Einleitung

Das Lehrbuch Mythologia1 ist in seiner Anlage vor allem auf ein Ziel ausgerichtet: Möglichst flüssiges Lesen und Verstehen griechischer Kunsttexte zu ermöglichen. Dies ist in der Spracherwerbsphase mit Blick auf die Sprachkompetenz sinnvoll und die Umsetzung in den einzelnen Bänden größtenteils sehr gelungen2. Was in den einzelnen Lektionen, vor allem im ersten Band, jedoch etwas knapp ausfällt, sind Angebote zu vertieftem Arbeiten mit dem übersetzten Text der jeweiligen Lektion sowie Möglichkeiten, interpretative Zugänge zu den dargebotenen Inhalten einzuüben. Doch auch in der Spracherwerbsphase, die mit Hilfe eines Lehrbuches gestaltet wird, kann und sollte vertieft mit dem übersetzten Text gearbeitet werden, um erste Interpretationskompetenzen in der Lerngruppe aufzubauen3; dabei sollte auch die intensivere Auseinandersetzung mit den Inhalten durch zusätzliche Impulse oder Fragestellungen gefördert werden. Es liegen für einzelne Lektionen aus dem Lehrbuch bereits Vorschläge für derartige Erweiterungen vor4

Der hier skizzierte Entwurf dient als Supplement zu Lektion 10 in Band 1 und stellt den Versuch dar, anhand von zusätzlichem Material sowohl eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Text zu erzielen als auch weitere Impulse zu setzen, um die Kreativität der Schüler und Schülerinnen zu fördern. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Lektionstext bereits übersetzt und somit inhaltlich erschlossen wurde. Der Schwerpunkt der hier vorgestellten Erweiterung liegt auf dem Verhalten des Herakles vor dem Hintergrund der Frage, wie sein Trick gegenüber Atlas beurteilt werden kann. Ebenfalls in den Blick genommen wird die Frage, wie Atlas’ Weigerung, den Himmel zurückzunehmen, zu bewerten ist. Des Weiteren sollen in einem Nachgang alternative Gesprächsverläufe skizziert werden, die den Trick des Herakles durch deutliche Aushandlungen zwischen Atlas und Herakles erschweren. So können hier entweder konkretere Abmachungen ausformuliert oder Rückversicherungen bei Übertreten der Abmachungen ausgearbeitet werden. 

Herakles ist den Schülern und Schülerinnen bereits bekannt, dominiert der Halbgott doch von seiner außergewöhnlichen Geburt an (L. 6) bis zu seinem spektakulären Tod (L. 11) den Großteil des ersten Mythologia-Bandes. Zum Zeitpunkt der Lektüre von Lektion 10 haben die Schüler und Schülerinnen nicht nur von seiner Geburt gelesen, sondern auch den angehenden Helden am Scheideweg kennengelernt, wo er ein mühevolles Leben zum Erwerb der ἀρετή wählt, das ihm Ruhm bringen soll (L. 7). Sie haben bereits erfahren, wie er die olympischen Götter gegen die Giganten unterstützte (L. 8) und kennen mindestens eine der zwölf Aufgaben: die Tötung des Nemeischen Löwen (L. 9). Der Text „Die Äpfel der Hesperiden“ (L. 10, S. 44–46) erzählt nun, wie Herakles die vorletzte seiner zwölf Aufgaben bewältigt, indem er ans Ende der Welt gelangt und mit Atlas’ und Athenes Hilfe die goldenen Äpfel der Hesperiden beschafft. 

Herakles als Held in Mythologia

Herakles gilt als widersprüchlicher Held und wurde bereits in der Antike, aber auch in seiner reichen Rezeptionsgeschichte ganz unterschiedlich bewertet5. Vom Nationalhelden über den tumben Kraftprotz bis zum grausamen Mörder tauchte er zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Gestalt wieder auf.6 Die Schüler und Schülerinnen mögen ihm auch in Comics oder Filmen begegnet sein, die meist ebenfalls ein gebrochenes Heldenbild präsentieren.7 Trotz dieser ambivalenten Darstellung der Figur in der Literatur- und Rezeptionsgeschichte erscheint Herakles in der Mythologia ausschließlich in positivem Licht, weil entsprechende Ausschnitte aus seinem Mythos ausgewählt worden sind. Er ist fraglos ein Held: Nur durch ihn kann die Ordnung der Welt erhalten werden, denn gegen die Giganten sind die olympischen Götter auf seine Hilfe angewiesen. Am Scheideweg verpflichtet er sich zudem selbst der ἀρετή und entsprechend zeigt ihn das Abenteuer mit dem Nemeischen Löwen als Wohltäter und Retter der Menschen. Der kritischste Aspekt seiner Heldenbiographie, an dem sich die Rezeption abarbeitet, fehlt in Mythologia: Herakles’ Wahn und der daraus hervorgehende Mord an seiner Familie. Diese Episode lässt Mythologia aus und überspringt somit auch die mögliche Funktion der Aufgaben als Sühne sowie die Streitbarkeit seiner Apotheose. Der grausamste Teil der herakleischen Geschichte ist den Schülern und Schülerinnen im ersten Lernjahr nicht zugemutet worden. Es ist jedoch erstrebenswert, dass die Schüler und Schülerinnen im Unterricht tradiertem Heldentum auch kritisch begegnen. Bereits in Lektion 1 gibt Mythologia geeignete Impulse, um sich mit dem Heldenbegriff – auch mit Bezug zu modernen Vorstellungen – auseinanderzusetzen (S. 8, Aufgabe 1). In einer anspruchsvollen und offen formulierten Aufgabe sollen die Schüler und Schülerinnen das Heldentum trojanischer Krieger mit heutigen Vorstellungen vergleichen. Doch obgleich es sich beim Thema Herakles anböte, wird die Frage nach Heldentum gerade in der Herakles-Einheit nicht wieder aufgenommen8.

Zum vorgeschlagenen Unterrichtssetting 

Wie der vorliegende Entwurf zeigt, bietet Lektion 10 dennoch die Möglichkeit, sich kritisch mit Herakles auseinanderzusetzen, ohne die Schüler und Schülerinnen mit einer Einordnung seiner Gräueltat zu überfordern. Der Text „Die Äpfel der Hesperiden“ ist einer der umfangreichsten des ersten Mythologia-Bandes. Die Schüler und Schülerinnen mögen den Plot bereits kennen, da die Äpfel als Attribut des Herakles im Unterricht thematisiert wurden.9 In der ersten Hälfte wird Herakles’ Weg zu Atlas geschildert (Z. 1–15). Die zweite Hälfte widmet sich dem Geschehen bei Atlas „am Ende der Welt“ (Z. 16–33). Hier werden die Schüler und Schülerinnen mit einer in direkter und indirekter Rede gehaltenen Szene konfrontiert: Herakles bittet den Titanen um Hilfe. Dieser verschafft ihm die Äpfel, während Herakles mit Athenes Unterstützung den Himmel hält. Als Atlas mit den Äpfeln zurückkehrt, will er sie Herakles geben, jedoch nicht wieder den Himmel tragen, der so lange auf seinen Schultern lastete. Mit der von Athene eingegebenen List, dem scheinbaren Einverständnis und der Bitte, Atlas solle nur kurz den Himmel halten, während Herakles sich ein Kissen unterlege, manövriert er sich aus der Situation. 

Die Szene in der zweiten Hälfte der zehnten Lektion zeigt Herakles somit als Helden, der nicht durch seine Körperkraft brilliert – Athene muss ihm sogar helfen, den Himmel zu halten –, sondern sich durch einen kreativen Einfall aus der misslichen Lage befreit. Während er an Odysseus
erinnert, ist eher Atlas der ‚tumbe Kraftprotz‘. Die Szene stellt die Interaktion zwischen Herakles und Atlas ganz in den Vordergrund. Die Schüler und Schülerinnen erfahren nicht etwa, was in den „vielen Stunden“ im Garten der Hesperiden geschieht und auch nichts von Atlas’ Geschichte, die zu seiner Strafe führt. Im Text wird das Geschehen nicht weiter kommentiert und auch von Atlas’ Reaktion ist nicht die Rede. Vielmehr endet der Lektionstext lakonisch mit der Pointe: Μετὰ δὲ τούτους τοὺς λόγους ὁ Ἡρακλῆς τῷ Ἄτλαντι ἐπ·έτρεψε τὸν οὐρανόν (Z. 32–33). 

Herakles sagt scheinheilig zu Atlas, dieser spreche Gerechtes („Δίκαια λέγεις“). Unter dem Eindruck des Textes fokussiert die vertiefte Auseinandersetzung die Frage: Handelt Herakles denn gerecht? Atlas hat Herakles bereitwillig geholfen. Er hat auf sein Flehen (Z. 17) reagiert, ohne eine Gegenleistung zu fordern. Herakles versucht jedoch gar nicht erst, mit ihm zu verhandeln, sondern lügt ihn wenig raffiniert an und rechnet mit seiner Gutmütigkeit. Atlas wird regelrecht vorgeführt und erscheint in seiner Naivität fast komisch. Die Schüler und Schülerinnen erkennen die moralische Fraglichkeit der immerhin von Athene eingegebenen List, können aber für beide Seiten Argumente finden. 

Einsteigen ließe sich mit einem Zitat aus Simon Solbergs „Herakles“ (2019): „Jeder trage seine Last zum Wohle aller!“10Die Schüler und Schülerinnen sollen zunächst beschreiben, wie dieses Zitat mit dem Inhalt der Geschichte in Verbindung zu bringen ist. In Form des moralischen Imperativs regt das Zitat zu ersten Überlegungen darüber an, wie das Verhalten der beiden Figuren zu bewerten ist. In einem weiteren Schritt lässt sich ausgehend von einer antiken Definition von Gerechtigkeit (s. Kasten unten) präziser fragen, ob Herakles in der beschriebenen Situation gerecht handelt oder nicht. Oder aber, ob man Atlas hier gerechtes Handeln attestieren kann. Die der Politeia entnommenen Zitate weisen die Schüler und Schülerinnen auf den Maßstab einer ausgleichenden Gerechtigkeit hin, die im vorliegenden Fall nicht leicht herzustellen ist.


Was ist Gerechtigkeit (δικαιοσύνη)? Eine antike Bestimmung

Der Frage nach der Gerechtigkeit ging schon der große Philosoph Platon (427 v. Chr.–347 v. Chr.) nach. In seinem Hauptwerk, der Politeia (übersetzt mit Der Staat), lässt er seine im Text auftretenden Figuren mehrere Bestimmungen für Gerechtigkeit vorbringen. Diese lauten unter anderem:

1. Gerecht ist, einem jedem das, was man ihm schuldet, zu gewähren. Siehe 335e1–2: Εἰ ἄρα τὰ ὀφειλόμενα ἑκάστῳ ἀποδιδόναι φησίν τις δίκαιον εἶναι […].

2. Gerecht ist, das zu tun, was den eigenen Fähigkeiten am besten entspricht. Siehe 433 b3–4: Τοῦτο τοίνυν, ἦν δ' ἐγώ, ὦ φίλε, κινδυνεύει τρόπον τινὰ γιγνόμενον ἡ δικαιοσύνη εἶναι, τὸ τὰ αὑτοῦ πράττειν.


Die Lerngruppe kann anschließend Argumente für oder gegen die Zuschreibung von Gerechtigkeit an eine der beiden Figuren anführen und einzeln darüber abstimmen. Es kann erwartet werden, dass auf der einen Seite Atlas’ Pflicht in den Vordergrund rückt: Es ist nun einmal seine Aufgabe, den Himmel zu tragen (siehe auch das Schülerprodukt Auszug 1). Auf der anderen Seite könnte man nun anführen, dass Atlas und Herakles keine Spezifizierungen in ihrer Vereinbarung getroffen haben. Atlas verstößt somit streng genommen nicht gegen bestimmte Abmachungen. Doch auch Herakles hat sich, soweit wir lesen, nicht dazu verpflichtet, den Himmel fortan zu tragen. Da ihm ein anderes Leben bestimmt ist, muss er sich von der Last auf seinen Schultern befreien. Dazu rät ihm immerhin auch Athene, die ihm die List eingibt. Man könnte ihm jedoch vorwerfen, mit Atlas’ Hoffnung auf Freiheit gerechnet und ihn absichtlich getäuscht zu haben. Zudem lügt er Atlas an, statt mit ihm zu verhandeln. Welche Argumente wiegen schwerer?

gerechtigkeitswaage

Visualisieren lässt sich dies grafisch mit einer „Gerechtigkeits-Waage“ (s. Abb. 1), die das genaue Abwägen nach den platonischen Gerechtigkeitsdefinitionen verbildlicht. In der Grafik halten die Schüler und Schülerinnen gemeinsam die Argumente fest, füllen so die den beiden Figuren zugewiesenen Schalen mit Stichpunkten und stimmen darüber ab. 

Als Abschluss der kurzen Einheit bietet sich eine Podiumsdiskussion an: Das Zitat Solbergs kann hierbei wieder aufgenommen werden und als Impuls dienen. Handelt Herakles mit seiner List „zum Wohle aller“, da er als Wohltäter frei sein muss? Eine Bindung des Herakles an das Tragen des Himmels lässt die Erde einen Helden verlieren. Wer soll sonst die Welt beschützen, so wie er es vorher immer getan hatte? Und ist es nicht einfach legitim, Atlas wieder in ‚seine Last‘ zu manövrieren? Immerhin ist es die ihm zugeteilte Aufgabe zum Wohle aller. 

Einen Angelpunkt könnte im Rahmen der Diskussion auch die Doppeldeutigkeit von „Last“ im Zitat darstellen – Atlas als einer, der sein Schicksal zu akzeptieren hat? Die Diskussion verfolgt dabei zwei Ziele: Erstens das kritische Reflektieren des Mythos. Die Schüler und Schülerinnen sollen dabei zu der Erkenntnis geführt werden, dass der Mythos offen ist und Helden nicht zwangsläufig moralische Vorbilder sind. Zweitens wird dadurch ein Anlass geschaffen, Argumentation und die Präsentation der eigenen Argumente einzuüben.

Um die Kreativität der Lerngruppe zu fördern, ließe sich ein eigener Dialog zwischen den beiden Figuren des Mythos unter folgenden Leitfragen anfertigen: Wie hätte die Interaktion zwischen Herakles und Atlas alternativ verlaufen können? Wie könnte Herakles argumentieren, dass Atlas den Himmel wieder übernehmen soll? Hier können die Schüler und Schülerinnen kreativ an den dialogischen Lektionstext anknüpfen oder diesen umschreiben und ein eigenes ‚Rezeptionsdokument‘ erstellen (zwei Auszüge aus einer achten Klasse im zweiten Lernjahr am Goethe-Gymnasium Berlin-Wilmersdorf finden sich in den Kästen unten). Atlas und Herakles können den Konflikt bspw. ausdiskutieren oder die Abmachung im Vorhinein präzisieren. Dieser Aufgabentypus motiviert eventuell auch Schüler und Schülerinnen, deren Stärken nicht im Spracherwerb liegen. Hier sind Phantasie und Empathie gefordert, da es gilt, sich in zwei verschiedene Perspektiven hineinzuversetzen. Die Aufgabe ermöglicht ferner einen Lebensweltbezug (Erkenntnis hinsichtlich der Notwendigkeit, Abmachungen genau festzulegen und einzuhalten). Auch ganz andere Vorschläge – etwa, dass die Hesperiden auch einmal den Himmel halten könnten – sind denkbar. Dies bietet zusätzlich Gesprächsanlässe über die Eigenschaften des Mythos als bedingt veränderbares kulturelles Konstrukt. Die Schüler und Schülerinnen erfahren so nicht nur die Offenheit des Mythos, sondern „arbeiten“ selbst an ihm und erfahren seine Wandelbarkeit im eigenen Tun.

Auszug 1:

Atlas kommt.

Herakles: „Hallo, nimm mir bitte endlich diese schwere Last ab.“

Atlas: „Ich habe dir gerade die Äpfel meiner Töchter gebracht. Jetzt siehst du mal, welche Last ich immer bei mir trage.“

Herakles: „Den Himmel zu tragen, ist deine Strafe und ich werde dir diese Strafe nicht abnehmen, denn du warst auf der Seite der Titanen und musst nun für deine Tat büßen.“

Atlas: „Wärst du lieber in den Tartaros geschickt worden? Oder hättest du doch lieber den Globus getragen?“

Herakles: „Nimm mir einfach den Globus ab – es ist nicht meine Aufgabe.“

Atlas: „Nein, behalt ihn.“

Auszug 2:

Herakles: „Hallo Atlas! Wie wäre es mit einem kleinen Tausch? Du holst mir die Äpfel der Hesperiden und ich halte so lange den Himmel für dich.“

Atlas: „Das klingt wunderbar! Endlich werde ich einmal von meiner Last befreit!“

Herakles: „Das habe ich mir gedacht. Aber versprich mir eins: Sobald du wieder da bist, nimmst du den Himmel wieder als deine Last.“

Atlas: „Aber was habe ich denn davon?“

Herakles: „Na ja, für ein paar Stunden bist du von deiner ewigen Last befreit, und wenn du zurückkommst, steht Athena an deiner Seite, um dir beim Tragen des Himmels zu helfen. Das ist es dir doch wert, oder nicht?“

Atlas: „Na gut, in Ordnung, so machen wir es.“ 

Die Auseinandersetzung mit Lektion 10 macht den Mythologia-Text lebendig: Die Figuren Herakles und Atlas gewinnen an Tiefe, da ihre praktischen und psychologischen Motive erläutert und Charaktereigenschaften herausgearbeitet werden. Indem die Schüler und Schülerinnen ihr Verhalten bewerten, diskutieren sie an einem fiktiven, unverfänglichen Beispiel grundsätzlich über Gerechtigkeit und Heldentum. Sie erkennen, dass der Mythos nicht auf eine Moral abzielt, sondern von spielerischer Vieldeutigkeit lebt. So festigen sie nicht nur ihr griechisches Vokabular, sondern vermehren auch ihr kulturelles Wissen und üben sich im Textverständnis.