Ethik und Geschichten1

Wenn wir uns auf das Genuss- und Erkenntnispotenzial von Geschichten einlassen, indem wir bereit sind, mit den Figuren mitzuleiden – der Germanist und Autor Peter von Matt nennt dies den moralischen Pakt zwischen dem Leser und dem Text2 – dann sammeln wir mit den Charakteren der Erzählung neue Erfahrungen und Erlebnisse. Hierbei sind wir nicht ausschließlich auf deren Perspektive beschränkt, sondern erleben die Geschichte von einem anderen Standpunkt, da wir manchmal aus der Erzählung mehr Informationen als die Helden bekommen oder schon den Ausgang der Erzählung kennen, in jedem Fall aber stets unsere eigene Geschichte mitbringen und somit Botschaften, Hinweise und Erlebnisse aus dem Kontext der Handlung anders einordnen (können) als die Helden selbst. Die Beschränktheit der Perspektive der Helden kann ihre Ursache sowohl in ihrem Informationsdefizit als auch in einer Fokussierung und Verengung ihrer Gedanken haben.

Indem wir dieser Beschränkung nicht unterliegen, können wir die Entscheidungen des Helden hinterfragen. Wenn wir zugleich Ähnlichkeiten zwischen uns und dem Helden entdecken, besteht die Möglichkeit, dass wir mit ihm mitleiden, wenn wir erleben, wie sich beispielsweise die Helden aus selbst mitverursachten Entscheidungen in ihr Unglück begeben. Damit prägen uns die Erlebnisse des Helden, weil wir dessen Geschichte mit unseren eigenen Geschichten zusammenführen. Wayne Booth3 hat die Prägekraft von Geschichten mit dem schönen Vergleich illustriert, wonach aus Büchern Freunde werden, auf die wir uns einlassen, die uns begleiten, dadurch unser Leben beeinflussen und unsere moralische Urteilskraft schärfen, weil wir uns zu dem Erlebten verhalten und Stellung beziehen.

Heldenethik?

Aber was erleben wir eigentlich mit, wenn wir uns nun auf Homers Ilias einlassen? Inwiefern gingen die Geschichten den Hörern der Antike, inwiefern gehen sie uns etwas an? Welche Relevanz besitzen sie für uns? Was hat unser Leben mit dem Leben dieser Helden zu tun, die sich u. a. nach dem Krieg sehnen; die sich danach sehnen, durch Ruhm unsterblich zu werden? Einer der am Kampf beteiligten Krieger, Sarpedon, bringt das Heldendenken vielleicht am besten auf den Punkt: „Wenn wir, aus diesem Krieg entronnen, Für immer ohne Alter sein würden und unsterblich, Dann würde ich selbst nicht unter den Ersten kämpfen Und auch dich nicht zur Schlacht, der männerehrenden, rufen.“4 Es sei demnach gerade die eigene Sterblichkeit, die zum Krieg reizt. Wären wir unsterblich, so Sarpedon, bräuchten wir nicht kämpfen. Da wir aber sterblich sind, müssen wir uns die Unsterblichkeit verdienen, indem wir ruhmvoll im Kampf sterben. Was im Kontext eines heroischen Denkens sinnvoll erscheinen vermag, klingt für uns eher befremdlich. Und dabei haben wir noch nicht einmal von dem Frauenbild gesprochen, das in diesem Epos vermittelt wird. Sind das die ethischen Implikationen, die uns der Text mitzugeben vermag?

Ethische Implikationen für uns?

Die Wertvorstellungen einzelner Gruppen vergangener Zeiten sollen nicht im Zentrum der hier diskutierten Frage nach der Ethik der Ilias stehen. Vielmehr wollen wir uns von einem Ethikverständnis leiten lassen, das einen bestimmten Bereich der menschlichen Bildung und Erziehung meint, nämlich denjenigen, der uns Wege zum Glück und damit unmittelbar verbunden Wege zur ἀρετή (Arete), also im Wortsinn zu unserer „Bestheit“, d. h. zur Verwirklichung unseres besten Könnens aufzeigt. Ethik meint ursprünglich die Ausbildung eines Charakters (ἦθος / ēthos) über die Gewohnheit (ἔθος / ethos).5 Wenn uns Gewohnheiten prägen und Gewohnheiten dafür mitverantwortlich sind, woran wir Lust und Unlust empfinden und wonach wir folglich streben, dann gehört zur Ethik auch die Vermittlung der Einsicht, wie unser gewohntes Handeln dafür verantwortlich ist, dass wir diese Wege, die zu unserem Glück führen, nicht gehen, wie wir uns also selbst Steine in den Weg legen. Dichtung, die in diesem Verständnis ethisch prägt, vermittelt allgemeine, handlungsrelevante Einsichten und nicht nur Beschreibungen von Lebensregeln einer bestimmten Gruppe. Doch anders als die Philosophie vermittelt Dichtung diese allgemeinen Einsichten am Einzelnen, indem sie beispielsweise handelnde Menschen darstellt und zeigt, wie diese auf Grundlage ihrer Charaktere Entscheidungen treffen, die zu ihrem Glück oder Unglück beitragen. 

In dieser Hinsicht ist die Ilias ein exzellentes ethisches Lehrstück. Denn sie liefert nicht einfach nur Botschaften, sondern reißt uns regelrecht in die Entscheidungsprozesse ihrer Charaktere hinein und liefert damit Antworten auf die Frage: Warum handeln Menschen so, dass sie ihren eigenen Vorteil verfehlen und damit auch die Gemeinschaft schädigen? Und es ist nicht unplausibel anzunehmen, dass die Beantwortung dieser Frage auch eines der zentralen Anliegen des Ilias-Dichters gewesen sein könnte, denn allzu deutlich werden hier Ursachen, Abläufe und Wirkungen des Zorns aufgezeigt und kommentiert.

800px Apotheosis Homer BM 2191Apotheose Homers, der von den Allegorien der durch ihn stark beeinflussten Künste der Geschichtsschreibung, Dichtung, Tragödie und Komödie sowie von Ilias und Odysseeflankiert wird. Das Relief, das von Archelaos von Priene am Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. hergestellt wurde, befindet sich zurzeit im British Museum in London. https://de.wikipedia.org/wiki/Ilias#/media/File:Apotheosis_Homer_BM_2191.jpg

Selbstverantwortliches Handeln

Wenn wir uns selbst als freie, d. h. für unser eigenes Handeln verantwortliche Menschen verstehen, können wir uns besser mit Charakteren identifizieren, die uns als für sich selbstverantwortliche Charaktere begegnen. Andernfalls wäre die Ilias zwar ein Lehrstück für ein vermeintlich archaisches Menschenbild, aber ohne Relevanz für unser eigenes Leben.6 Um darüber hinaus verstehen und mitfühlen zu können, müssten wir die Gründe der Handlungsentscheidungen kennenlernen. Und um die Entscheidungen einordnen und bewerten zu können, müssten wir auch von den Zielen der Charaktere erfahren. Ist das alles in der Ilias gegeben? Mit Blick auf die Selbstverantwortlichkeit des Handelns der Helden rückt zu Beginn die prominente Szene in den Fokus, in der Athene erscheint und Achill davon abhält, sein Schwert gegen Agamemnon zu erheben. Aus dem Text wird deutlich, dass Achill zunächst selbst zwei Handlungsoptionen abwägt (1, 188–192) und sich damit offen für eine vernunftorientierte Entscheidung zeigt. Erst dann erscheint Athene und präsentiert ihm einen Weg, der zugleich seinem Zorn gerecht wird als auch die Möglichkeit aufrechterhält, sein eigentliches Ziel zu verfolgen. Homer beschreibt explizit sowohl diese Handlungsoption als ein offenes Angebot (1, 207) als auch die Entscheidung des Achill als eine mit Einsicht getroffene Entscheidung: denn es ist besser so, sagt er! (1, 217).

Auch Agamemnon weiß, dass er selbst Anteil an seinem Fehlverhalten gegenüber Achill hat. Er weist zwar der gottgesandten Ate, der Verblendung, einen großen Teil der Schuld zu, weiß jedoch, dass er seine Fehler wieder gut machen muss. Einmal verblendet, einmal von Ate befallen, ist es tatsächlich schwierig, keine Fehler zu machen. Aber Homer beschreibt eindrücklich, wie Agamemnon zuvor, also noch vor dem täuschenden Traum des Zeus, gänzlich eigenverantwortlich, seinem Charakter entsprechend Entscheidungen trifft. Auch bei anderen Eingriffen der Götter in das Treiben der Menschen lassen sich in dem Eops Hinweise dafür finden, dass die Figuren selbst ihren Teil dazu beitragen, für bestimmte Einsichten, Überlegungen, Erkenntnisse, die dann von göttlichen Figuren geliefert werden, offen zu sein.7 Die handelnden Charaktere werden bei Homer also zum einen als selbstständig handelnde Charaktere präsentiert. Zum anderen werden sie auch als Charaktere gezeichnet, deren Handeln wir nachvollziehen und verstehen können.

Identifikation durch Nachvollzug der Gründe

Homer gibt sich große Mühe, den Zorn des Achill für die Zuhörer oder Leser verstehbar zu machen. Dieser Zorn hat zwar schreckliche Konsequenzen, die bereits im Proömion genannt werden. Und doch erfahren wir, warum Achill auch gute Gründe für seinen Zorn hat; so gute Gründe, dass selbst Athene, die Göttin der Klugheit, ihm nicht einfach raten kann, vom Zorn gänzlich abzulassen. Stattdessen nimmt sie Achill und seine Beweggründe für den Zorn ernst. Sie rät ihm zwar davon ab, einem ersten Impuls zu folgen und Agamemnon zu töten. Doch sie gewährt dem Zürnen auch Handlungsraum, indem sie vorschlägt, dem Zorn mit Worten und nicht mit dem Schwert Ausdruck zu verleihen. Achill habe, so entgegnet er Agamemnon (1, 148–172), nicht nur den größten Beitrag geleistet, wenn Misserfolge abgewehrt und Erfolge gefeiert wurden, nein, er habe darüber hinaus stets akzeptiert, deutlich geringere Ehrgeschenke als Agamemnon dafür zu erhalten. Und schließlich habe er all das getan für einen Krieg, in dem es gar nicht um seine eigenen Interessen gehe. Ihm hätten die Troer ja überhaupt nichts getan. Er, seine Männer und all die Anderen kämpften ausschließlich für Agamemnon und dessen Bruder, um nach dem Raub der Helena deren Ehre wieder herstellen zu können. Um es zeitgemäß auszudrücken: Zehn Jahre habe Achill exzellente Arbeit für die Interessen seines Chefs geleistet, für ein Unternehmen, das ohne Achill, dem mit Abstand besten Mitarbeiter8 des Unternehmens, längst insolvent gegangen wäre. Während sich zugleich der Chef immer weiter bereichert, gibt sich Achill mit wenigen geringen Bonus-Zahlungen zufrieden. Und nach all dem fordert der Chef plötzlich, dass dieser beste Mitarbeiter eine seiner wohlverdienten Bonus-Zahlungen ihm, dem Chef überlassen solle. Und nicht nur das. Der Chef kommentiert den darauf erfolgenden Unmut des Mitarbeiters wie folgt: „Was kümmert es mich, wenn Du jetzt sauer bist. Kündige doch, wenn Du willst, wir kommen auch ohne Dich bestens klar.“9 Das ist letztlich die Situation, in der sich Achill wiederfindet und wie wir sie auch noch als späte Hörer oder Leser nachvollziehen können. Denn es geht um etwas Allgemeines: Um fehlende Anerkennung, um fehlende Dankbarkeit, um abgesprochene Geltung. Erst wurde sich an der Leistung bereichert, dann wird das Leistungsvermögen verhöhnt. Der Zorn des Achill, das lässt Homer uns erkennen und spüren, ist gerechtfertigt. Damit haben wir die Eintrittskarte in die Geschichte gelöst. Denn mit dem Nachvollzug der Überlegungen und Entscheidungen ist die Distanz zum fernen und legendären Helden überwunden, wir können uns zu einem wesentlichen Teil mit ihm identifizieren.

Homer Iliad Vaticanus Palatinus graecus 246

Der Anfang von Homers Ilias in der Handschrift Biblioteca Apostolica Vaticana, Vaticanus Palatinus graecus 246, fol. 1r. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a8/Homer%2C_Iliad%2C_Vaticanus_Palatinus_graecus_246.jpg

Verengung des Blicks durch den Zorn 

Sobald dies gelungen ist, führt uns Homer immer wieder beiläufig vor Augen, dass der Zorn zwar gerechtfertigt ist, Achill damit aber letztlich seinen eigenen Zielen im Weg steht. Achill sehnt sich nach den Kämpfen (1, 488–492), er möchte Teil des Kriegsgeschehens sein, denn im Kampf hat er sein bestes Können, seine Arete, und diese möchte er entfalten. Der Verwirklichung seines besten Potenzials steht er selbst mit seinem Zorn nun im Wege. Homer lässt uns daran teilhaben, wie Achill in den folgenden Kriegstagen im Zelt sitzt und Lieder singt von Heldentaten vergangener Zeit
(9, 185–189) und wie er anschließend wehmütig auf dem Deck seines Schiffes steht und auf die verlustreichen Kämpfe blickt (11, 599–601). Er wird ungeduldiger und sein Bestreben, sich im Kampf zu messen, mächtiger. Doch sein Stolz steht ihm im Weg. Am deutlichsten führt uns Homer im neunten Buch vor Augen, wie verbohrt und fehlgeleitet Achill ist: Agamemnon sieht mittlerweile seinen Fehler ein, denn die Konsequenzen seines unüberlegten Handelns sind nun spürbar. Ohne Achill droht der Kampf gegen die Troer verloren zu gehen. Also möchte Agamemnon über prominente Vermittler Achill nicht nur anbieten, ihm sein Ehrgeschenk wieder zurückzugeben, sondern stellt darüber hinaus weiteren Reichtum, Ehrgeschenke und Macht in Aussicht, wenn sich Achill bereit erklärt, wieder in das Kampfgeschehen einzugreifen. Ein größeres Eingeständnis seines Fehlers, ein größeres Bekenntnis zu Achills Unersetzbarkeit ist eigentlich kaum möglich. Mit der Absegnung dieses Angebots durch den weisen Nestor gibt uns Homer auch den Hinweis, dass dies ein angemessenes, ein vernünftiges Angebot ist (9, 163–164). Die zu Achill geschickten Bittsteller Odysseus, Phönix und Aias überbringen aber nicht nur dieses üppige Angebot des Agamemnon, sondern liefern weitere Argumente, die nicht nur die materielle Ebene betreffen, sondern auf Achills Wertvorstellung zielen. Die Boten verweisen auf die Werte des Vaters, führen Vergleiche zum Handeln seiner göttlichen und heroischen Vorbilder an, vermitteln ihm die ausweglose Situation des griechischen Heeres, versichern ihm die Verehrung aller Kämpfer, stellen ihm in Aussicht, gerade jetzt sein Ziel erreichen zu können, Hektor zu schlagen, da dieser sich nun endlich einmal auf das Schlachtfeld wagte. 

Es werden ihm die Konsequenzen seines Nichteingreifens deutlich vorgeführt: Die drohenden Verluste seien unumkehrbar, er werde ewig Reue in sich tragen und, wenn er noch länger wartet, werde der ganze Krieg nicht mehr zu gewinnen sein. Insbesondere vor dem Hintergrund seines eigentlichen Ziels, nämlich eine entscheidende Rolle in diesen Kämpfen zu spielen, sind das schlagende Argumente.10 Homer führt uns nun mit der Reaktion des Achill auf die Bittgesandtschaft vor, wie verengt dessen Denken mittlerweile ist. Alles dreht sich für ihn um den Gedanken an die Bloßstellung durch Agamemnon: denn es war ja kein Dank da, erwidert er Odysseus (9, 316) und listet wieder all seine eigenen Leistungen im bisherigen Krieg als Kontrast zu der Unverschämtheit des Agamemnon auf. Dass dieser nun reut, reicht Achill offenbar nicht. Agamemnon solle angemessen büßen.

Zorn und Willensschwäche

Denn Zorn dürstet nach dem Schmerz des Verursachers. Der Gedanke daran bereitet dem Zürnenden Freude. Achill beschreibt es rückblickend selbst treffend: „Der Zorn, der aufreizt auch den Vielverständigen, dass er heftig wird, der viel süßer als Honig, wenn er hinuntergleitet, in der Brust der Männer aufschwillt wie Rauch“ (18, 108–110). Dieses Genusspotenzial des Zorns verengt den Blick des Zürnenden auf die Rache, so dass dieser das aus den Augen verliert, was für ihn wirklich und nachhaltig gut, richtig und glücksbringend ist. Homer zeigt, wie wirkungslos und unwichtig Einsichten in dem Moment des Zürnens werden, die eigentlich für Achills Leben leitend sind. Achill gibt Aias zu verstehen, dass die vorgebrachten Argumente auch gute Argumente sind: „Alles scheint es, hast Du mir irgendwie aus dem Sinn gesprochen. Aber mir schwillt das Herz vor Groll, wann immer ich denke an diese Dinge, wie er mir Schimpf antat vor den Argaiern, der Atreus Sohn, so wie irgendeinem ehrlosen Zugewanderten.“ (9, 645–648) Achill nimmt die Argumente wahr, doch sie bleiben für ihn abstrakt. Sie werden nicht handlungsrelevant, weil der Gedanke an das Unrecht und die Aussicht auf Vergeltung alles verstellt. Aristoteles wird Jahrhunderte später in seiner Philosophie der Willensschwäche11 zeigen, wie beim unbeherrschten Handeln die konkrete Aussicht auf Lustgewinn andere Einsichten abstrakt werden lässt. Handlungsleitend ist jedoch auch beim Willensschwachen immer eine Erkenntnis bzw. ein Gedanke. Dass auch für Homer dem Handeln, Fühlen und Streben eine Erkenntnis vorausgeht, macht er deutlich, wenn er Achill sagen lässt, dass ihn der Zorn packt, sobald er an die Entehrung durch Agamemnon denkt. Und da er kaum an etwas anderes denkt, bleibt der Zorn auch vital. Achill ist nicht einem Gefühl passiv ausgesetzt. Vielmehr kreist sein Denken um die Entehrung. Er führt sich aktiv immer wieder die Vorstellungen seiner eigenen Leistungen vor Augen und erinnert die ungerechten Worte des Agamemnon, die diesen Leistungen nicht nur die Anerkennung verweigerten, sondern sie regelrecht entwerteten. Dieses immer wieder um das Unrecht kreisende Denken führt zum Zorn, der Zorn dürstet nach Rache und alles andere, was bisher für ihn bedeutsam war, wird hintangestellt. Diese anderen Überlegungen und Einsichten werden zwar rational als richtig bewertet, aber sie sind für ihn nur abstrakt richtig, sie führen nicht zu Handlungen. Es ist wie bei einem Raucher, der weiß, dass Rauchen nicht gut für ihn ist und es immer wieder trotzdem tut. Auch der Raucher liest und versteht die Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen, kann sie auch nacherzählen, doch sie bleiben für ihn abstrakt. Aristoteles vergleicht diese abstrakten Einsichten mit der Rede eines Schauspielers, der auch ohne konkrete Einsicht einen für ihn unverständlichen Text fehlerfrei rezitieren kann.12Sein Handeln kann er nicht an den Inhalten des Textes ausrichten, weil er sie nicht konkret versteht. Die Aussicht auf die süße Vergeltung des Zorns dominiert Achills Handeln und lässt alles andere in den Hintergrund rücken. Auch Poseidon bemerkt diese Blindheit des Achill, wenn er im Anblick des drohenden Untergangs des griechischen Heeres Agamemnon zur Seite tritt und ihm Mut zu machen sucht. Dabei erwähnt er, wie Achill gar kein klares, richtiges Denken mehr besitzen kann, wenn dieser sich tatsächlich über das Elend der Griechen so sehr zu freuen vermag (14, 139–141).

Verfehlung der eigentlichen Ziele

Indem uns Homer nicht nur das aus dem Zorn hervorgehende schädliche Verhalten vor Augen führt, sondern auch die Gründe aufzeigt, sensibilisiert er den Hörer dafür, seine eigentlichen Ziele nicht aus dem Blick zu verlieren. Der Zorn, der am Anfang noch gerechtfertigt ist, wird zu einem schadensbringenden Zorn, wenn ihm das Maß fehlt und er dadurch den eigentlichen Zielen im Weg steht. Das erleben wir Leser und Hörer der Ilias mit. Gerade weil die Konsequenzen so schrecklich sind, bleibt uns im Gedächtnis, wie schnell aus einem nachvollziehbaren Empfinden der Ungerechtigkeit ein Verhalten werden kann, das uns selbst daran hindert, unser bestes Können zu entfalten und das zu tun, was uns glücklich macht, also unseren eigenen wahren Zielen, die eben in der Entfaltung unserer Potenziale liegen, im Wege steht. Achill bringt die Sinnlosigkeit des Zürnens nach dem Tod seines treusten Gefährten selbst auf den Punkt. Die Ziele seines Zorns hat er zwar mittlerweile erreicht: Den Griechen droht die Niederlage, Agamemnon selbst ist verletzt und reut und das ganze Heer erkennt, dass Achill wirklich unverzichtbar ist. Doch die Ziele des Zorns werden dann zur Gefahr, wenn sie den eigenen, eigentlichen Zielen und Werten im Weg stehen. „Was nützt mir das alles, wo mir mein Gefährte Patroklos zugrunde ging,“ (18, 80) jammert er nun. Und noch deutlicher trifft ihn die schmerzhafte Einsicht in die Konsequenzen seines Rückzugs: „Sondern sitze bei den Schiffen, eine nutzlose Last der Erde, ich, der ich doch so beschaffen bin, wie kein anderer der Griechen“ (18, 104–106). Achill sieht nun klar, dass er, dessen bestes Können im Kampf liegt, all sein Potenzial im sinnlosen Herumsitzen vergeudet habe. Der Zorn verengt den Blick und droht den Fokus auf ein falsches, d. h. schädliches Ziel zu legen. Und der Zorn wächst und wird handlungsleitend, je mehr man sich den um das Unrecht kreisenden Vorstellungen hingibt. 

In der Ilias lassen sich viele Tragödien ausmachen, in denen Homer uns erstaunlich deutlich jeweils die Fehler und damit das eigene Zutun der jeweiligen Protagonisten an ihrem Scheitern vor Augen führt. Im Mittelpunkt steht natürlich Achills folgenreiche Fokussierung auf die Entehrung. Aber auch Agamemnons unbedachte Rücksichtslosigkeit („der mag dann zürnen, zu dem ich komme! – doch wahrhaftig, das können wir auch später noch einmal bedenken“ 1, 139–140) gegenüber seinem Gefolge wird später sowohl von Agamemnon selbst als auch von Nestor als folgenreicher Fehler gekennzeichnet (9, 96–120). Ebenso wird Patroklos, der sich im Erfolgsrausch und in Rage allen Mahnungen und Warnungen des Achill widersetzt, Opfer der Verengung seines Blicks. Homer kommentiert dessen Tod wie folgt: „Patroklos aber rief den Pferden zu und dem Atomedon und ging den Troern und Lykiern nach und wurde groß verblendet. Der Kindische! Denn hätte er das Wort des Peliden bewahrt, ja, er wäre entronnen der Göttin, der schlimmen, des schwarzen Todes.“ (16, 684–687)

Hektors Tragödie

Auch beim Scheitern Hektors wird sein eigener Anteil erstaunlich deutlich hervorgehoben. Mit der Weitsicht des Polydamas liefert Homer eine Folie, vor der die Gründe des Scheiterns prägnant hervortreten. Denn die Szene zwischen Polydamas – dem klugen Ratgeber der Troer – und ihrem wichtigsten Kämpfer Hektor, bietet das prägnante Gegenstück zum verengten Blick des Zornigen. Wir befinden uns im 18. Buch. Achill hat soeben vom Tod des Patroklos durch Hektor erfahren und entschieden, nun wieder selbst in den Kampf einzusteigen und Rache an Hektor zu nehmen. Sein Aufschrei dringt so klar und erkennbar bis zu den Troern vor, dass es ihnen in die Glieder fährt, deren Mut verwirrt und deren Ordnung durcheinanderbringt. Der frühzeitige Untergang der Sonne verhindert das Weiterführen der Kämpfe. Die Troer versammeln sich. Homer beschreibt den Anfang wie folgt: „Aufrecht im Stehen geschah die Versammlung, und keiner wagte, sich niederzusetzen, denn alle hielt ein Zittern, weil Achilleus erschienen war.“ (18, 246–248). Diese Reaktion, die das Aufscheinen des Achill auf dem Schlachtfeld auslöst, macht noch einmal deutlich, wie wirkmächtig der Entschluss des Achill wirklich war, als er im Streit mit Agamemnon entschied, den Kämpfen fortan fernzubleiben, und wie töricht Agamemnon gewesen sein muss, diesen berüchtigten Krieger zunächst zu bedrohen und ihn dann auch noch als entbehrlich für sein Vorhaben zu erachten. Es gibt also schlechte Neuigkeiten für die Troer: Achill kämpft nun wieder mit. Was tun? Nun tritt der besonnene, Hektor stets klug beratende Polydamas hervor. Homer führt ihn in dieser Szene folgendermaßen ein: „Und unter ihnen begann Polydamas, der verständige, mit den Reden, denn dieser blickte allein voraus wie auch zurück.“ (18, 249–258)

Die Weitsicht des Polydamas

Polydamas wird als verständig beschrieben, weil er der einzige ist, der nach vorn und nach hinten zu blicken vermag. Was das auch heißen kann, wird vor dem Hintergrund der Fehler Achills und Agamemnons deutlich. Denn während Achill mit seinem Blick in der Vergangenheit, in dem ihm zugführten Unrecht verharrte, sich der Vorstellung der Entehrung immer wieder hingab und dadurch regelrecht blind für die Folgen, blind für das Erlangen seiner eigentlichen Ziele, blind also für all das Kommende, für das vor ihm Liegende wurde, ist es bei Agamemnon und Hektor genau umgekehrt: Beide lassen sich blenden von den Verheißungen der Zukunft ohne das Vergangene miteinzuberechnen. Agamemnon lässt sich vom Zeus-Traum täuschen, ohne zu beachten, dass das Ausscheiden des Achill in dem Traum völlig ausgeblendet wird. Er ist darüber hinaus derartig auf die Nachhaltigkeit seiner Vormachtstellung fixiert, dass er das von Achill bereits geleistete komplett ignoriert und damit dessen Wert unterschätzt. Er ist nicht in der Lage, aus dem Vergangenen auf Zukünftiges zu schließen. Hektor wiederum ist so berauscht von der gegenwärtigen Lage und der Aussicht auf einen lang ersehnten Erfolg, dass er Achills Wiedereintritt in den Krieg als miteinzuberechnende Komponente vollständig außer Acht lässt. Polydamas hingegen hat den Rundumblick, hat den Weitblick, er sieht nach hinten und nach vorn, d. h. er nimmt die wesentlichen Komponenten der Vergangenheit in den Blick und zieht die richtigen Schlüsse. Das ist genau der entgegengesetzte Zustand zu dem auf die Vergangenheit fokussierten und damit vollkommen verengten Blick des Achill. Dieser Polydamas also tritt nun vor die Troer und redet, wie Homer kommentiert, mit rechtem Sinn (ἐϋφρονέων): klug und wohlwollend. Dabei zieht er alle relevanten Aspekte mit in seine Überlegungen mit ein.

In anderen Worten sagte er: ‚Ja, wir hatten in den letzten Tagen enorme Erfolge zu verzeichnen und konnten bis zu den Schiffen der Griechen vordringen. Solange Achill nicht mitkämpfte, war dieses Vordringen auch klug und sinnvoll. Doch jetzt muss mit in Betracht gezogen werden, dass Achill wieder dabei ist, und zwar in vollem Tatendrang; und er werde es nicht bei einem Kampf in der Ebene belassen, er werde bis zur Stadt vordringen, so dass auch unsere Frauen bedroht sein werden. Wenn wir hierbleiben, wird mancher von uns Achill kennenlernen (εὖ νύ τις αὐτὸν γνώσεται).’13 Achill kennenzulernen heißt: Zu erfahren, wer dieser Kämpfer wirklich ist, was ihn ausmacht, und ihm in Vollendung, in Verwirklichung seines Potenzials zu begegnen. Deshalb rät Polydamas zum Rückzug in die sichere Festung Trojas. Hier wären die Troer gut gerüstet, wie sie in den zehn Jahren zuvor die Stadt auch erfolgreich verteidigen konnten. Denn die Festung zu stürmen vermöge auch ein Achill nicht.

Blendung durch Sehnsucht und Hoffnung

Wie reagiert nun Hektor? Er illustriert zunächst die Leiden der vergangenen Jahre und präsentiert diese vor der Folie eines vergangenen Ruhms (18, 285–293). Das ist schon immer und bis heute eine besonders beliebte populistische Strategie der Überzeugung und Überrumpelung: Die Gegenwart klein zu machen und eine ruhmreiche, strahlende Vergangenheit dagegenzuhalten, ohne die veränderten Bedingungen, ohne verschiedene Aspekte und Perspektiven zu thematisieren. Allein die Sehnsucht nach altem Glanz vor dem aufgezeigten und in tristem grau ausgemalten Elend der Gegenwart blendet die Fragen nach Umsetzbarkeit und Folgen der notwendigen Maßnahmen aus. Man denke nur an Donald Trumps düstere Inaugurationsrede vom 20. Januar 2017: Die Vergangenheit war groß, unsere Gegenwart ist trist und klein. Allein der Kontrast, wenn er nicht hinterfragt wird, kann die Sehnsucht wecken, demjenigen zu folgen, der verspricht, die Zuhörer aus dem eben vor Augen geführten Elend zu führen und sie wieder groß werden zu lassen.

Hektor wendet sich nun konkret an Polydamas: „Doch jetzt, da mir verlieh der Sohn des Kronos, des krummgesonnenen, Ruhm bei den Schiffen und ans Meer die Achaier zu drängen. Törichter! Lass nicht diese Gedanken mehr sehen in dem Volke! Keiner der Troer wird dem folgen; denn ich lasse es nicht zu!“ Eine differenzierte Lagebesprechung soll folglich unterbunden werden. Denn das Abwägen und das Bedenken könnte zum Zögern führen. Hektors Blick ist eingeengt auf die Aussicht auf den Sieg. Nur diese Hoffnung soll dem Gefolge präsent sein. Handlungsrelevant wird sie dann, wenn sie nicht als Hoffnung, sondern als einziger Ausweg aus einer gegenwärtig unerträglichen Lage präsentiert wird. Genau das ist auch Hektors Strategie: Er zeichnet die Gegenwart als nicht mehr hinzunehmende Situation, er verkündet als Ziel eine Interpretation einer strahlenden Vergangenheit, deren Wiederherstellung alternativlos sei. Und er macht aus der Hoffnung eine Verheißung, indem er alles Relativierende ausblendet und nur auf das fokussiert, was die Hoffnung stützt, nämlich auf den Erfolg der vergangenen Tage! Der Gedanke, dass sich die Bedingungen mit dem Eintritt Achills vollständig verändert haben, wird verdrängt. Das ist manipulierende Rhetorik par excellence. Hektor scheint dabei jedoch nicht nur sein Volk, sondern vor allem sich selbst zu adressieren: Er manipuliert sich mit diesen Gedanken selbst. Er spricht sich Mut zu, indem er sagt: „Allen gemein ist Ares, und auch den Tötenden tötet er!“ (18, 309) Er setzt lediglich auf Kriegsglück, auf allgemeine Wahrscheinlichkeiten: Ares, der Gott des Krieges, sei allen gleich gesinnt, und auch wenn jemand eine Zeit lang erfolgreich im Krieg war, so werde dessen Glück nicht ewig anhalten. Mit anderen Worten: Bei aller Stärke, auch ein Achill müsse irgendwann einmal den Kürzeren ziehen. Das ist natürlich alles andere als ein starkes Argument. Dass ein einzelner Mensch nicht ewig und immer siegen kann, ist eine Einsicht, die die eigene Haltung prägen kann, um eigenen Übermut und Hybris zu vermeiden. Aber in einer konkreten Situation, die auch andere Wege zulässt, deren Erfolge sich mit verschiedenen Wahrscheinlichkeiten belegen lassen und bei der das Folgen des falschen Weges fatale Folgen hätte, sollte eine solche allgemeine Einsicht nicht die einzige handlungsleitende Maxime sein. Polydamas machte es deutlich: Es geht hier nicht allein um die Kämpfer und um Achill. Denn wenn sie verlieren, wäre die ganze Stadt geschwächt und in höchster Not.

Die Psychologie der Massen

Doch wie wird Hektors Antwort auf Polydamas aufgenommen? Homer kommentiert die Reaktion wie folgt: „die Troer lärmten ihm zu, die Törichten! Denn benommen hatte ihnen die Sinne Pallas Athene: Denn dem Hektor stimmten sie zu, der Schlechtes riet, dem Polydamas aber keiner, der guten Rat bedachte“ (18, 310–313). Die Gefolgsleute Hektors neigen offenbar dazu, vorschnell zu urteilen und sich emotional anstecken zu lassen: Erst reicht ein einziger Schrei, um sie zum Zittern zu bringen, dadurch zu lähmen und handlungsunfähig zu machen. Dann wiederum genügt die Erwähnung des alten Ruhms, um die Sehnsucht über alle Bedenken zu stellen. Sie, die Toren, wie Homer singen lässt, lassen sich unüberlegt auf die Bilder ein, die die Rede Hektors erzeugt, und die Konsequenz ist die Behinderung des abwägenden Denkens – oder wie Homer sagt: die Beraubung der Sinne (phrenes) durch Athene. 

Am nächsten Kampftag bestätigt Hektor erneut, dass seine ganze Hoffnung auf wackligen Beinen steht: „Fürchtet nicht den Sohn des Peleus! Auch ich könnte mit Worten auch mit Unsterblichen kämpfen; mit der Lanze ist es schwer, da sie wahrhaftig viel stärker sind. Auch Achilleus wird nicht allen Reden die Vollendung bringen, sondern das eine vollenden, das andere auch halbwegs abbrechen“ (20, 366–370). Zum einen seien es demnach nur Worte, die Achill von sich gibt, zum anderen sei es unmöglich, dass Achill alles gelinge. Auch er werde einmal scheitern. Das ist die ganze Grundlage seiner Hoffnung und der Kern seiner „Strategie“ für seine Mitkämpfer – ähnlich bedenklich wie, wenn die Taktik eines Fußballtrainers vor einem wichtigen Spiel allein aus dem Leitgedanken bestünde, dass der Gegner auch nur mit Wasser koche. Hektor nimmt also keine Rücksicht auf die besonderen, schon oft unter Beweis gestellten Qualifikationen des Achill, keine Rücksicht auf die spezifischen Bedingungen und wägt nicht Stärken gegen Schwächen ab – verhängnisvoll für diejenigen, die ihm blind folgten.

Die Konfrontation mit der Realität

Wie unbrauchbar die Gemeinplätze Hektors für das konkrete Kampfgeschehen sind, offenbart dann das Aufeinandertreffen der beiden Kämpfer. Die Troer haben mittlerweile Achills Stärke opferreich „kennenlernen“ müssen und diejenigen, die fliehen konnten, wurden vom trojanischen König wieder in die Burg gelassen. Hektor lässt sich jedoch nicht überreden, hinter die Mauern der Festung zu fliehen. Tut er dies, weil er an den Sieg gegen Achill glaubt? Mitnichten. Er bleibt vor der Burg, weil er sich schämt. Hektor spricht zu sich selbst: „O mir, ich! Wenn ich in Tore und Mauern tauche, wird Polydamas mich als erster mit Schimpf beladen, er, der mich mahnte, die Troer zur Stadt zu führen in dieser verderblichen Nacht, als sich erhob der göttliche Achilleus. Aber ich bin nicht gefolgt – freilich, es wäre viel besser gewesen! Jetzt aber, da ich das Volk verdarb durch meine Vermessenheit, schäme ich mich vor den Troern und schleppgewandeten Troerfrauen, dass nicht ein anderer einst sage, ein schlechterer als ich: ›Hektor vertraute auf seine Gewalt und richtete das Volk zugrunde!‹“ (22, 99–107) Wie bei Achill und Agamemnon das Eingeständnis des Fehlers erst erfolgte, als die Folgen des verengten Blicks nicht mehr bloß abstrakt, sondern ganz konkret und offenkundig vor Augen standen, kommt auch hier Hektor angesichts seiner drohenden Niederlage zur Einsicht: ‚Ich bin dem Rat des Polydamas nicht gefolgt – obgleich es viel besser gewesen wäre.’ Wie leer die Worte waren, mit denen er zuvor sich und seine Leute zum offenen Kampf ermunterte, erfahren wir wenige Zeilen später: „Doch da kam ihm nahe Achilleus, Hektor als er es sah, erfasste ein Zittern, und er ertrug es nicht mehr, dort zu warten, und hinter sich ließ er die Tore, schritt aus und floh!“ (22. 137–138) Eben tönte er noch: Achill werde auch einmal verlieren, Achill sei nur groß im Künden und müsse sich erst einmal im Kampf gegen uns bewähren und der Kriegsgott werde nicht immer denselben siegen lassen. In dem Moment, in dem die Konfrontation konkret ist, wird offenbar, wie an sich gültige Sentenzen als hohle Phrasen missbraucht werden, wenn sie dazu dienen sollen, oberflächliches Meinen zu stützen und den möglichen Blick auf Unterschiede in der Realität auszublenden.

Von der Alternativlosigkeit des Handelns im Zorn

Nach drei Runden um die Stadt wird Hektor von Achill gestellt. Während Hektor noch versucht, Regeln für den Umgang nach dem Kampf auszuhandeln, offenbart Achill, was Zorn mit einem Menschen macht: Der Blick ist nur gerichtet auf die Rache, alles andere, alles Abwägende, alles Relativierende, alles Bedenkende wird beiseitegeschoben: „Hektor, rede mir, Verruchter nicht von Übereinkunft! Wie zwischen Löwen und Männern kein verlässlicher Eidschwur sein kann und auch nicht Wölfe und Lämmer einträchtigen Mutes sind, sondern fort einander Böses sinnen, so kann es für mich und dich keine Freundschaft geben und können keine Schwüre uns sein, ehe nicht einer von uns gefallen.“ (22, 261–266) Achill erklärt sein Verhalten als naturrechtlich begründet. Im Zorn sind Übereinkünfte nicht denkbar. Das Verhältnis des Zürnenden zum Gegenstand seines Zorns ist ähnlich dem des hungrigen Wolfs zum Lamm. Dass diese Regeln nicht mehr gelten, wenn der Zorn abgeklungen ist, zeigt das Ende der Ilias. Achill ist nach langer Schändung des Leichnams bereit, der Bitte des Priamos, des Vaters Hektors, den Leichnam freizugeben, nachzugeben. Sein Blick ist wieder geweitet und er erkennt die Bitte als eine göttliche Bitte an (24, 560–566), d. h. er erfasst ihre Inhalte als rechtmäßig und vernünftig. Sein Zorn ist nicht mehr handlungsleitend, seine Gedanken kreisen nicht mehr ausschließlich das vermeintliche Unrecht. Hektor ist für ihn nun nicht mehr nur das Lamm, der Brennpunkt des Zorns, der Mörder des Patroklos, sondern er ist für ihn jetzt auch als Sohn des Priamos erkennbar. Erst durch diese Weitung des Blicks nimmt er auch andere Richtlinien wahr, so dass dadurch – anders als im Zorn – Handlungsalternativen für ihn relevant werden. Er erkennt nun das Gesuch als eine angemessene Bitte eines Vaters an und ist bereit, die Bestattung seines Feindes zu unterstützen: „Sein soll Dir auch dieses, Greis Priamos! wie du es forderst. Aufhalten will ich den Kampf so lange Zeit, wie du es verlangst“ (24, 669). Mit dem Ende des Zorns des Achill ist auch die Ilias an ihr Ende gelangt.

Fazit

Während in der Odyssee vor allem das übermäßige Streben nach sinnlichem Genuss und materiellen Gütern als Ursache des Scheiterns der Gefährten und Freier entfaltet wird, werden in der Ilias Ursachen, Symptome und Konsequenzen eines verengten Blicks durch ein übermäßiges Streben nach Anerkennung, Geltung oder Erfolg am Beispiel des Zorns des Achill, aber auch am Handeln anderer Helden ausführlich, intensiv und vielfältig ausgeleuchtet. Die Beseitigung glückshinderlicher Gewohnheiten stellt in der ethischen Bildung die Bedingung und damit den ersten Schritt zur Ausbildung und Entfaltung der eigenen Potenziale dar. Homer liefert mit seinen Epen Geschichten, die veranschaulichen, wie Menschen sich selbst durch ihre Gewohnheiten und Entscheidungen im Weg stehen, und die durch die drastischen Folgen für die Helden, mit denen wir mitfühlen, die Einsicht verinnerlichen, dass und wie bestimmte, uns nicht fremde Gewohnheiten und Verhaltensweisen uns auf dem Weg bei der Verfolgung unserer eigentlichen Ziele beeinträchtigen können.