kulturzerstörungen vom Alten Orient bis zur Gegenwart, Verlag C. H. Beck, München 2021, 358 Seiten, mit 47 Abbildungen, ISBN 978-3-406-76484-4, 29,95 €

Immer wenn ich im Unterricht der Oberstufe mit meinen Schülerinnen und Schülern Ciceros Verresrede gelesen habe und die Rede auf die Kunstraubzüge jenes Prätors mit Sitz in Syrakus kam, habe ich - um das Blickfeld auf das sonst wohl im schulischen Unterricht nicht weiter vertiefte Thema Kunstraub zu erweitern - einen spannenden, in schwarz-weiß gedrehten Film aus dem Jahr 1964 gezeigt: Der Zug (1966 für einen Oscar in der Kategorie Bestes Original-Drehbuch nominiert) schildert die Bemühungen von Mitgliedern der Résistance, einen mit entwendeten Kunstwerken beladenen Zug der deutschen Wehrmacht aufzuhalten.
Mademoiselle Villard, Kuratorin in der Galerie nationale du Jeu de Paume, beauftragt Paul Labiche, Mitarbeiter der französischen Eisenbahngesellschaft und Mitglied der Résistance, diesen Transport mit allen Mitteln bis zum Eintreffen der Alliierten zu verzögern. Die Notwendigkeit dieser Maßnahme begründet sie damit, dass die ”Seele der französischen Nation” in diesen Kunstwerken ruhe. Labiche engagiert den erfahrenen Lokomotivführer Papa Boule, der zwar keinen Kontakt zur Résistance hat, aber den Verlust der Kunstwerke - ”den Ruhm Frankreichs”, so seine Formulierung einem Kollegen gegenüber - dennoch verhindern möchte. - Große Kunst kann identitätsstiftend sein, das zeigt dieser Film, das betonte schon Cicero in seiner Rede gegen Verres und das konstatiert auch Hermann Parzinger in seinem jüngsten Buch Verdammt und vernichtet. Kulturzerstörungen vom Alten Orient bis zur Gegenwart (C. H. Beck 2021) und bietet eine Fülle von Material aus mehreren tausend Jahren überwiegend europäischer Geschichte.
Die Grenzen zwischen Kunstraub und Kulturvernichtung sind fließend, auch die Beweggründe sind vielfach recht verschieden: Geltungssucht, Strafe, Rache, politischer Vernichtungswille oder religiöser Eifer (S. 19). Und Kulturzerstörung ist keine Erfindung der Gegenwart. Sie zieht sich wie ein blutiges Band durch die Jahrtausende. Hermann Parzinger schreitet die Horizonte der Barbarei ab, erzählt die Geschichte vernichteter Kulturschätze und hält ein fulminantes Plädoyer für den Schutz des Menschheitserbes und der künstlerischen Freiheit. Seine Tour d´Horizont führt ihn von der Tilgung der Erinnerung im Alten Ägypten und den Großreichen Mesopotamiens über die Zerstörung des Tempels von Jerusalem durch die Römer im Jahr 70 n. Chr.; Herostrat und Nero, der Brand der Bibliothek von Alexandria, die Praxis der damnatio memoriae, die Verwüstung Korinths und Karthagos oder von Persepolis sind erste Stichworte. Auch die Plünderung Roms 410 durch die Westgoten unter Alarich führt Hermann Parzinger an, „was so etwas wie den '11. September' der Spätantike darstellte, der den Verfall für jedermann sichtbar machte und eine Zeitenwende historischer Größenordnung markierte” (S. 24). Die Zerstörung des Serapeums in Alexandria (47ff.) ist solch ein Datum, Anzeichen für die extreme Polarisierung zwischen Christen und Heiden. Im Kapitel Tempelzerstörungen von Konstantin bis Justinian zeigt Parzinger, „dass die Angriffe auf Tempel in ganz erheblichen Maße mit Raub und Vermögensumverteilung verbunden waren” (57) und „eine vorgeschobene religiöse Purifikation Hand in Hand mit einer maßlosen Bereicherung” (59) ging.
Der Gang durch die Geschichte der Kulturzerstörung geht weiter durch die Bilderstürme in byzantinischer Zeit, im Zeitalter der Reformation und der französischen Revolution. „Faktum ist jedenfalls, dass der byzantinische Bilderstreit zwar einen bildtheologischen Konflikt als Ausgangspunkt hatte, es aber nicht primär um Bilder ging, sondern im Kern um den 'toten' Reichtum in Kirchen- und Klosterhand” (75). In reformatorischer Zeit war der theologisch begründete Kampf gegen die Bilder und gegen den angeblich darauf sich begründenden Götzendienst der Ausgangspunkt, sehr schnell aber wurde daraus eine handfeste Auseinandersetzung um Vermögen, Macht und wirtschaftliche ebenso wie politische Interessen. Im Einzugsbereich der Reformatoren wurde der Machtapparat der katholischen Kirche ausgeschaltet und mit der Säkularisierung von Kirchen- und Klostergütern ergab sich ein enormer Zugewinn an wirtschaftlicher Macht und politischer Herrschaft (108). Das sechste der elf großen Kapitel gilt der Zeit der französischen Revolution. Diese bildete auch einen Wendepunkt in der Geschichte der Kulturzerstörungen. „Waren die Bilderstürme des Mittelalters und der frühen Neuzeit nämlich noch religiös motiviert und von der Sorge um das Seelenheil und den wahren Glauben getrieben, so wurde die Vernichtung von Kunst- und Kulturgütern während der Revolutionsjahre zum ersten Mal von einer säkularen Kulturideologie getragen; nur der Sieg des Fortschritts zählte”(120). 1794 hielt der Bischof von Bois, Henri Grégoire, vor der französischen Nationalversammlung drei berühmte Reden, in denen er sich heftig gegen die Kunstzerstörungen der Französischen Revolution wandte und dabei als erster den Begriff 'Vandalismus' in die Debatte einführte. Es ist bekannt, dass 1793 und 1794 wertvolle Gegenstände aus den königlichen Schlössern Versailles, Fontainebleau und anderen in zahllosen Auktionen verkauft wurden, sogar mit Hilfe von Anzeigen in holländischen, englischen und italienischen Zeitungen, in denen man auf einen günstigen Wechselkurs und die einmalige Gelegenheit hinwies (125). Der englische Hochadel schickte regelrechte Agenten zum Großeinkauf auf Auktionen nach Frankreich, und die damals dort erworbenen Bilder und Möbel zieren noch heute nicht nur den Buckingham Palace und Schloss Windsor; auch in den Palästen der russischen Zaren in und um St. Petersburg findet sich der Niederschlag des Ausverkaufs. Ein Umdenken in dieser Praxis führte schließlich zur Verstaatlichung des Kunstbesitzes und wurde damit quasi zur Geburtsstunde des Museums in Frankreich. Der Bildersturm der Französischen Revolution wurde gewissermaßen mit Hilfe administrativer Mechanismen kanalisiert und institutionalisiert, eine Entwicklung, an deren Ende das Museum stand (130): 1793 erfolgten die Eröffnung des „Muséum Central” im Louvre und im Schloss Versailles wurde ein „Museum der französischen Schule” eingerichtet, das 1794 bereits weit über 1000 Gemälde umfasste. Diese neue Wertschätzung der Kunst beruhte auf der Erkenntnis, dass sie einen entscheidenden Beitrag zur Bildung und Selbstverwirklichung des Menschen leisten könnte, war doch das wirkliche Ziel der Revolution die Befreiung des Menschen und auch der Kunstwerke von der Tyrannei. Insofern konnte der Abtransport von Gemälden, Skulpturen und anderen Kunstobjekten aus europäischen Metropolen nach Paris ideologisch auch als Siegeszug zur Befreiung der Künste umgedeutet werden” (131f.). Das führte spätestens nach Rückführung der Kunstwerke in ihre Heimatländer nach der endgültigen Niederlage Napoleons 1815 zu der tieferen Erkenntnis, dass sie Teil der eigenen Geschichte und kulturellen Identität waren.
Kapitel sieben ist den Verheerungen des europäischen Kolonialismus in der Neuen Welt, in Afrika (zu den Benin-Bronzen vgl. 162–167) und China gewidmet, schließlich dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus und darüber hinaus bis in unsere Tage. Etwas ältere Leser werden sich an viele der hier angesprochenen Ereignisse (nach 1945, S. 229ff.) erinnern. Immer wieder wird deutlich, dass gezielte Verwüstungen und Plünderungen von traditions- und identitätsstiftenden Kulturgütern auch Ausdruck eines neuen Deutungs- und Herrschaftsanspruchs waren. Doch waren jenseits
machtpolitischer, ideologischer oder religiöser Beweggründe Bilderstürme häufig auch von handfesten finanziellen Interessen geleitet: Raub und Enteignungen erweisen sich bei näherem Hinsehen geradezu als systematische Vermögensumverteilung.
So erwartet Leserinnen und Leser ein Buch von schmerzlicher Aktualität, das uns zugleich die Kostbarkeit der kulturellen Zeugnisse auf allen Kontinenten vor Augen führt. Hätte ich morgen Gelegenheit, mit einem Lateinkurs Ciceros Reden gegen Verres zu lesen und über den Raub von Kunstwerken zu sprechen, so wäre es leicht, die Gespräche mit einzelnen Passagen aus dem Buch von Hermann Parzinger beträchtlich zu erweitern und zu vertiefen.
Friedrich Maier, Sophia. Morgenröte der Vernunft. Die Karriere der Philosophie, hrsg. von Rudolph Henneböhl, 168 Seiten, Ovid-Verlag, Bad Driburg 2021 ISBN 978-3-938952-41-2, 10,00 €

Sophia: Mein Gemoll bietet mir ganze sieben Zeilen zu diesem schönen griechischen Substantiv: 1. Geschicklichkeit, Gewandtheit, Kunstfertigkeit, 2.a. das Verstehen, Kenntnis, Einsicht, Klugheit, Schlauheit, 2.b. Lebensklugheit, Weisheit, Philosophie. Daneben gibt es noch ein Verb sophizo: weise machen, belehren, sich ausklügeln, klug ersinnen (W. Gemoll, Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, 9. Aufl. München/Wien 1965, 682). Das Bedeutungsspektrum dieses Wortes existierte natürlich nicht schon immer und unveränderlich, auch wenn man aus dem eigenen Griechischunterricht die Erkenntnis mitgenommen hat, dass es sich um ein Urwort der griechischen Sprache und des griechischen Denkens handelt, es taucht irgendwann erstmals auf, wurde von vielen verwendet, gewann neue Facetten hinzu, entwickelte sich zu einem Schlüsselbegriff, in vieler Munde und sehr umkämpft war es zeitweise auch.
Pompeo Batoni (1708–1787) – Prometheus erschafft einen Menschen aus Ton. Die Göttin Athene verleiht der Gestalt eine Seele (gr. psyche) als Schmetterling
Friedrich Maier macht sich in seinem jüngsten Buch einen Begriff von Sophia, er begibt sich auf die Spuren und Wege des Phänomens Sophia in der griechischen Literatur. Da ist es sehr reizvoll, mitzuerleben, wie dieses Wort das Laufen lernt. Die Karriere dieses Wortes beginnt - wie könnte es anders sein - bei Homer. Es findet sich aber nur einmal bei ihm: Sophia ist in der Ilias (19/411) einem Zimmermann zugeschrieben, der sich „durch Wissen auf sein Handwerk versteht”. Sophia bezeichnet also technischen Sachverstand und handwerkliches Geschick. Hesiod verwendet den sophos-Begriff zweimal; ebenso wie im Hermes-Hymnus wird das Wort im Bereich der Kunst verwendet: ein Musiker, der sein „Handwerk” versteht, besitzt sophia. Mit dem Begriff ist die „Kunst des Musizierens”, ja fast „die Musik” selbst gemeint. Archilochos, Alkman, Solon, Alkaios verwenden das Wort in neuen Kontexten, Sappho weist sophia zum ersten Mal einer Frau zu, ebenso Anakreon; bei Theognis gewinnt das Wort eine neue Bedeutungsfacette: intellektuelle, Wendigkeit, Schlauheit, Verschlagenheit. Pindar nutzt das Wort im agonistischen Kontext als sportliche Cleverness und kluge Raffinesse, aber auch als listige Verschlagenheit: erstmals tritt sophia in Widerspruch zu einem hohen moralischen Wert.Bei Xenophanes gewinnt der Inhalt des sophos-Begriffs einen weiteren Sinnbereich hinzu, nämlich eine politische Dimension, er gilt als der Entdecker der politischen sophia. Friedrich Maier spürt dann bei den „Naturforschern” wie Heraklit, Anaximander und Demokrit dem Bedeutungszuwachs nach: „Sophia erfährt ... eine bislang noch nie erreichte Höhe auf der Skala menschlicher Werte” (S. 25). In der zweiten Hälfte des 5. Jhs. v. Chr. wird der sophia-Begriff zum Standardbesitz einer besonderen Klasse von Männern, denen der Begriff sogar den Namen verliehen hat, die „Sophisten”, die „sophia-Träger”, die „sophia-Lehrer”, die den jungen Leuten für ein beträchtliches Honorar ihre sophia, also ihr Fachwissen, anbietet. Die Textgrundlagen für den Begriff sophia nehmen rasant zu, Friedrich Maier hilft dem Leser, indem er jedes der 13 Kapitel mit einem Fazit beschließt und dort schrittweise die wesentlichen Entwicklungen, Färbungen, Akzentuierungen des sophia-Begriffs festhält. Im fünften Kapitel geht es um die Geschichtsschreibung. Herodot scheint vom Begriff der sophia geradezu fasziniert zu sein, er ist offensichtlich darauf bedacht, bei seinen ausgedehnten Reisen die sophia in ihren vielfältigen Ausprägungen bei Völkern und deren Königen zu entdecken. Bei Thukydides hat der Begriff eine durch und durch politische Dimension. Ungemein spannend wird es dann bei den großen Dramatikern Aischylos, Sophokles und Euripides (53–92), zumal ganze Dramen um Wert und Bedeutung des sophos-Begriffes kreisen. Ein eigenes Kapitel bekommt Aristophanes (93-106), in seinen Komödien begegnet der sophia-Begriff massenhaft – wie ein Schlagwort, das eine grassierende Krankheit benennt. In den Wolken avanciert Sokrates zum „Obersophisten” in seiner „Denkerbude”; das Bühnenarrangement ist nichts anderes als eine Persiflage sophistischer Lehrmeisterei, Sokrates wird den Menschen als Bringer eines durch sophia zu erreichenden Glücks (eudaimonia) vorgestellt.
Frederyk Sandys (1829–1904) – Medea, 1866–1868
In Platons Denken erreicht der Sophia-Begriff den Zenit. Seine Dialoge sind in aller Regel eine Auseinandersetzung mit den Sophisten, denen er Sokrates als Gesprächspartner gegenüberstellt. „Sophia ist die Erkenntnis oder Einsicht in die Lebens- und Weltzusammenhänge, die auf einer sittlichen Grundlage beruht und mit deren Hilfe ein dauerhaftes politisches Ordnungsmodell ,konstruiert’ werden kann” (109). Aristoteles besitzt ein völlig anderes Verhältnis zum Wert und Begriff sophia, sie ist methodisch gewonnenes „Wissen”, sie ist zweckfreie Wissenschaft. In den weiteren Kapiteln beobachtet Friedrich Maier die Entwicklung der großen philosophischen Schulen bei den Römern: „Griechische Weisheit auf römischem Boden” und zieht die Linie weiter zu christlichen Denkern, dann in groben Zügen über die Höhepunkte am Ende der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit bis in die aktuelle Welt des technologischen Zeitalters, das von Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz beherrscht wird. Dabei geraten die Fundamente des abendländischen Wertekodex in den Blick.
Entwurf zum Firmenschild der Helios Actien-Gesellschaft, Köln 1891 (nach dem gleichnamigen Ölgemälde von Hans Thoma, 1839–1924, 1886)
Nicht nur Vernunft, sondern Weisheit und Weitblick scheinen heute umso mehr benötigte Tugenden, vor allem in der Politik und in der Gestaltung von Wirtschaft und Sozialleben, auch für die Pädagogik im Bereich von Schule und Universität.
Und wer, so mag man fragen, kann die sich globalisierende Welt im Kampf um ein menschliches und menschenwürdiges Leben mehr voranbringen als eben diese antike Tugend der Weisheit?
Friedrich Maier, EUROPA. Seine verborgenen FUNDAMENTE (Puchheimer Kulturvorträge), 298 Seiten, Broschur, mit 8 Bildern und Abbildungen, Idea-Verlag 2021, ISBN 978-3-88793-174-2, 22 €

Eben erscheint wieder ein Buch, das den Fragen nachgeht, die Friedrich Maier ein Gelehrtenleben lang beschäftigt haben und nicht loslassen: Der Autor und Journalist Tom Holland, geboren 1968, er studierte in Cambridge und Oxford Geschichte und Literaturwissenschaft, stellt sich in seinem neuen Buch Herrschaft. Die Entstehung des Westens (Klett-Cotta, Mai 2021) die Frage: »Wie wurde der Westen zu dem, was er heute ist? Welches Erbe schlägt sich in seiner Gedanken- und Vorstellungswelt nieder?« Tom Holland schildert die Geschichte des Westens ausgehend von seinem antiken und christlichen Erbe. Er schlägt einen großen erzählerischen Bogen von den Perserkriegen, den revolutionären Anfängen des Christentums in der Antike über seine Ausbreitung im europäischen Mittelalter bis hin zu seiner Verwandlung in der Moderne.
Heranziehen kann man auch ein Buch des neuen DAV-Bundesvorsitzenden Stefan Freund (herausgegeben zusammen mit Nina Mindt): Antike Konzepte für ein modernes Europa. Die Klassische Philologie und die Zukunft eines Jahrhundertprojekts (Studia Montana, Polyphem-Verlag 2021, 278 S.). Die Autoren stellen »die Antike und die Sprachen Latein und Griechisch in den Mittelpunkt. Sie stehen für sehr viel von dem, was Europa in seinem Denken verbindet: die griechische und die römische Kultur, das Christentum und die Welt des Mittelalters, den Humanismus und die Anfänge der modernen Wissenschaften. In Beiträgen aus italienischer und deutscher Perspektive werden die Identität Europas aus seinen Anfängen, die Rezeption der Antike als roter Faden in der europäischen Kultur, die Relevanz des Latein- und Griechischunterrichts sowie die Potentiale der Klassischen Philologie für die Weiterentwicklung des europäischen Gedankens beleuchtet«.
Dieser Frage nach den Fundamenten Europas und und nach der europäischen Identität ist Friedrich Maier zeitlebens nachgegangen. In Lektürebänden für den altsprachlichen Unterricht, in zahllosen Aufsätzen, in der vielbändigen Auxilia-Reihe, in Lehrbüchern und in vielen, vielen Vorträgen. Ein eben erschienenes Buch von 300 Seiten mit dem Untertitel ›Puchheimer Kulturvorträge‹ gibt lebhaft Zeugnis von diesem ganz außerordentlichen Engagement. Versammelt sind 23 Vorträge, die er alle in seinem Heimatort Puchheim bei München gehalten hat, die aber alle ihre eigene Geschichte haben insofern, als er sie bei anderen Anlässen und anders akzentuiert an vielen Stationen seines wissenschaftlichen Wirkens gehalten hat, bei DAV-Bundeskongressen, an den Universitäten München und Berlin, bei Gastvorträgen und Lehrerfortbildungen im deutschen Sprachraum an Akademien und Universitäten, bei (Kunst-)Ausstellungen, bei Festvorträgen an Gymnasien und auch im kleineren Rahmen.
Umberto Eco schrieb einmal, all denen widersprechend, die den winzigen Kontinent Europa allenfalls durch politischen oder wirtschaftlichen Pakt für eine Union geeignet hielten. »Es ist ein Irrtum, Europa primär als einen Begriff der Politik oder Ökonomie zu begreifen. Das, was uns Europäer zunächst einmal eint, ist unsere gemeinsame Kultur.« Auch Roman Herzog, der ehemalige Bundespräsident, vertrat diese Überzeugung mit Nachdruck. Was aber ist unsere Kultur? Zu Beginn des neuen Jahrhunderts hat man von »Europas fremd gewordenen Fundamenten« gesprochen. Ein Befund, mit dem man sich – so betont es Friedrich Maier unermüdlich – nicht abfinden kann und soll. Wer europäisch denkt, wer die Identität des Kontinents begründen will, muss diese Fundamente aus ihrer Verborgenheit holen und der Gegenwart lebendig vor Augen führen. Und bedarf nicht unsere technologisch starr auf die Zukunft ausgerichtete Zeit der Rückversicherung in der Vergangenheit? Zukunft braucht Herkunft.
Friedrich Maier sieht sich in der Pflicht, die Mitwelt in seinen Vorträgen auf die großartigen Leistungen an den Anfängen des Kontinents aufmerksam zu machen, auf nahezu allen Gebieten: der Philosophie, der politischen Theorie, der Geschichtsschreibung, der Dichtung, auch der Naturwissenschaft. Es geht um die Geburt der Vernunft, um die Entdeckung der Menschenrechte, um die Problematik der unterschiedlichen Staatsmodelle, um das prekäre Verhältnis von Frieden und Freiheit, um Fragen der Menschlichkeit und des Lebensglücks, um die Vergewaltigung der Erde. Immer wieder zieht Maier die Linie von der Antike bis in die Gegenwart.
Dieses Buch aus der Werkstatt Friedrich Maiers ist diesmal nicht illustriert aus den reichen Bildquellen, die in spezieller Weise Rudolf Henneböhl zu erschließen weiß, sondern mit kurzen Gedichten aus der Feder seiner Frau Luise Maier, die sich thematisch an den Gedanken der Vorträge orientieren.
Bernhard Zimmermann (Hg.), Frauen und Frauenbild in der Antike (29. Salemer Sommerakademie), mit Beiträgen von Thomas Baier, Michael Lobe, Christoph Riedweg, Corinna Reinhardt, Anja Bettenworth und Christine Walde, Rombach-Wissenschaft (Reihe Paradeigmata, Bd. 64), Freiburg/Br. 2021, 158 Seiten, broschiert, ISBN 978-3-96821-777-2, 34,00 €

Die nächste, die 30. Salemer Sommerakademie, steht bevor. Sie findet vom 30.08. bis zum 03.09.2021 im Salem-College in Überlingen am Bodensee statt und hat das Thema „Fest-Spiele in der Antike” . Die Vortragsthemen und Arbeitskreise klingen interessant und kurzweilig. – Es lohnt aber auch ein Blick zurück. Der Band „Cicero – Politiker, Redner, Philosoph” (2017) dokumentierte als erster die Veranstaltung anlässlich der Sommerakademie des Kultusministeriums Baden-Württemberg. Vor vier Jahren waren die Vorträge der augusteischen Dichtung und der homerischen Epik gewidmet (28. Salemer Sommerakademie. Die Augusteer – Homer. Herausgegeben von B. Zimmermann, Freiburg 2019) und vor kurzem sind die Beiträge, die zum Thema „Frauen und Frauenbild in der Antike“ gehalten wurden, als Band 64 der Reihe Paradeigmata bei Rombach Wissenschaft im Druck erschienen: Sie stammen von Thomas Baier, Anja Bettenworth, Christine Walde, Christoph Riedweg, Michael Lobe und Corinna Reinhardt und behandeln literaturwissenschaftliche, historische, archäologische und genderspezifische Gesichtspunkte. Die Sommerakademien sind darauf ausgerichtet, Lehrende der Universitäten und Gymnasien sowie Studierende der Klassischen Philologie in einen Dialog zu bringen und dadurch das Gespräch zwischen Forschung und Fachdidaktik zu intensivieren.
Arachne – Illustration von Gustave Doré aus einer Ausgabe von Dantes Inferno von 1861. Bildquelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/c1/Arachne.jpg
Einen weiten Bogen beschreibt Th. Baier mit seinem großen Beitrag Odysseische Heldinnen und was aus ihnen geworden ist (9–36). Im Blickpunkt stehen Penelope, Kalypso, Nausikaa und Kirke bei Homer und der Umgang lateinischer Autoren mit diesen Frauenfiguren. – Auf die Suche nach tieferen Bedeutungsebenen der Arachne-Episode macht sich M. Lobe, Augusteische Arachnophobie. Verschiedene Lesarten der Bildteppiche in Ovids Metamorphosen 6,70–128 (37–56). Sein Resümmee: „Was wir den Schülern aber vermitteln können, ist, erstens, dass es bei der Lektüre Ovids eine Menge zu entdecken gibt, und zweitens, dass es nicht die eine richtige Interpretation gibt – es gibt nur mögliche Annäherungen an den intendierten Sinn, die alle willkommen sind, wenn sie gut begründet werden; das setzt Wissen voraus, bereitet aber auch große Freude. Ovid ist, anders als sein Ruf des frivolen und leichtfertigen Liebeslehrers, ein Moralist, der in den Metamorphosen wie auch in den Fasti das Mythische mit aktueller Zeitgeschichte auflädt und offizielle augusteische Geschichts- bzw. Mythennarrative subtil und investigativ hinterfragt” (56). – Es folgen Chr. Riedweg, Eine Religion für
Frauen, Sklaven und Kinder? Zum Frauenbild der antichristlichen Polemiker des 2.–4. Jh. n. Chr. (57–70), näherhin bei Celsos, Porphyrios und Kaiser Julian; sodann C. Reinhardt, Frauen im Spiegel mythischer Heroinen und Göttinnen: Beispiele aus der römischen Bilderwelt (71–97) sowie A. Bettenworth, Tod durch Schlangenbiss. Kleopatras Selbstmord im Film und in der literarischen Tradition (99–114). Sie registriert: „Es ist daher nicht überraschend, dass der Tod durch Schlangenbiss gerade bei Autoren, die Augustus nahestehen, zur kanonischen Version wird (siehe Verg. Aen. 8,696–697; Hor. carm. 1,37,25–28; Velleius Paterculus 2,87; Flor. epit. 2,21; siehe Prop. 3,11,53–54). Die meisten dieser Erzählungen gehen davon aus, dass Kleopatra zwei oder jedenfalls mehrere Giftschlangen an ihren Körper angelegt habe. Nirgendwo in den antiken Quellen wird jedoch behauptet, dass diese in die Brust der Königin gebissen hätten, wie es die Filmversionen von 1934, 1999 und 2004 tun. Es gibt auch keine sonstigen erotischen Untertöne” (104f.). – Der letzte Beitrag stammt von Chr. Walde, Frauen in Zeiten des Bürgerkriegs. Von der Laudatio Turiae zu Lucans Bellum Civile (115–147). Ihre Schlussbemerkung: „Gerade deshalb möchte ich noch eine Überlegung mit auf den Weg geben: Was speziell die Frage nach den antiken Frauen und ihren Rollen im Kontext von den in der Regel von Männern dominierten kriegerischen Auseinandersetzungen angeht, so ist Vorsicht angebracht, dass man vor lauter Wissenschaftlichkeit nicht unversehens stereotype Vorstellungen von Geschlechterrollen (etwa einer biologistisch begründeten 'natürlichen' Aufgabenverteilung o.Ä.) reproduziert, zementiert oder sogar Wunschbilder auf die antiken Texte projiziert.
Peter Paul Rubens (1577–1640) Pallas und Arachne (1636/37, Virginia Museum of Fine Arts. Bildquelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Rubens_Arachne.jpg
Man kann z.B. nicht auf der einen Seite die Frauen vorschnell zu den ausschließlichen Kriegsopfern stilisieren und gleichzeitig auf der anderen Seite begeistert über die emanzipierten Amazonen sein, die es den Männern an Gewalttätigkeit gleichtun, obwohl man im richtigen Leben (vermutlich) Pazifist/in ist. Es gilt also, Identifikationen mit und Vorverurteilungen von weiblicher Gewalt zu vermeiden, etwa weit verbreitete Vorstellungen, dass das weibliche Geschlecht weniger aggressiv wäre/zu sein habe als das männliche, weil das schlicht kulturelle Setzungen sind – und damit Wandel und Veränderung unterworfen. Und das ist jetzt nicht zuletzt - wie jede/r von uns selbst weiß – wiederum eine Frage der Wahrnehmungskonditionierung. Insofern muss man – so gut es geht – versuchen, offen zu bleiben für die heute eher fremden Diskurse der Antike gerade hinsichtlich der Gegenstände Krieg und Geschlecht, ohne sich die antiken Texte noch fremder zu machen, als sie es ohnehin schon sind” (146f).
Die Spinnerinnen (Fabel der Arachne) (Diego Velázquez, 1644/48, Museo del Prado, Madrid) Bildquelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Arachne#/media/Datei:Velazquez-las_hilanderas.jpg
Karl-Wilhelm Weeber, Die Straßen von Rom. Lebensadern einer antiken Großstadt, wbg Theiss, Darmstadt 265 Seiten, 20 s-w Illustrationen, ISBN 978-3-8062-4303-1 , 25,00 (20€ für Mitglieder)

„Im Winter des Jahres 19 v. Chr. herrschte in Rom große Unruhe. Es brach nicht gerade ein Aufstand los, aber an allen Ecken und Enden machten sich Unmut und Klagen über einen bemerkenswerten Versorgungsengpass breit: Es gebe zu wenig Wein, und der, den es zu kaufen gebe, sei zu teuer! Sobald Augustus über diesen 'Missstand' informiert worden war, reagierte er prompt - aber keineswegs so, wie es die meisten Unzufriedenen von einem fürsorglichen 'Vater des Vaterlandes' wohl erwartet hätten. 'In überaus strengem Tonfall', so berichtet sein Biograph Sueton, habe er die Protestierenden zurechtgewiesen: 'Von meinem Schwiegersohn Agrippa ist durch den Bau mehrerer Wasserleitungen dafür gesorgt worden, dass die Menschen keinen Durst leiden müssten.'” (S. 129).
So beginnt Karl-Wilhelm Weeber das Kapitel über Aqua. Wasserversorgung am Straßenrand in seinem neuen Buch Die Straßen von Rom. Lebensadern einer antiken Großstadt und ergänzt die Proteste über einen Weinlieferengpass mit einigen Zahlen zum individuellen Weinkonsum (mindestens 0,5 l pro Tag), zum jährlichen Gesamtverbrauch (ca. 100 Mio. l) und zur benötigten Transportkapazität (650 Schiffsladungen nur mit Wein), bevor er dann auf die Neuorganisation der cura aquarum, der Aufsicht über die Wasserversorgung unter der Regierung des Augustus zu sprechen kommt. Das ist ein weites Feld, das der Autor mit stupendem Detailwissen und sprachlich-erzählerischem Geschick aufzugreifen weiß. Er berichtet von signierten Wasserrohren, städtischen Wasserkonzessionären, Wasserverteilungsschlössern (castella), Schöpfbrunnen (lacus), Laufbrunnen (salientes) und der Feststellung: Mehr als ein paar Minuten, da sind sich alle Spezialisten einig, brauchte niemand zum Wasserschöpfen zu laufen, auch nicht in Rom, wo es im 4. Jahrhundert bis zu 1352 Wasserentnahmestellen gab (für Pompeji lässt sich ein Kataster mit den Schöpfstellen anlegen). Neben den wasser-technischen Aspekten erwähnt er die „Kunst am Wasser-Bau”, also den Statuen- und Säulenschmuck, den „Wasserklau” und den immensen Wasserbedarf, die salientes als kommunikativen Treffpunkt, das mühsame Tagesgeschäft des Wasserschleppens. Weeber beruft sich dabei auf römische Autoren wie Juvenal, Horaz, Petron, aber auch auf historische und fachliche Quellen wie Plinius, Frontinus, Sueton und Cassius Dio.
Das Thema Wasserversorgung ist natürlich etwas abgegriffen (kein Film über die römische Antike ohne Aquädukte, Thermenanlagen und Abwasserleitungen) , hier muss Weber sein ganzes Erzähltalent einbringen, was er freilich auch bei den übrigen Themen macht, die beim Leser möglicherweise weniger breite Vorkenntnisse erwarten lassen. Das mag für Fußgängerstaus, Verkehrschaos und Straßenlärm gelten, auch für Straßendreck, Müllprobleme und dicke Luft; ein großes Thema ist die vielfältige Funktion von städtischen Verkehrswegen: Einkaufsstraßen, Handwerkerläden und Garküchen, Straßen dienen als aristokratischer power walk, ein opulentes Straßentheater bilden Circusprozessionen und Triumphzüge, nicht
zu vergessen repräsentative Bestattungsshows und ekstatische Umzüge. Dem Bettlerleben am Straßenrand ist ein Kapitel gewidmet und dem Thema Kriminalität der Abschnitt Straßen zwischen Sicherheit und Kriminalität. Besonders interessant fand ich das erste Kapitel: Namenlose Straßen, fehlende Adressen und eine Lücke im Schul-Latein. Hier geht es um die Orientierung ohne die heute gewohnten Straßen- und Hausnummern (in der Altstadt Regensburgs kann man noch heute die Reste von drei älteren Systemen beobachten). Weeber erläutert auch die Bezeichnungen für Straßen: via (Überlandstraße), platea (breiter, flacher Weg), clivus (Hügelstraße), angiportum, semita (Pfad, Fußweg), scala, vicus (im alten Rom gab es mehrere Hundert vici!), compita (Wegkreuzungen). Weeber berichtet auch über mehrere Gruppen von Namensgebern; Literaten, Philosophen, Ärzte oder Wissenschaftler, nach denen man heutzutage gern Straßen benennt, erhielten in Rom keine solche Ehrung, nicht einmal ein Homer, ein Vergil, ein Platon oder ein Romulus (S. 16). Spannend zu lesen! Die Straßen von Rom sind wieder ein echter Weeber!
Ein erweitertes Literaturverzeichnis zu diesem Buch gibt es unter: https://files.wbg-wissenverbindet.de/Files/Article/ARTK_ZLK_1024527_0001.pdf
Möller, Melanie (Hrsg.), Ovid-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Unter Mitarbeit von Christian Badura, J.B. Metzler Verlag, 2021, IX, 516 Seiten, 8 Abbildungen in Farbe, ISBN 978-3-476-05684-9, Hardcover: 99,99 €; eBook: 79,99 €

Wie stellt man ein Buch von über 500 Seiten, verfasst von 42 Autoren in 86 Artikel und einem eng gedruckten zweispaltigen Personen- und Sachregister von bald 40 Spalten auf zwei oder drei Seiten vor? Man könnte nach einiger diagonaler Lektüre und dem Blick in das umfassende Inhaltsverzeichnis einfach sagen, dieses Ovid-Handbuch gehört auf den Schreibtisch einer jeden solide unterrichtenden Latein- und Griechischlehrkraft, die sich Ovids Œuvre immer wieder neu nähern und Einsicht haben möchte in neue Wege seiner Erforschung und seiner vielfältigen Rezeption. Da gibt es Kapitel zu seinen Werken, zu Ästhetik, Poetologie und biographischen Kontexten. Besonders neugierig machen mit die Kapitel Themen und Konzepte, Rezeption (da wäre mindestens noch ein zweites Handbuch erforderlich) und ganz speziell natürlich (da lässt sich der Lateinlehrer in mir nicht austreiben) die 30 Kapitel Einzelmythen und Mythengruppen sowie die beiden abschließenden Beiträge von Melanie Möller, Ovid und Europa, sowie von Jürgen Paul Schwindt, Ovid als Autor der Moderne. Im Mittelpunkt steht in allen Beiträgen nicht nur die Frage nach der Bedeutung Ovids für die europäische und außereuropäische Kultur; auch seine Modernität als Autor wird aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Ein umfassendes Programm also: kein Buch wie damals Hermann Fränkel, Ovid. Ein Dichter zwischen zwei Welten (WBG 1970; zu Fränkels Leistung vgl. S. 298), mit dem ich als Student zu Ovid gekommen bin, nein, ein kompaktes, randvolles, kluges Handbuch eben.
Beim Blättern bin ich auf den Handbuchbeitrag Nr. 72 Phaëton (S. 430ff.) gestoßen, verfasst von Hartmut Böhme, Kulturwissenschaftler an der HUB. Phaëton, dem „Strahlenden”, ist die längste Episode in den Metamorphosen gewidmet (met. 1,747–2,400). In meinem Kopf taucht die Aufführung des Braunschweigischen Landestheaters auf, konzipiert für ein junges Publikum, die ich - gebannt auf Videokassette - wohl Dutzende Male im Unterricht gezeigt (und an meine Kollegen verliehen) habe und die auf mich auch immer wieder neu Eindruck gemacht hat. Dass die Tränen der Heliaden, Schwestern des Phaëton, sich zu Bernstein und ihre Körper sich in Pappeln verwandeln – so Hartmut Böhme im Beitrag Nr. 72 – bietet den Anlass für die Aufnahme der Phaëthon-Novelle in das ovidische Epos; doch auch die Brandkatastrophe selbst, die das Gesicht der Erde verwandelt, ist als Metamorphose zu verstehen. Ein neues Fremdwort habe ich gelernt: Phaëton gehöre zu den Jünglichen, die mittels „antigraven” Geräts den Himmel erobern: Icarus, Bellerophon, Perseus und andere. Hartmut Böhme verweist sodann auf eine Parallele zur ovidischen Schilderung des frühmorgendlichen Aufbruchs des Sonnenwagens bei Parmenides. „Nimmt man Parmenides als Vorbild des ovidischen Phaëthon, dann erzählt Ovid von einer malignen Initiation in einen Lichtkult. In moderner psychiatrischer Deutung schlägt die »ozeanische Selbstentgrenzung« um in eine »angstvolle Ich-Aufösung«, wodurch die lichtvolle Visionswelt der non-ordinary reality umkippt in eine von Angst diktierte Wahnwelt mit tödlichen Dissoziationen. Die Himmelfahrt wird zum Höllenritt. Was Phaëthon widerfährt, ist aus sogenannten bad trips bekannt (nach Dittrich 1985)” (S. 430).
Nicolas Poussin: Helios und Phaeton mit Saturn und den vier Jahreszeiten. Etwa 1635 Gemäldegalerie Berlin, Quelle: Wikipedia
Hartmut Böhme verweist (lerndidaktisch sehr produktiv) auf die Parallele zwischen Phaëton und Ikarus und den Gegensatz von Phaëton zu Prometheus und Dädalus. Auch die Vater-Sohn-Verhältnisse werden bei Ovid psychologisiert - viel Stoff für unterrichtliche Gespräche und Erkenntnisse. Phaëton und Ikarus sollen unbedingt den mittleren Kurs nehmen. „Ohne Erfolg. Sie sterben vor den Vätern” (431). Der lesenden Lehrkraft gibt Hartmut Böhme unter der Überschrift „Cupido caeli” weitere Lektüreimpulse: „In keinem Mythos gibt es eine das Absolute so begehrende Figur wie Phaëton. Er übereilt alle Differenzen im Verlangen, Gott zu sein. Ruhe und Besonnenheit sind nicht seine Sache, sondern Tempo: in keinem Mythos spielt Geschwindigkeit eine solche Rolle wie hier. Phaëton ist Getriebener der Begierde” (431). Er zieht Vergleiche zu Io, dem Inbegriff des getriebenen Fleisches, nicht zufällig habe Ovid Ios Erdkreis-Fluchten unmittelbar vor die rasende Himmelfahrt Phaëtons platziert. Hartmut Böhme nennt es schließlich „eine der Selbsttäuschungen unserer Zivilisation, dass sie sich als prometheisch versteht, in Wahrheit überschreitet sie, Phaëtonisch, das prometheische Erbe im Verlangen, des Unsterblichen habhaft zu werden und beschleunigt darin ihren Untergang. Darin ist ihr Großartiges und Erschreckendes – und diese Doppelheit ist an Phaëton immer verstanden worden, von Ovid bis zu Goethe” (432).
Der Phaëton-Artikel zeigt in doppelter Weise (was die Lerndidaktik ebenso wie Hartmut Böhme und Ovid feststellen), dass Kontrastieren und Vergleichen wirkmächtige Prinzipien des Lernens und bedeutsame Lernaktivitäten darstellen, welche mit kognitiv anspruchsvollen Prozessen des Kategorisierens, Klassifizierens und Unterscheidens einhergehen können. Ein willkommener Grund (neben entwicklungspsychologischen oder kunsthistorischen), sich mit Ovids Phaëton-Metamorphose im Unterricht zu befassen. Abbildungen zur Phaëton-Metamorphose finden man in den Berliner Kunstsammlungen.
Die Herausgeberin des Ovid-Handbuchs, Latinistin an der FU Berlin und Ovid-Spezialistin (die kurz nach ihrer Berufung an die FU dort zum Ovidjahr 2017 über ein ganzes Jahr hin ein Feuerwerk von Veranstaltungen konzipierte und realisierte), nennt in ihrem Vorwort als Ziele: „Das vorliegende Ovid-Handbuch will einen ebenso sachlich-informierenden wie theoretisch-orientierenden Einblick in das Œuvre Ovids, die Wege seiner Erforschung und seine vielfältige Rezeption geben. In essayartigen Beiträgen zu den verschiedenen Gebieten der von Ovid verfassten Literatur und den in ihr aufgeworfenen Fragen sollen interessierte Laien ebenso Antworten finden wie Ovid-Experten neue Anregungen beziehen können. Im Zentrum steht in allen Beiträgen die Arbeit am Text, d. h. es werden immer auch exemplarische, problemorientierte Analysen geboten, um Ovids Themen und Techniken zu veranschaulichen. Die Texte werden stets auch in ihrem literarischen Kontext verortet. Im Mittelpunkt steht in allen Beiträgen nicht nur die Frage nach der Bedeutung Ovids für die europäische und außereuropäische Kultur; auch seine Modernität als Autor wird aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, wobei die Zuschreibung ›modern‹ nicht nur auf die aktuelle Relevanz abzielt, sondern auch die Referenzen auf die literarische Tradition – in Form von Brüchen, Umprägungen oder Fortschreibungen – auslotet. Dabei erhebt das Handbuch in Bezug auf die Rezeption keinen Anspruch auf Vollständigkeit” (Vorwort VII).
Aufgebaut ist das Handbuch folgendermaßen: „In einem ersten Teil werden »Leben und biographische Kontexte« erkundet. Da wir, wie erwähnt, wenig über Ovid wissen, was nicht als von ihm selbst lancierte ›Information‹ seinem Werk entstammt, ist schon hier eine Fokussierung auf die Texte der am besten gangbare Weg für die Beiträgerinnen und Beiträger, und so wird hier auch die sog. Autobiographie Ovids in trist. 4, 10 einer konzentrierten Lektüre unterzogen. Daneben werden aber auch über die Texte hinaus Schaffenszusammenhänge wie die zeitgenössische Dichtung, Ovids komplexe Beziehung zum Princeps Augustus sowie seine zeitlich-räumlichen Fixpunkte (Sulmo, Rom, Tomis) vorgestellt. Im zweiten Teil werden ergänzend weitere produktionsästhetische bzw. intellektuelle »Voraussetzungen« wie die griechischen und römischen Vorbilder oder die generischen Traditionen und Innovationen diskutiert, die in seinem Werk sichtbar werden.” (Vorwort) Im dritten Teil sind alle Werkartikel versammelt, auch die als ›unecht‹ eingestufen Texte inklusive der Begründungen für das Für und Wider der Authentizität. Der vierte Teil zu »Ästhetik und Poetologie« stellt einen ersten großen programmatischen Teil dar, der sich den Werken Ovids unter den als einschlägig erachteten Lemmata wie »Rollenspiele« oder dem »poetologischen Programm«, der Beziehung Ovids zur Rhetorik, den stilistischen, kompositorischen und metrischen Prinzipien sowie seiner Bilder- und Gleichnissprache widmet. Die Beiträge in Teil 5 erschließen dem Lesepublikum die werkübergreifenden zentralen »Themen und Konzepte«. Hier werden disziplinäre Fragen (Verhältnis von Literatur, Philosophie und Epistemologie) ebenso berührt wie wiederkehrende Themen, zum Beispiel Anthropologie oder Antiquarismus, Erotik oder Mythologie. Schließlich der umfassende 6. Teil zur Rezeption Ovids. Hier wird, nach einigen übergreifenden Darstellungen zur Überlieferung sowie zur schulischen und wissensgeschichtlichen Rezeption, nach den Spuren der jeweiligen Einzelwerke gesucht. Zwei programmatische, auch mit zusammenfassend-verweisenden Elementen versehene Artikel zu »Ovid und Europa« sowie »Ovid und die Moderne« beschließen den Band.
Zu erwähnen ist noch das besondere Anliegen der Herausgeberin, viele engagierte Nachwuchswissenschafler, junge Frauen und Männer, zum Teil noch im Doktoranden- oder Studierendenstatus, einzubeziehen und das Handbuch mit ihren Perspektiven zu bereichern. Zu nennen sind hier etwa Vera Engels, Matthias Grandl, Theresia Lehner, Bendix Sautmann, Johanna Schubert und Fabian Zuppke.
Bodleian Libraries, Phaeton alarmed. Satire on Portland's second ministry and caricature of George Canning. (British political cartoon); A cartoon in praise of George Canning. The ghosts of Pitt (with a hero's laurels) and Fox (with a pitchfork in hellfire) flank a burning globe on which Napoleon rides mounted on the Russian bear (22. März 1808). Quelle: Wikimedia
Seit seiner Genese vor mehr als 2000 Jahren gehört das vielfältige Werk Ovids zu den einflussreichsten der europäischen Literatur. Dieses Handbuch, eine Schatzkiste von philologischen Erkenntnissen, gibt den Anlass, sich bei der Lektüre und Vermittlung von Ovids Werken erneut fachlich informieren und inspirieren zu lassen.
Henry Keazor, Raffaels Schule von Athen. Von der Philosophenakademie zur Hall of Fame, Klaus Wagenbach Verlag, Berlin 2021, broschiert, 320 Seiten, ISBN 9783803136954, 32,00 €

Kennen Sie die Potsdamer Version (1749) der berühmten Schule von Athen? Das um 1510/1511 gemalte Vatikanische Fresco Raffaels in den Stanzen, der einstigen Privatbibliothek des Papstes, kombiniert mit einem Stück Potsdam und allerhand Zwischentönen verlegt in den Park von Sanssouci!
Und das kam so: Friedrich der Große war ein kunstinteressierter Preussenkönig, der Gemälde der italienischen Renaissance und des Barock in seiner Sammlung hatte. Der Maler Charles Amédée Philippe van Loo (1719–1795) arbeitete in seinen Diensten in Potsdam von 1748–1758 und nach dem Ende des zwischen Frankreich und Preußen ausgebrochenen Siebenjährigen Krieges erneut von 1758–1769. Jener van Loo stammte mütter- und väterlicherseits aus einer Künstlerfamilie, hatte seinen Vater zu Studienzwecken nach Rom begleitete und dabei sicherlich Raffaels Schule von Athen intensiv studiert. Dieses Thema des philosophischen Schulbildes greift er in einem Potsdamer Gemälde auf, die Zahl der abgebildeten Personen wird etwas reduziert, neu geordnet und geschwenkt. Plato und Aristoteles haben eine ähnlich zentrale Position wie bei Raffael, bilden allerdings nicht die symmetrische Mitte der Komposition, sondern stehen einander gegenüber. Vorne links eine Gruppe um Pythagoras, eine Figur gleicht dem gestikulierenden Sokrates bei Raffael, zu dem ein sehr reich gerüsteter Krieger hinzuzutreten scheint. Prominent platziert scheint dieser einen Verweis auf die militärische Erziehung, die persönliche Teilnahme an Kriegen sowie die militärischen Schriften Friedrichs des Großen darzustellen. Bemerkenswert der architektonische Kontext: die im rechten Hintergrund einander gegenübergestellten Säulenpaare mit der darüber befindlichen Balustrade weisen eine große Ähnlichkeit mit dem Ehrenhof von Friedrichs Schloss Sanssouci auf, das der König in den Jahren 1745–1747 nach eigenen Skizzen als Sommerresidenz von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorf hatte errichten lassen. Offenbar gehörte es zu van Loos Aufgabe, bei der Ausarbeitung des Gemäldes der Schule von Athen das zwei Jahre vorher vollendete Schloss zum Schauplatz der Philosophenakademie zu machen.
Van Loos Die Schule von Athen (1749) präsentiert der Heidelberger Kunsthistoriker Henry Keazor in seinem Buch über Adaptionen, Parodien, satirische Interpretationen und weitere Formen der Rezeption dieses berühmten Frescos unter dem Titel Raffaels Schule von Athen. Von der Philosophenakademie zur Hall of Fame, erschienen soeben im Klaus Wagenbach Verlag Berlin. Zu Anfang des Buches verfolgt er die Bedeutung der Schule von Athen in der Kunstgeschichte beginnend mit christlichen und kunsthistorischen Adaptionen.
Selbstporträt Raffaels, 1506, Uffizien, Wikipedia
Ein ganzes Buch über ein einzelnes Fresko und seine Rezeption! Das Thema ist schon reizvoll genug, aber noch mehr die Ergebnisse. Mit detektivischem Gespür hat der Autor in seiner akribisch recherchierten Studie eine überwältigende Zahl an Bildern zusammengetragen, die seit dem 16. Jahrhundert den Dialog mit Raffaels Bild gesucht haben. Sein verblüffender Parcours durch die Kunstgeschichte führt ihn nach Italien, Frankreich, England, Deutschland. Und er landet am Ende bei Künstlern wie Cy Twombly (einem US-amerikanischer Maler, Fotografen und Objektkünstler und Vertreter des abstrakten Expressionismus) oder Vereinnahmungen durch Musikvideos, Werbung, Lego und Hollywood. Die Frage mag zulässig sein, ob es sich bei den jüngsten Beispielen noch um echte Auseinandersetzungen mit dem Fresko handelt oder um Verselbständigungen. Unbestritten ist: Immer wieder adaptierten und interpretierten Künstler ganz unterschiedlicher Stilrichtungen jene Bildkomposition des jungen Raffael: Zwei Männer, die vor einem Torbogen zu sehen sind – es handelt sich um Platon und Aristoteles – bewegen sich, gerahmt von Figurengruppen zu ihrer Rechten und Linken, auf eine Treppe zu.
Papst Julius II., Detail aus der Messe von Bolsena, Fresko in den Stanzen des Raffael, Wikipedia
Der Autor nähert sich dem Bild mit fünf Thesen, die er dann schrittweise überprüft. Er sieht in Raffaels Schule von Athen eine ungewöhnliche Darstellung insofern , als er darin die bedeutendsten, aus unterschiedlichen Epochen und geographischen Kontexten stammenden Philosophen der Antike in einer einzigen Szene zusammengruppierte. Damit habe er ein idealtypisches „Standes- und Zunftbild der Philosophie“ geschaffen.Da Raffael nicht auf authentische Porträts der dargestellten Personen zurückgreifen konnte, soll er prominente Zeitgenossen wie Michelangelo, Leonardo da Vinci und Bramante abgebildet haben und damit die Maler seiner Zeit, die bis ins 14. Jahrhundert hinein als Handwerker und eben nicht als Intellektuelle galten, nobilitiert haben. Zudem habe Raffael anstelle des zu erwartenden Durcheinanders angesicht unterschiedlicher Lebensdaten und geographischer Herkunft der verschiedenen Philosophen ein dramaturgisches Prinzip gefunden, das sein Bildpersonal zueinander in Beziehung setzt. Durch geschickte Verteilung der Gestalten im Raum werden die dabei erzielten Figurenkonstellationen durch den sie umgebenden architektonischen Rahmen harmonisch zu einem Ganzen gefasst. Ferner: Kaum ein anderes Werk der westlichen Kunst habe seit dem Zeitpunkt seiner Entstehung bis heute ebenso umfangreiche und vielfältige wie anhaltende Rezeptionen und Adaptionen erfahren, die sich dabei sehr weit von der ursprünglichen Thematik der Schule von Athen entfernten oder gar gänzlich davon unabhängig machten: Gleich, ob christliche Interpretationen, Parodien, Darstellungen von akademischen Disziplinen oder geschichtlichen Zusammenhängen, moderne künstlerische oder architektonische Auseinandersetzungen, Re-Inszenierungen in Filmen, Comics, Werbung, Musikvideos, Photographien sowie imaginären Ruhmeshallen – stets werde auf die dramaturgischen, kompositionellen und architektonischen Ordnungsprinzipien der Schule von Athen zurückgegriffen. Und oftmals werde aus unterschiedlichen Gründen auf das verwendete Vorbild mehr oder weniger explizit verwiesen. Durch diesen permanenten Rekurs werde dessen Berühmtheit lebendig gehalten, gesteigert und zudem in Kontexte getragen und dort verankert, die nicht zwingend in engerer Berührung mit dem klassischen Bildungskanon stehen (11).
Stanza della Segnatura: Parnass und Die Schule von Athen, Wikipedia
Rezeptionen: Was machen Slavoj Zizek und Martha Nussbaum in Raffaels Schule von Athen? Ein spanischer Ethikdozent hatte 2017 einen Nachbau aus Legosteinen mit fünfzehn zeitgenössischen Denkerinnen bei Twitter gepostet. Auch Ben Willikens lehnt sich in Die Schule von Athen I und II an das Raffaelsche Architekturensemble an. Aber während auf Raffaels Fresko insgesamt 58 Personen zu sehen sind, ist die Philosophenschule bei dem Künstler des 20. Jahrhunderts leer.
Bereits wenige Jahre nach Raffaels Fertigstellung des Freskos begann, so Keazor, die künstlerische Auseinandersetzung mit der „Schule von Athen“, wobei die bereits in der Frühzeit der Rezeption gefundenen Bildaussagen der ursprünglichen Bildidee – ein freier Diskurs von Philosophen mit ihren Schülern – oft genug widersprachen. Giorgio Ghisi etwa christianisierte in seinem um 1550 entstandenen Kupferstich Raffaels Bildidee, als er den Philosophen Platon durch den Evangelisten Paulus ersetzte. Und während bei Raffael die abgebildeten Diskutierenden noch auf der Suche nach der Wahrheit sind, haben die „Meisterdenker“ auf Jean-Auguste-Dominique Ingres’ Bild „Die Apotheose des Homer“ (1827) die Wahrheit bereits gefunden.
Aus der bei Raffael sinnstiftenden „Schule“ wurde im 19. Jahrhundert eine Halle der Berühmten. Seither war es entscheidend, dass die auf den Bildern Porträtierten auch als berühmte und zu rühmende Persönlichkeiten zu erkennen waren. Renato Casaro etwa ersetzte Raffaels Entourage auf seinem Bild „100 Years of Film“ (1988) durch Legenden des Films. Mit einem bemerkenswerten Effekt: Auf seinem Bild nimmt Marylin Monroe eben jenen Platz ein, der bei Raffael Platon vorbehalten ist. Das Original diente nur noch als Staffage, das einen Wiedererkennungseffekt garantieren sollte.