Hinführung
Die Geschichte der Europa, Tochter des phönizischen Königs Agenor, die durch den in einen Stier verwandelten Gott Zeus (lat. Jupiter) von Phönizien nach Kreta entführt wird, leitet über zur Geschichte des Königshauses von Theben. Ovid verknüpft die einzelnen Mythen und auch die einzelnen Bücher häufig über solche genealogischen oder geographischen Brücken.
Das dritte Buch der Metamorphosen beginnt mit der Geschichte des Cadmus, Bruder der Europa, der seine entführte Schwester überall auf der Welt sucht, ehe er mit Hilfe eines Orakels nach Böotien geführt wird (nordwestlich von Athen), wo er die Stadt Theben und damit eine neue Monarchie gründet. Aus den Zähnen des besiegten Mars-Drachens sät er auf Geheiß der Göttin Athene (lat. Minerva) ein neues Menschengeschlecht, dem die kriegerischen Eigenschaften des Gottes Mars angeboren sind.
Actaeon ist der Enkel des Cadmus, auf dessen Geschlecht ein dunkler Fluch ruht. So bemerkt Ovid in einem auktorialen Einschub an die Adresse des Cadmus: Poteras iam, Cadme, videri exsilio felix. ... Sed scilicet ultima semper exspectanda dies homini est dicique beatus ante obitum nemo supremaque funera debet. (Schon konntest du, Cadmus, trotz deines Exiles glücklich scheinen. ... Doch muss der Mensch freilich immer den letzten Tag abwarten und kann nicht vor seinem Tod und vor dem Begräbnis glücklich genannt werden. – Met. III 131–137).
Durch solche Bemerkungen kündigt Ovid dem Leser oftmals schon im Vorhinein den glücklichen oder unglücklichen Ausgang einer Erzählung an.
Zu einem tragischen Vorfall kommt es, als Actaeon mit seinen Gefährten auf die Jagd geht. In der Mittagszeit ruhen sich alle aus; Actaeon dagegen schweift derweil durch die nahen Wälder und gerät zufällig in einen Hain, der der Diana (gr. Artemis) geweiht ist. Dorthin hatte sich die Jagdgöttin mit ihrem Gefolge von Nymphen zurückgezogen, um in einer Quelle zu baden. Ohne Absicht – per nemus ignotum non certis passibus errans (durch den unbekannten Wald unsicheren Schrittes umherirrend – Met. III 175), wie Ovid anmerkt – überrascht Actaeon die nackte Göttin und kompromittiert sie dadurch. Und da nun gerade Diana dem Ideal der Jungfräulichkeit huldigt und eine Abneigung gegen das männliche Geschlecht hegt, ist sie besonders verletzt und beschämt – einer Venus dagegen hätte eine solche Begegnung wohl weniger ausgemacht!
Zwar versuchen die Nymphen, ihrer Göttin mit ihren Körpern Deckung zu geben, doch ragt die hochgewachsene Diana über sie hinaus und ihr Gesicht überzieht sich mit Schamesröte. Damit der Fremde sich nicht in Zukunft damit brüsten kann, die Göttin nackt gesehen zu haben, benutzt Diana das Wasser als Zaubermittel und spritzt es Actaeon ins Gesicht. Gleichzeitig verflucht sie ihn mit den Worten: „Nunc tibi me posito visam velamine narres, si poteris narrare, licet.“ (Nun kannst du erzählen, dass du mich ohne Gewand erblickt hast, wenn du noch erzählen kannst.“ – Met. III 192 f.).
In der Ironie dieser Worte wird die Verletztheit der Göttin deutlich. Diese fügt dem Fluch die entsprechende Verwandlung hinzu. Actaeon bemerkt die Veränderungen zunächst nicht, doch ergreift ihn Furcht und er rennt weg, wobei er sich wundert, wie schnell er auf einmal laufen kann.
Als er wieder langsamer wird, erblickt er im Wasser entsetzt seine neue Gestalt, das scheckige Fell, die langen Läufe mit den Hufen und die Hörner auf seinem Kopf. Er will um Hilfe rufen, doch kommt nur ein langgezogener Klagelaut, ein Röhren, aus seinem Maul. Zwar ist ihm sein menschliches Bewusstsein und Empfinden geblieben, doch fehlen ihm in der Gestalt des Hirschen die Stimme und auch die Möglichkeit, sich durch Gesten verständlich zu machen.
Das Unglück nimmt seinen Lauf, als seine eigenen Hunde ihn erblicken; automatisch ist er wohl in Richtung des Lagers zurückgelaufen. Und nun beginnt eine Hetzjagd über Stock und Stein, bei der Actaeon den Hunden gegenüber, die er so gut
abgerichtet hatte, letztlich keine Chance hat.
So wie Dianas Dienerinnen zuvor mit situativ passenden Namen benannt waren – Crocale (Kiesel), Nephele (Wolke), Hyale (die Gläserne), Rhanis (Tropfen), Psecas (Sprühregen) und Phiale (Schale) –, werden auch die Jagdhunde mit sprechenden Namen versehen; Ovid zählt sie in einem regelrechten Hundekatalog auf: Melampus (Schwarzfuß), Ichnobates (Spürnase), Pamphagos (Allesfresser), Dorceus (Bergliebhaber), Oribasos (Luchs), Nebrophonos (Hirschtod), Theron (Jäger), Laelaps (Tornado) usw.
Und während Actaeon nach wie vor die Laute fehlen, um seine Hunde zur Raison rufen zu können, erschallt der Wald rings um ihn her von ihrem lautem Gekläff. Nachdem die vordersten Hunde ihn gestellt haben, gibt es kein Entkommen mehr: cetera turba coit confertque in corpore dentes (die übrige Meute kommt zusammen und schlägt ihre Zähne in seinen Körper – Met. III 236). Die harten t-Laute und die c-Alliterationen verdeutlichen die Grausamkeit des Geschehens. Man kann sich das Kläffen und das Gejaule der Hunde lebhaft vorstellen.
Actaeon schreit seinen Schmerz mit einem Klagelaut hinaus, der weder ganz menschlich noch ganz tierisch ist. Stumm lässt er seine Blicke kreisen, und da er in die Knie gesunken ist, wirkt es, als ob er flehentlich beten würde. Seine Gefährten, die die Hunde dabei noch antreiben, bedauern es - tragische Ironie des Erzählers –, dass Actaeon scheinbar nicht selbst an der spannenden Jagd teilnehmen kann. Ovid beendet die Erzählung mit dem Hinweis, dass der Zorn der Diana erst dann gesättigt gewesen sei, als Actaeon, aus vielen Wunden blutend, sein Leben ausgehaucht habe.
Actaeon
„Nee, viel zu dick!“, sagte Phil.
„Und wie ist es mit der?“, fragte Jake und deutete auf das dunkelhaarige Mädchen in violetter Bluse, die an den beiden vorbeilief. „Die geht so“, antwortete Phil.
Phil hatte braune Haare und braune Augen, Jake war blond. Beide gingen in meine Klasse. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich die beiden oft zusammen im Korridor neben der Treppe stehen sehen, wie sie sich über vorübergehende Mädchen unterhielten. Jake war ein Arschloch. Er verarschte Mädchen nach Strich und Faden, während Phil – Phil war eigentlich harmlos.
Ich habe Phil nie erlebt, wie er unfreundlich gegenüber Mädchen gewesen wäre – es sei denn, Jake war in der Nähe. Ich verstand nicht, warum Phil, der erst vor zwei Monaten auf unsere Schule gekommen war, vor ihm einen auf ganz hart machte. Vielleicht wollte er ihn beeindrucken.
Ich weiß es noch ganz genau: An diesem Tag sah ich Phil und Jake wie immer an der Treppe stehen und sich über Mädchen unterhalten. Es wäre mir nicht weiter im Gedächtnis geblieben, wäre es nicht der letzte Tag gewesen, an dem Phil und Jake dort zusammenstanden. Ein Montag war es. Ein Montag im Februar. Ein ganz normaler Montag, mit Englisch-, Physik- und Sportunterricht.
„Was ist mit der?“, fragte Jake nach einiger Zeit. Ganz unwillkürlich wandte ich den Kopf, denn sein Blick ging geradewegs an mir vorbei.
„Die ist heiß!“, hörte man Phil über den ganzen Korridor rufen. Ich atmete scharf ein. Die Blicke der beiden waren direkt auf das schlanke, rothaarige Mädchen hinter mir gerichtet, deren Augen sich nun zu dünnen Schlitzen verengt hatten.
„Perversling!“, rief ihre Freundin mit den kurzen, schwarzen Haaren sogleich und ich nickte bekräftigend.
Phil zuckte nur mit den Schultern, während Jake in lautes Gelächter ausbrach.
Die Rothaarige warf den beiden einen weiteren bitterbösen Blick zu, drehte sich um und verschwand, begleitet von der Schwarzhaarigen. Ich ging mit ihnen. Wir waren Freundinnen. Jana, so hieß sie. Das Mädchen mit den langen roten Locken. Sie war siebzehn, genau wie ich damals. Siebzehn, schlank und ziemlich hübsch. Sie war eine kleine Internetberühmtheit, lud Fotos von sich in diversen Netzwerken und Communitys hoch. Ihr Blog hatte etwa zwei- bis dreitausend Abonnenten, die meisten davon waren auf unserer Schule, der Rest aus der näheren Umgebung. Über die Stadt hinaus war sie wenig bekannt. Das war letztendlich Phils Glück, wenn man es denn so nennen wollte.
Phils Pech jedoch war, dass wir an diesem Montag noch Sportunterricht hatten. Aus Renovierungsgründen war unsere Sporthalle nicht mehr betretbar, weshalb wir unsere Pause dafür verwenden mussten, durch das halbe Dorf zur Nachbarschule zu laufen, um dort Unterricht machen zu können.
Als wir – Jana, unsere dunkelhaarige Freundin Nina und ich – dort ankamen, führte unser Weg schnurstracks zur Umkleide. Wir waren die ersten. Sofort begannen wir damit, uns umzuziehen. Jana brauchte etwas länger. Sie unterhielt sich mit Nina. Ich war mit mir selbst und meinen Physikhausaufgaben beschäftigt. Ich hatte nachmittags kaum Zeit, sie zu machen. Konzentriert überlegte ich.
Urplötzlich hörte ich einen Schrei. Aufgeschreckt blickte ich umher. Das erste, was ich sah, war Jana, in Unterwäsche, mit hochrotem Kopf, und Nina, die sich schützend vor sie gestellt hatte. Dann, an der Tür zur Umkleide, ebenso rot im Gesicht, den deutlich erschrockenen Phil.
„Raus!“, schrie Jana. „Raus! Sofort!“
Instinktiv stellte ich mich ebenfalls vor sie: „Verschwinde!“
„Du bist sowas von eklig und pervers!“, schrie Nina wütend, während Jana nach ihrem Pullover griff und ihn sich vor die Brüste hielt. „Du spinnst doch, du widerlicher Kerl“, schrie sie, fast weinend. Nina schnappte sich ihre offene Wasserflasche und warf diese in Richtung Tür. Mit einem lauten Knall landete die Plastikflasche am Türrahmen, wobei das Wasser heftig herausspritzte.
Phil zuckte zusammen: „I... , ich wollte ...“
„Raus!“, kreischte Jana noch einmal hysterisch. Phil errötete nur noch mehr: „E... , es tut mir leid“, stammelte er entsetzt, bevor er endlich zu begreifen schien, was da eben überhaupt geschehen war, völlig übereilt herausstürzte und die Tür hinter sich zuknallte.
„Der ist so ’was von pervers“, schimpfte Nina, während Jana sich hastig ihre Sportsachen überzog. Ihr Gesicht war immer noch knallrot. Sie sagte kein Wort, während die anderen Mädchen die Umkleide betraten.
„Alles in Ordnung?“, fragte ich sie ein bisschen später im Sportunterricht. Sie wandte den Blick Phil zu, der gerade in unsere Richtung schaute. Als er uns bemerkte, drehte er hastig den Kopf weg. „Ekelhafter Spanner“, murmelte Jana, „dem müsste man eine Lektion erteilen.“ Ich nickte zustimmend.
„Wenn ich mit dem fertig bin“, sagte Jana knapp, „dann wird der seines Lebens nicht mehr froh!“ Ich ließ das so stehen. Ich antwortete nicht. Ich nickte nicht. Ich sagte aber auch nichts dagegen. Ich ahnte nicht, wie ernst sie das meinte, wie ernst sie den ganzen Vorfall genommen hatte, wie beleidigt sie war.
Erst viel später ging mir auf, dass Phil ja neu auf der Schule war. Dass er vor kurzem erst in unsere Klasse gekommen war und wahrscheinlich gar nicht gewusst hatte, welche Umkleide die richtige gewesen war. Er hatte sich vertan, in der Tür geirrt. Einfach nur in der Tür geirrt. Das konnte jedem passieren, genauso mir oder Jana selbst.
Ich weiß bis heute nicht, ob es Jana auch klar geworden war. Eigentlich müsste es das. Sie musste genauso gut wie ich wissen, dass Phil sich in der Sporthalle nicht ausgekannt haben konnte!
Sie hätte sein Versehen bemerken müssen, in dem Moment, als sie seine Reaktion gesehen hatte. Er war doch genauso erschrocken wie sie. Aber vielleicht war Jana zu beleidigt gewesen, um es zu bemerken. Oder zu beleidigt, um es bemerken zu wollen. Ich weiß es nicht. Vermutlich hatte Jana gar nicht daran gedacht, er könne unabsichtlich in die Umkleide geplatzt sein.
Jedenfalls sollte das Ganze noch ein Nachspiel haben. Wie ich bereits erwähnte, besaß Jana einen relativ erfolgreichen Weblog, in dem sie hauptsächlich Fotos hochlud und diverse Geschichten und Begebenheiten aus ihrem Leben mitteilte. Keine wirklich spannenden oder weltbewegenden Sachen, aber immerhin wohl interessant genug, dass es etwa die Hälfte der Schule lesen wollte. Als ihre langjährige Freundin war ich natürlich einer ihrer ersten und treuesten Abonnentinnen und studierte ihren Blog fast täglich. Jeden Abend saß ich an meinem Computer und der erste Klick galt zumeist Jana. So auch am Abend dieses Tages.
Zuerst dachte ich mir natürlich nichts Böses. Es war wie jeden Abend. Anfangs begutachtete ich die älteren Einträge, Fotos von ihr, ihrem Hund und ihrem Bruder, ein paar Anekdoten aus der Kunst-AG, ihre neusten Einkäufe – rückblickend betrachtet alles recht belanglos. Ich überflog das meiste, bis ich plötzlich Phils Namen zu erkennen glaubte. Erst meinte ich, mich verlesen zu haben. Das wäre nicht ungewöhnlich, immerhin war es schon spät und ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Phils Name in Janas Blog auftauchen sollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Begebenheit am Vormittag schon wieder völlig vergessen.
Doch als ich genauer hinsah, bestätigte es sich. Phillip Stone. Schwarz auf Weiß. Ich betrachtete die Überschrift genauer: „ACHTUNG SPANNER!!!“, gelb unterlegt. In riesigen Buchstaben, nicht zu übersehen. Ich traute meinen Augen nicht. Meinte sie wirklich Phil?
Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass mir Phil je besonders sympathisch gewesen wäre. Gemocht hatte ich ihn nie so richtig, eben wegen seiner blöden Kommentare über Mädchen, immer wenn Jake in der Nähe war.
Und zugegebenermaßen war ich an jenem Abend auch noch ziemlich wütend auf ihn, eben wegen der Geschichte in der Umkleide – ich ging ja immer noch davon aus, er sei absichtlich hineingeplatzt.
Trotzdem, als ich Janas Eintrag las, konnte ich nicht anders, als Mitleid mit ihm zu haben. Ich hatte fast Tränen in den Augen, als ich damit durch war.
Nicht nur, dass Jana seinen Namen nannte, dass sie ein Foto von ihm und den Namen unserer Schule gepostet hatte, genauso wie die Klasse, in welche Phil ging. Sie beschimpfte ihn auch auf das Übelste. Nannte ihn pervers, einen Spanner, ein widerliches frauenfeindliches, arrogantes Arschloch. Er solle bekommen, was er verdiene, irgendjemand solle ihm Manieren beibringen, er wäre der schlimmste Mensch, den Jana je kennengelernt hätte.
Am nächsten Morgen sah ich Phil vor der Schule stehen und aufgeregt mit Jake diskutieren. Ich hörte nicht, was die beiden sagten, und war zu spät dran, um mich näher damit zu befassen. Ich bemerkte nur Phils aufgebrachte Gesten.
Als ich mich gerade an meinen Platz im Klassenzimmer setzte, hörte ich plötzlich Phil wütend hereinstürmen. Ich sah mich um. Jana war noch nicht da.
„Zum letzten Mal, ich bin kein Spanner“, rief Phil aufgebracht. „Ich hab mich in der Tür geirrt!“
Jake, der kurz nach ihm den Raum betrat, schien wesentlich gefasster: „Warum sollte sie dann so wütend auf dich sein?“
„Weiß ich doch nicht“, schrie Phil aufgebracht.
„Ich kenn dich ja erst seit ein paar Wochen“, sagte Jake, „aber das hätte ich echt nicht von dir gedacht!“
„Aber ich ...“, begann Phil hilflos. Doch Jake unterbrach ihn: „Mal einer auf dem Flur hinterherschauen, okay. Aber in Mädchenumkleiden rumwühlen ist echt pervers. Du spinnst doch!“ Phil atmete scharf ein.
„Mit so jemandem wie dir will ich nichts mehr zu tun haben. Du hast echt keinen Respekt vor Frauen“, fuhr Jake fort.
Phil seufzte und setzte sich auf seinen Platz. „Lass mich in Ruhe, ja?“
Jana kam nicht. Als Nina ihr in der Pause per Handy eine Nachricht schrieb, antwortete sie nur, sie sei krank. Also standen Nina und ich zu zweit im Pausenhof, als plötzlich Phil an uns vorbeilief.
Zuerst wollte ich ihn ansprechen, denn inzwischen schien es für mich durchaus plausibel, dass er sich nur in der Tür geirrt hatte. Sicher war ich mir zwar noch nicht, trotzdem fühlte ich mich verpflichtet, ihn wenigstens zu fragen, ob alles in Ordnung sei. Doch jemand kam mir zuvor.
Zwei ältere Schüler ergriffen ihn von hinten und drückten ihn an die Wand.
„Ich hab gehört, du stellst gern Mädchen nach“, sagte der eine.
Phil wollte etwas sagen. Die beiden ließen ihn nicht zu Wort kommen.
„Findest du das nicht widerlich?“
„Dass du dich nicht schämst!“
„Du bist echt das Letzte!“
Ein großer Kreis bildete sich um die drei. Wie mir auffiel, waren die meisten gekommen, um die beiden Älteren anzufeuern. Keiner sagte ein Wort zu Phils Verteidigung. „Eine ordentliche Tracht Prügel hätte der verdient“, rief ein Achtklässler von weiter hinten.
„Das würde ihm jedenfalls guttun“, antwortete einer der beiden Schüler, die Phil am Kragen gepackt hatten. „Aber ich kann mir das nicht leisten. Ich fliege von der Schule, wenn ich noch einmal auffällig werde.“
Er ließ Phil los. Der hatte die Lippen fest zusammengepresst und Tränen in den braunen Augen. Feindselig blickte er die älteren Schüler an, ohne jedoch ein Wort zu sagen.
„Glaub mir, du nimmst dich besser in Acht“, sagte der eine. Und der andere fügte hinzu: „Wenn wir könnten, hättest du schon längst bekommen, was du verdienst!“
Mit diesen Worten gingen die beiden und der Kreis um sie und Phil löste sich allmählich auf. Nur Phil blieb zurück, wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und verschwand dann wieder in der Schule.
Am nächsten Morgen sah ich Phil auf dem Weg zu seinem Spind, um seine Kunstsachen herauszuholen. Ich kam zufällig vorbei. Ich hatte keinen Kunstunterricht.
In den Klassenraum war er an diesem Morgen gar nicht erst gegangen. Vielleicht aus Angst, um den anderen aus dem Weg zu gehen, oder einfach, weil es ihm langsam zu dumm wurde, sich und seinen Irrtum in der Umkleide zu erklären. Ich überlegte kurz, ihn anzusprechen, ließ es aber bleiben. Ich war mir nicht sicher, ob er das wollte. Immerhin war ich Janas Freundin und ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, was er im Moment von Jana halten musste.
Jedenfalls bemerkte ich ihn, wie er den Flur entlangging und vor seinem Spind stehen blieb. Zuerst war das nicht weiter merkwürdig, ich stand dort und wartete auf Nina. Jana hatte sich für den Rest der Woche krankschreiben lassen. Wohl eine Erkältung.
Als Phil sich jedoch ganze zwei Minuten nicht von der Stelle bewegte, wurde ich aufmerksam. Ich sah genauer hin und erkannte an Phils Spind ein großes Plakat, auf welches mit roter Sprühfarbe „Spanner“ geschrieben stand.
Nina lachte; ich wusste nicht recht, was ich denken sollte. Phil starrte es nur an, stand stumm davor, als sei es unberührbar.
Plötzlich kam ein Mädchen aus einer der unteren Klassen vorbei, lachte ebenfalls und brüllte: „Hast du nicht anders verdient, du Arschloch!“
Ein paar nebenstehende Achtklässler stimmten lautstark mit ein. Phil sah sich wütend um, mit hochrotem Kopf; ich konnte nicht sagen, ob vor Wut oder Scham. Dann packte er das Plakat mit beiden Händen, zog es von der Spind-Tür ab und zerriss es in winzige Fetzen. Dahinter stand das Gleiche noch einmal, diesmal direkt auf den Spind gesprayt, in rot leuchtender Schrift.
Ohne seine Kunstsachen zu holen, warf Phil die übriggebliebenen Fetzen in die Luft, trat einmal kräftig gegen die Wand und rannte wütend davon.
Der Vorfall blieb nicht der einzige an diesem Tag. Jemand warf Phils Schultasche aus dem Fenster. Ich sah es, als ich während der Pause nach einem Lehrer suchte. Phil saß im Pausenhof, beschäftigt damit, die hinausgefallenen Sachen wieder auf-zusammeln und einzuräumen. An diesem Tag wechselte er kaum ein Wort mit den anderen Schülern, und wenn doch, dann nur ein trockenes „Zum letzten Mal, es war ein Versehen!“
Ich überlegte den ganzen Tag, ob ich ihn ansprechen sollte. Ich überlegte, ob ich bei Jana ein gutes Wort für ihn einlegen sollte, ob ich die Vermittlerin spielen sollte. Ich traute mich nicht. Dennoch nahm ich es mir vor. Am nächsten Morgen, vor`m Unterricht, würde ich mit Phil sprechen und ihm meine Unterstützung anbieten. Mit diesem Vorsatz verließ ich die Schule.
Doch dazu sollte es nicht kommen. Auf dem Nachhauseweg fiel mir auf, dass ich mein Handy im Klassenzimmer unter`m Tisch hatte liegen lassen. Ich dachte kurz nach, ob ich es wirklich brauchen würde. Ich war schon fast zu Hause. Ich seufzte und machte kehrt. Ohne Handy ging es heute nicht.
Glücklicherweise fand ich den Klassenraum offen vor. Es war noch Pause und kein Lehrer war zu sehen. Froh, dass ich mein Handy wiederhatte, wollte ich das Schulgebäude verlassen, als ich Phil entdeckte, wie er gerade dabei war, durch den Hinterausgang nach draußen zu gehen. Ich drehte mich um und folgte ihm, unentschlossen, ob ich ihn wirklich ansprechen sollte.
Vor der Glastür blieb ich stehen und sah Phil eine Weile nach. Als ich mich gerade dazu aufgerafft hatte, ihn anzusprechen, bemerkte ich plötzlich zwei Gestalten, an einer Hauswand lehnend. Ich erkannte die beiden Oberstufenschüler, die Phil schon zuvor gedroht hatten, doch bevor ich die Tür aufreißen und ihn warnen konnte, hatte einer der beiden ihn am Kragen und drückte ihn gegen die Wand. Ich war wie gelähmt. Sollte ich eingreifen, Hilfe holen?
Der Zweite holte zum Schlag aus. Ich öffnete die Tür, wollte gerade etwas rufen, als ich den Lehrer bemerkte, der unvermittelt die Straße entlang kam. Blitzartig ließen die beiden von Phil ab. Ich sah, wie sie versuchten, sich vor dem Lehrer zu erklären, der sich jetzt drohend vor ihnen aufgebaut hatte, während Phil hastig davonrannte. Es war das letzte Mal, dass ich ihn zu Gesicht bekam.
Am nächsten Morgen kam Phil nicht zur Schule, auch den Tag danach nicht. Dann war Wochenende. Am Montag kam Jana wieder. Nina und ich freuten uns, sie zu sehen. Sie fragte nicht einmal nach Phil, dessen Platz auch diese Woche leer blieb. Als ich ein paar Wochen später Jake fragte, erfuhr ich, dass er die Schule gewechselt hatte. Er erklärte mir, dass es auch gut so sei, denn solche wie ihn wolle er persönlich nicht in seiner Klasse wissen. Ich ließ es unkommentiert.
Deutungshinweise
Grundmotiv des Actaeon-Mythos ist der Antagonismus von weiblicher Scham und männlicher, offensiver Dominanz, die in ihre Schranken gewiesen wird.
Tiefenpsychologisch ist Actaeon eine symbolische Erzählung über den (für die weibliche Psyche) potenziell bedrohlichen männlichen Sexualtrieb und die starke Abwehr gegenüber der „Zudringlichkeit“ des Mannes. Auf moralischer Ebene ist es eine Lehrerzählung über die bösen Folgen mangelnder Zurückhaltung.
Das Verhalten der Göttin Diana ist von Emotionen geprägt. Sie fühlt sich verletzt und bloßgestellt, um so härter fällt ihre Reaktion aus. Dabei dreht sie – geschickt, wie nur Götter es sind – in ironischer Weise die Situation um. Actaeon, der bisher als Jäger die Wälder durchstreifte, wird nun selbst zum Gejagten. Ovid beschreibt eingehend die Hilflosigkeit des Actaeon, der – in der Gestalt des Hirschen gefangen, der Sprache und der Kommunikationsfähigkeit beraubt – keinerlei Möglichkeit hat, das Missverständnis aufzuklären.
Tragisch ist die Erzählung, da Actaeon ungewollt und „schuldlos“ Schuld auf sich lädt und seinem Verhängnis nicht entgehen kann. Ovid hat darin wohl auch – so die Forschung – sein eigenes Schicksal verarbeitet. 8 n. Chr. von Augustus wegen eines error (Irrtum, Fehltritt) verbannt, lässt die Bemerkung non certis passibus errans (unsicheren Schrittes irrend), die der Entschuldigung des Actaeon dient, an Ovid selbst denken. War das Verbannungsurteil nicht ähnlich hart wie die Bestrafung des Unschuldigen durch die Göttin Diana, die darin einzig und allein ihrem Zorn folgt?
Nachdruck mit freundlicher Erlaubnis der Autorin aus dem kürzlich erschienenen Buch Ovids Metamorphosen in modernen Kurzerzählungen von Rebekka Strathausen, (Reihe nugae. Kleinere Beiträge zur lateinischen Literatur, Ovid-Verlag, Bad Driburg 2017)