Angelos Chaniotis: Die Öffnung der Welt. Eine Globalgeschichte des Hellenismus,
Aus dem Englischen übersetzt von Martin Hallmannsecker, WBG Theiss,
Darmstadt 2019, 544 Seiten, 38 sw Abbildungen,
8 Karten, ISBN 978-3-8062-3993-5, 35.00 €

Dieses Buch geht auf Vorlesungen zurück, die Angelos Chaniotis in den Jahren 2001–2006 an der Universität Heidelberg gehalten hat. Nach starker Überarbeitung erschienen diese 2018 bei Profile Books Ltd. London unter dem Titel Age of Conquests. The Greek World from Alexander to Hadrian (336 bc – ad 138). 2019 kehrte das Buch quasi unter dem Titel Die Öffnung der Welt. Eine Globalgeschichte des Hellenismus wieder nach Deutschland zurück.
Der Althistoriker Angelos Chaniotis hat nach Stationen an der New York University, der Universität Heidelberg und der Universität Oxford seit 2010 eine Professur am Institute for Advanced Study in Princeton inne. Chaniotis hat sich insbesondere auf die hellenistische Geschichte und die griechische Epigraphik spezialisiert und sich international einen Namen gemacht. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Phönix-Orden der griechischen Republik, dem Forschungspreis des Landes Baden-Württemberg und dem mit 250.000 Euro dotierten Anneliese-Maier-Forschungspreis der Alexander von Humboldt Stiftung.
Angelos Chaniotis erzählt in seinem Buch die Geschichte zweier Epochen, die sonst durchwegs getrennt voneinander behandelt werden: das hellenistische Zeitalter und die frühe römische Kaiserzeit. So zeigt er, wie sehr die Kultur der Griechen die darauf folgenden Epochen weit über die Zeit der altrömischen Kaiser hinaus prägte. Daraus zieht er nun den Schluss, dass man beide, bislang eher getrennt betrachteten Epochen deutlich stärker zusammen sehen müsse. Das hellenistische Zeitalter lässt man für gewöhnlich mit den Kriegszügen (ab 334 v. Chr.) oder dem Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.) beginnen und mit dem Tod Kleopatras (30 v. Chr.) enden. Für die frühe römische Kaiserzeit dienen die Einrichtung der monarchischen Herrschaft des Augustus (27 v. Chr.) und der Tod Hadrians (138 n. Chr.) als Markierungspunkte. Chaniotis betont, dass sich die Quellenlage im Lauf des 20. Jahrhunderts mit den Fortschritten der Archäologie, mit der Veröffentlichung von Inschriften und der Erforschung von Papyri und Münzen gravierend verändert habe. All dies spreche dafür, die Epochengrenzen neu zu iustieren.
Chaniotis nennt die neu begrenzte Zeitspanne von Alexander bis Hadrian das „lange hellenistische Zeitalter“ (12). „Die verbindenden Elemente, die dieses auch von vorhergehenden Epochen unterscheiden, sind: Die Bedeutsamkeit monarchischer Herrschaftsformen; die starke imperialistische Tendenz als Kennzeichen der Politik sowohl hellenistischer Könige als auch des römischen Senats; die enge Verflechtung politischer Entwicklungen im Balkanraum, in Italien, in der Schwarzmeerregion, Kleinasien, im Nahen Osten und in Ägypten; die erhöhte Mobilität der Bevölkerung in diesen Gebieten; die Verbreitung städtischer Lebensformen und Kultur; technologische Fortschritte; und die allmähliche Homogenisierung von Sprache, Kultur, Religion und Institutionen. Die meisten der eben genannten Phänomene hatte es vor Alexanders Kriegszügen nicht in einem vergleichbaren Ausmaß gegeben. ... Viele (davon ...) finden eine Entsprechung in der modernen Welt, und unter anderem diese ‚Modernität‘ macht die Epoche so attraktiv“ (14).
Chaniotis ist überzeugt davon, dass es irreführend wäre, die „Prozesse kultureller Konvergenz für die hellenistische Zeit als ‚Hellenisierung‘ und für die Kaiserzeit als ‚Romanisierung’ zu bezeichnen ... Beide Begriffe implizieren eine einseitige Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie – die Entwicklung einer kulturellen koine (einer gemeinsamen Ausdrucksform) im ‚langen hellenistischen Zeitalter‘ war aber das Ergebnis längerer und weitaus komplexerer Prozesse. Ihre Protagonisten waren nicht nur Personen mit politischer Autorität, sondern auch Reisende, Künstler, Red-ner und Dichter, Soldaten und Sklaven sowie Magier und Traumdeuter, die sich über Grenzen hinwegbewegten. Es war also die erhöhte Mobilität in den multiethnischen Königreichen und im Römischen Reich, die eine solche kulturelle Konvergenz brachte; sie führte auch dazu, dass verschiedene religiöse Vorstellungen verschmolzen, was als ‚Synkretismus‘ bezeichnet wird“ (15f.).
Mit seinen Eroberungen schuf Alexander zwar kein Weltreich von Dauer, dafür aber die Voraussetzungen für die Entstehung eines politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Netzwerks, das
buchstäblich die gesamte damals bekannte Welt umfasste. Die Entstehung von Metropolen, Weltbürgertum und Lokalpatriotismus, technologische Innovationen und neue Religionen wie das Christentum, aber auch soziale Konflikte und Kriege gehören zu den Kennzeichen dieser Welt. Globalisierung, Mobilität und Multikulturalität – die Fragen, die die alten Griechen beschäftigten – sind auch heute von großer Bedeutung. Wer das Wesen der Globalisierung mit all seinen positiven und negativen Folgen verstehen will, der sollte mit diesem faktenreichen Sachbuch das erste Auftreten dieses Phänomens in der Alten Geschichte erkunden.
Erfrischend bisweilen jene Passagen, in denen Angelos Chaniotis seinen Landsmann, den Dichter Konstantinos Kavafis aus Alexandria (1863–1933) und seine Gedichte (41, 144. 234. 267, 458) zitiert.
Eine Liste von Quellentexten, eine eher knappe Bibliographie sowie weiterführende Literatur, den 16 Buchkapiteln zugeordnet, befördert vertiefte Recherche. Ein zwanzigseitiges Register erleichtert die gezielte Suche nach Namen, Orten und Begriffen beträchtlich.
Elke Stein-Hölkeskamp, Die feinen Unterschiede. Kultur, Kunst und Konsum im Antiken Rom.
Münchner Vorlesungen zu antiken Welten, Band 5. De Gruyter Verlag Berlin/Boston, 137 Seiten, 2019,
ISBN 978-3-11-061408-4, € 69.95

Bei der Erforschung der römischen Eliten stand bislang ihr ebenso intensives wie alternativloses Engagement in Politik und Militär im Mittelpunkt; Stichwort Cursus honorum. Die Autorin hinterfragt in ihrem Buch, einer Sammlung von sechs Vorlesungen, die sie im Herbst 2014 auf Einladung auf die Münchner Gastprofessur für Antike Kulturgeschichte hielt, die anhaltende Exklusivität dieses Lebensmodells und wirft einen erweiterten Blick auf die aristokratischen Lebenswelten. Senatoren und Ritter, so hat das Studium der Texte aller möglichen literarischen Gattungen gezeigt, erschlossen sich schon in der späten Republik eine Reihe alternativer Handlungsfelder (Vorlesung 2: Einheit oder Vielfalt? Lebensziele und Lebensentwürfe der römischen Aristokratie im Wandel, 14–34), und diese Entwicklung erhielt mit der Etablierung der Monarchie noch einmal eine neue Dynamik. Sie beteiligten sich als Autoren und Patrone an dem lebhaften literarischen Leben (Vorlesung 3: Epos oder Elegie? Die Dichtung als Weg zum ewigen Ruhm, 35–51). Sie sammelten Kunstwerke und Bücher und stellten diese Objekte in den Pinakotheken und Bibliotheken ihrer Villen in einem idealen Ambiente aus (Vorlesung 4: Mars oder die Musen? Kunstsammler und Kunstkenner im republikanischen und kaiserzeitlichen Rom, 52–70). Und nicht zuletzt intensivierten sie in den demonstrativen Konsum (Vorlesung 5: Toga oder Chlamys? Dresscodes und Habitus der spätrepublikanischen und kaiserzeitlichen Aristokraten, 71–92) aller Arten von Luxusgütern, mit denen sie ihren Reichtum und ihre Fähigkeit zur Distinktion zur Schau stellten (Vorlesung 6: Luxus oder Dekadenz? Konsum und Konkurrenz beim römischen Gastmahl, 93–116). Der vorherrschende Handlungsmodus dieser Elite blieb dabei die Konkurrenz. Doch im Streben nach Vorrang konnte der kultivierte Connaisseur nun den bewährten Consular überbieten.
Wurden die gesellschaftlichen Entwicklungen zum Ende der Republik und im ersten Jahrhundert der römischen Kaiserzeit unter dem Oberbegriff „Privatleben römischer Kaiser“ als Sittenverfall, Erosion von Anstand und Moral, als zunehmende Dekadenz, Lust an Luxus und Laster sowie Streben nach Prunk und Pracht deklariert, so sieht die Autorin in gut nachvollziehbarer Weise diese gesellschaftlichen Entwicklungen völlig neu. Ein Glück ist die günstige Quellenlage.
„Für die ‚dichte Beschreibung‘ der Lebensziele und Lebensentwürfe römischer Aristokraten bietet die Epoche von Cicero bis zum jüngeren Plinius vielfältiges und hervorragendes Material. Historiographische und epigraphische Quellen ermöglichen die Rekonstruktion der höchst individuellen Lebensläufe einer großen Zahl von Persönlichkeiten. Literarische Quellen unterschiedlicher Genres spiegeln die intensive Reflexion und den lebhaften Diskurs über die Frage nach einer sinnvollen Lebensgestaltung wider. Dabei zeigen die Zeugnisse insgesamt eine Welt im Wandel, in der die Angehörigen der Elite sich intensiv an den alten republikanischen Idealen abarbeiten und sich durch Alternative Lebensentwürfe neu zu positionieren versuchen“ (14).
Silius Italicus etwa entschied sich nach seiner Rückkehr als Proconsul in der Provinz Asia im Jahr 77 für ein Leben der „lobenswerten Zurückgezogenheit“, das er in einem angemessenen Ambiente verbrachte, er kaufte eine Reihe eleganter Landhäuser in Kampanien (14f.). Auch für Lukrez stellt die politische Karriere, der sukzessive Aufstieg über die streng regulierte Stufenleiter des cursus honorum, nicht mehr das alternative ultimative Ziel menschlichen Strebens dar. Er vergleicht die Kandidatur um politische Ämter mit den ebenso end- wie sinnlosen Quälen des Sisyphos (22). Dem jüngeren Seneca erscheint der Eintritt in eine militärisch-politische Karriere dem Eintreten in einen Strudel ähnlich, aus dem es kein Entrinnen gebe (23). Horaz betont immer wieder, dass der auf dem Forum und dem Marsfeld erworbene Ruhm über den Tag hinaus keinen Bestand habe. „Er formuliert daher eine vollständige Umkehr der republikanischen Ideologie, nach der nur jene Leistungen als erinnerungswürdig und damit dauerhaft galten, die in ebendiesen Bereichen, nämlich in Politik und Krieg, erbracht worden waren. ... Und wie später Seneca wußte auch schon Horaz, dass Politik allein nicht glücklich macht – jedenfalls dann nicht, wenn man Glück als etwas betrachte, das mit Seelenruhe, dem Vernünftigen und dem sittlich Vollkommenen in Einklang stehe“ (24f.). Plinius
konnte seinen Traum vom Ausstieg aus den Mühen des politischen Alltags bekanntlich nicht realisieren und stand bis zu seinem Tod im Dienst des Kaisers, hatte aber durchaus Verständnis, ja Sympathie für jene Männer, die bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt aus dem öffentlichen Leben ausscheiden oder sogar von vornherein ganz bewußt auf eine Karriere in Politik, Militär und Reichsverwaltung verzichten (28). Die Autorin lässt noch zahlreiche weitere Aussteiger zu Wort kommen, bevor sie als Fazit festhält:
„Das Bild des umtriebigen republikanischen Politikers, der alle seine Möglichkeiten einsetzte, um die Leistungen der maiores noch zu übertreffen, den cursus honorum optimal zu durchlaufen, das höchste Amt und vielleicht sogar einen Triumph zu erreichen, um dann als einer der Ersten des Senats die Meinungsbildung dort mitzubestimmen, ist in der Literatur der Prinzipatszeit durchaus noch präsent. ... Doch dieser Katalog von Vorzügen und Zielen, die es allein anzustreben galt, hatte jetzt seine zuvor jahrhundertelang unumstrittene Verbindlichkeit verloren. Das sich darin manifestierende Leistungsideal war jetzt zu einer Folie geworden, die den kaiserzeitlichen Autoren zur kritischen Auseinandersetzung und zur Formulierung neuer, alternativer Ideale diente“ (33f.).
In den folgenden Kapiteln bzw. Vorlesungen stellt Elke Stein-Hölkeskamp exemplarisch einige Handlungsfelder vor, die für die Konkurrenz um Geltungschancen und Prominenzrollen immer wichtiger wurden und zugleich die optimalen Strategien zur Wahrnehmung dieser Chancen deutlich erkennen lassen. So treten literarisches Talent und rhetorische Fähigkeiten, individuelle Sensibilität und verfeinerter Kunstsinn sowie die Fähigkeit zu einer urbanen und gebildeten Kommunikation neben die traditionellen Kompetenzen des Feldherrn und Politikers. Die hergebrachten Rollen wurden durch neue Prominenzrollen etwa als Redner, Literat und Protagonist eines kultivierten Lebensstils teils ergänzt, teils ersetzt (50f.). Individuelle Lebensläufe und ideale Lebensentwürfe zeichneten sich jetzt zunehmend durch Pluralität und Heterogenität aus.
Als Kunstsammler von ganz besonderem Format gilt Lucius Licinius Lucullus. Er hatte eine Schwäche für tiefschwarze Marmorsäulen von der Insel Melos und andere kostbare Baumaterialien, er widmete seinen Pinakotheken besondere Aufmerksamkeit, sammelte Gemälde, Stauen, Bücher und prächtiges Hausgerät vornehmlich von griechischer Provenienz. Nach ihm strebten viele Sammler des ersten nachchristlichen Jahrhunderts danach, eine Vielzahl von unterschiedlichen Objekten in ihren Besitz zu bringen. Diese Kunstwerke wurden aus ihrem ursprünglichen kulturellen Kontext herausgelöst und erhielten durch ihre Aufstellung in den Sammlungen der Römer eine neue soziale Bedeutung Sie trugen zur Selbstkonstruktion der persona ihres Besitzers bei und fungierten als Indikatoren für seinen Rang und sein Prestige. „Die Sammler mussten selbstverständlich über die entsprechenden Ressourcen verfügen, um die Objekte zu erwerben – aber das war nur die notwendige, aber keineswegs schon hinreichende Voraussetzung. Weitaus wichtiger war ihre umfassende Bildung, ihre Kenntnis der griechischen Sprache, Mythologie und Literatur, die es Ihnen gestattete, die Bedeutung der Objekte zu erkennen und sie dementsprechend zu präsentieren. ... Nur wer dem Ideal des umfassend gebildeten Kunstkonsumenten und literarisch aktiven Kulturproduzenten in jeder Hinsicht entsprach, könnte das erhebliche distinktive Potenzial der Sammlungen völlig ausschöpfen und sich damit als akzeptiertes und angesehenes Mitglied der gesellschaftlichen und kulturellen Elite profilieren“ (70).
Die beiden noch verbleibenden Kapitel über „Dresscodes und Habitus ...“ sowie über „Konsum und Konkurrenz beim römischen Gastmahl“ sind nicht weniger spannend zu lesen, weil sehr detailreich, an den Quellen orientiert, beispielhaft an bekannten und weniger bekannten Persönlichkeiten in kontrastierender Weise in Szene gesetzt, durchaus mit Unterhaltungswert dargestellt und kompetent interpretiert.
Wer sich mit historischen Persönlichkeiten der hier in den Blick genommenen Jahrhunderte beschäftigt und es sind die zentralen Figuren des klassischen Lateinunterrichts, wer sich mit zentralen Themen und Problemen jener Zeit beschäftigt, von Kunstbetrieb, Kleidung, Schuhwerk, Gastmahl, Gemälde, Kunstmarkt, Verschwendung, Villen, Ämterlaufbahn u.v.m., der wird diesen schmalen Band mit größtem Gewinn lesen, sich auf Stellensuche bei den lateinischen Autoren machen (Primärquellen sind exakt angegeben, ebenso eine Fülle an Sekundärtiteln), und seinen Unterricht prima vorbereiten und einen anregenden Unterricht ermöglichen.
Alois Schmid, Johannes Aventinus (1477–1534). Werdegang – Werke – Wirkung. Eine Biographie,
Verlag Schnell & Steiner, Regensburg, 288 Seiten,
28,00 EUR, ISBN 978-3-7954-3463-2

Als bairischer Herodot wurde er angesehen, da er mit genauer Beobachtungsgabe, Sprachgewalt und kritischer Distanz in seiner „Baierischen Chronik/Annales Boiorum” aufschrieb, „was der Baiern Herkommen, Bräuche und ehrliche Thaten” sind. Sein Haus in Abensberg, in das er sich regelmäßig zur literarischen Tätigkeit zurückzog und von wo aus er mit aller Welt korrespondierte, wurde zum bayrischen Tusculum. Wenn Melanchthon der praeceptor Germaniae war, der Lehrmeister Deutschlands, dann war Aventinus der praeceptor Bavariae. Er ist unbestritten eine der bedeutendsten Gestalten der bayerischen Geschichte.
Diesem Mann widmet Alois Schmid – Studium in Regensburg, Promotion dort bei Andreas Kraus, nach Stationen an den Universitäten Eichstätt-Ingolstadt und Erlangen-Nürnberg von 1998 bis zu seiner Emeritierung 2010 Professor für Bayerische Geschichte und vergleichende Landesgeschichte mit besonderer Berücksichtigung des Mittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München – eine wissenschaftlich fundierte und doch allgemein verständlich geschriebene Untersuchung über Aventins Leben und dessen umfangreiches Schaffen. Schmid ist einer der bedeutendsten Kenner Aventins im 20. und 21. Jahrhundert. Sein Buch gilt als (auch verlagstechnisch sehr sorgfältig konzipiertes) Standardwerk, das die jüngsten Erkenntnisse der Spezialforschung in vielen Teilbereichen der Kulturwissenschaft zusammenfasst und zu einem zeitgemäßen Bild verarbeitet. Besonderer Nachdruck wird auf die einzigartige Rezeptionsgeschichte seiner Schriften gelegt, die den Humanisten Aventinus – so sein Resümee, S. 267 – zu einer der wirkmächtigsten Persönlichkeiten der bayerischen Geschichte überhaupt macht.
Aufgewachsen ist Johannes Turmaier, eines von fünf Kindern des Weintavernen-Betreibers Peter Turmair, im Städtchen Abensberg (gelegen auf halber Strecke zwischen Regensburg und Ingolstadt), wo er wohl im Kloster der Karmeliten die Elementarschulbildung erhielt, nur wenige Schritte von der elterlichen Gaststätte entfernt. Die Patres unterhielten dort auch eine Klosterbibliothek, die mit ihrem bemerkenswerten Bestand an Handschriften und Inkunabeln für eine Niederlassung der Medikanten in einer Landstadt ein beachtliches Niveau erreichte. Wo sein Bildungsgang in Grammatik und Rhetorik der Lateinischen Sprache fortgesetzt wurde, ist nicht belegt. es könnte in der nahen Reichsstadt gewesen sein, wo die Domschule für kurze Zeit (1492) vom angesehenen Humanisten Konrad Celtis (1459–1508) geleitet wurde.
Am 21. Juni 1495 schrieb sich der zwischenzeitlich fast Achtzehnjährige als Iohannes Turmair ex Abensperg an der nahegelegenen bayerischen Landesuniversität als ordentlicher Studierender der Artistischen Fakultät ein. Ihm und später seinem Bruder wurde die Einschreibegebühr von sechs Groschen nicht erlassen, was wohl bedeutet, dass sich die Familie Turmair eine auch damals aufwändige akademische Ausbildung von zwei Kindern leisten wollte und konnte.
„Die bayrische Landesuniversität hatte sich bereits auf den Weg begeben, zu einer der wichtigsten Pflegestätten der humanistischen Studien in Deutschland zu werden. Es gelang, herausragende Gelehrte zu berufen. Vor allem konnte der deutsche Erzhumanist Konrad Celtis gewonnen werden ... Nach seiner Festanstellung 1494 waren es vor allem seine vielgerühmten Vorlesungen über die Geisteswelt und die Literatur der Römer, die den jungen Johann Turmair in ihren Bann zogen. Besonders faszinierte ihn die Verbindung, die der begeisternde Lehrer, in der Nachahmung Petrarcas, zwischen dem Gedankengebäude des Humanismus und der Welt der Deutschen herstellte. Sie machte Celtis zu einem Hauptvertreter des frühen deutschen Humanistenpatriotismus. Die in ebendiesen Jahren in Deutschland nach der Wiederentdeckung um die Mitte des 15. Jahrhunderts und den Erstdrucken zu Venedig 1470 und Nürnberg 1473 bekannt werdende Germania des Tacitus lieferte dafür die euphorisch aufgegriffene Grundlage. Konrad Celtis war die wichtigste Professorengestalt, die dem Studiosen prägende Eindrücke vermittelte” (43).
Der wortgewaltige Philologe Celtis – ihn verehrt Turmair als deutschen Homer/Homerus germanicus – begeistert den jungen Studenten so sehr, dass er im Wintersemester 1498 in dessen Gefolge Ingolstadt verließ. Der Baccalaureus folgte seinem Lehrer ins kaiserliche Wien; Celtis hatte im Collegium poetarum et mathematicorum verbesserte Wirkungsmöglichkeiten. Turmair wurde dort sogar in dessen Hausgemeinschaft aufgenommen und gehörte zum angesehenen Celtis-Kreis. Drei Wiener Jahre haben dem Studiosus Verbindungen zu echten Größen des deutschen Humanismus verschafft. Von Wien aus bezog er im Sommersemester 1501 die Hohe Schule zu Krakau, die nach Prag zweitälteste mitteleuropäische Universität. Diese Universität galt damals als Vorort der Naturwissenschaften im ganzen Abendland. (Mitte der 1490-er Jahre studierte dort übrigens Nikolaus Kopernikus Mathematik und Astronomie). Den Schlusspunkt seiner Studien setzte der Abensberger ab Februar 1503 in Paris an der Sorbonne, die namhafteste unter den Universitäten Europas, wo er sich mit den Schriften von Platon und Aristoteles auseinandersetzte. Am 27. März 1504 schloss er mit dem Magister-Examen ab.
Eine solche fast ein Jahrzehnt dauernde peregrinatio academica (1495–1504) war ein beliebter Bestandteil der Akademikerausbildung im spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Europa. Erst die Beschränkungen des Konfessionalismus und Absolutismus haben den Lebenskreisen der Studentenschaft dann engere Grenzen gesetzt. Für den Wirtssohn aus einer kleinen Landstadt im Bauernland Bayern war ein derartiger Bildungsweg sicherlich außergewöhnlich. Vor allem das Lizentiatendiplom der Sorbonne verschaffte ihm innerhalb der oberdeutschen Universitätsabsolventen einen deutlichen Vorrang.
Mit der Aufnahme der ersten beruflichen Tätigkeit – er hält an der Landesuniversität Ingolstadt Lehrveranstaltungen über Römische Autoren wie Ciceros Somnium Scipionis und De officiis oder die Rhetorica ad Herennium sowie Themen der Mathematik und Astronomie – verändert er in humanistischer Manier seinen Namen in Aventinus. Anders als Melanchthon verwendet er dazu nicht die griechische Sprache, sondern gebraucht in Übereinstimmung mit vielen Zeitgenossen das Lateinische. „Er brachte seinen Geburtsort Abensberg (benannt nach dem Flüsschen Abens, das wenige Kilometer weiter in die Donau mündet) mit demjenigen der sieben Hügel der Ewigen Stadt in Zusammenhang, der seine ursprüngliche Besiedlung den Plebejern verdankte; der Name deckt sich mit seinem Selbstverständnis als Aufsteiger aus einer unteren Gesellschaftsschicht. Da der Name dieses südlichen der sieben Stadthügel von einem sagenhaften italischen Urkönig gleichen Namens hergeleitet wurde, der wiederum als Sohn Noahs galt, verschaffte er zugleich eine königliche Aura. Der Wirtssohn Johann Turmair aus Abensberg stellte mit seinem humanisierten Latinistennamen eine direkte Verbindung nach Rom und darüber hinaus zu den biblischen Anfängen der Menschheit her (48).
Weitere Stationen sind das Amt des Prinzenerziehers, eine neue Funktionsstelle an den deutschen Fürstenresidenzen dieser Zeit. Es folgten Verwaltungsaufgaben an der Landesuniversität Ingolstadt. 1517 wurde er zum ersten amtlichen Landesgeschichtsschreiber Bayerns ernannt, Im Jahrzehnt zwischen 1517 und 1528 erreichte Aventins Lebensbahn ihren Höhepunkt; damals entstanden seine Hauptwerke.
Diese Hauptwerke stellt Alois Schmid auf 25 Seiten vor, gegliedert nach pädagogischen, poeti-schen und historischen Werken; hinzu kommt der handschriftliche Nachlass. Zu den Paedagogica zählen verschiedene Fassungen der lateinischen Grammatik, die aus dem Sprachunterricht mit seinen Zöglingen erwachsen sind und durch Fakultätsbeschluss vom 13. August 1516 sogar dem akademischen Lehrbetrieb in Ingolstadt zugrunde gelegt wurden. Herzog Ernst – ehemaliger Schüler des Prinzenerziehers Aventinus – steuerte gar eine Adhortatio für die Lehrenden bei: hortor, admoneo atque a vobis postulo, ut grammaticam Ioannis Aventini, praeceptoris nostri fidelissimi, legatis ac doceatis, ... ex nulla tam facile et breviter et absque omni verbere ... didici (93). Die lateinischen Grammatiken bilden Aventins erfolgreichste Buchveröffentlichungen. Er gilt als ein Wegbereiter der klassischen Philologie in Deutschland. Die beiden großen Chroniken der Geschichte Bayerns stellen seine Hauptleistungen dar, auf denen sein Nachruhm beruht (101ff). Zu erwähnen ist unbedingt noch eine der ersten Landkarten von Bayern, die als Erläuterung und Veranschaulichung zu den großen Landeschroniken gedacht war (vgl. 107ff).
Alois Schmid zum literarischen Werk Aventins: „Seine schriftliche Hinterlassenschaft ist bemerkenswert umfassend und von ungewöhnlicher Reichhaltigkeit. Es kommen vielfältige Themen in wechselnden literarischen Gattungen und sehr unterschiedlichem Ausarbeitungsgrad zur Behandlung ... Die aus dem Grundsatz ,Nur wer schreibt, der bleibt’ gespeiste Schreibfreudigkeit, die die Humanisten im Allgemeinen kennzeichnet, war auch bei Aventin ausgesprägt. Das Diktum seines hochverehrten Lehrers Konrad Celtis, dass die gefräßige Zeit alles verschlinge, außer die Tugend und die Literatur, hatte in seinem Bewußtsein besonders tiefe Wurzeln geschlagen” (113).
Richtig spannend lesen sich die folgenden Kapitel, in denen A. Schmid zeigt, wie Aventinus in die Tradition der bayerischen Landesgeschichtsschreibung die Neuerungen des humanistischen Wissenschaftsbetriebes einführt (117ff). Aus heutiger Sicht unglaublich ist (für mich) folgende Notiz: Als erster erkannte Aventin die römische Vergangenheit der Stadt Regensburg. „Bisher wurde sie als Gründung Karls des Großen angesehen. Aus den römischen Überresten leitete Aventin in einer eigenen Abhandlung den zutreffenden Schluss ab, dass die Stadt älter sein müsse. Erstmals Aventin bezeichnete Regensburg als Römerstadt. Die Studie über das „Herkomen der statt Regenspurg” gehört in seine Spätzeit. Nun beschreibt er die Römerfunde nicht nur, sondern zieht sie zur Begründung seiner Aussagen heran. Damals begann er, die Realien zur Beweisführung einzusetzen. Aus aufgefundenen Inschriftensteinen leitet er die Stationierung der Vierten italischen Legion in der Stadt und einen Germaneneinfall des Jahres 82 n. Chr. ab. „Das sind entscheidende methodische Fortschritte” (141; 143).
Ausgesprochen informativ die Passagen über die sprachlichen Kompetenzen und Ansprüche des Historiographen (151ff.); Sprachbildung ist für ihn Kern aller Menschenbildung. Mit Recht konnte er für sich in Anspruch nehmen, sich als homo trilinguus das humanistische Ideal der Dreisprachigkeit (die drei edeln sprachen, lateinisch, kriechisch, hebreisch, Anm. 496) angeeignet zu haben. Im Zentrum stand eindeutig das Lateinische. Festzuhalten ist aber auch, dass eine Reihe von Werken in deutscher Sprache abgefasst ist, er sich also von der Grundmaxime des Humanismus entfernte, dass sich die Kulturschaffenden in erster Linie des Lateinischen bedienen sollten. Er wies also den Weg zu den Nationalsprachen.
Dass und wie und warum der Name Aventinus im römischen Index der verbotenen Bücher anzutreffen ist, erfährt der Leser 221 ff., ebenso auch, dass Aventinus Schriften, wie die Bücherkataloge zahlreicher Klöster belegen, noch heute in Erstausgaben vielerorts gut greifbar sind. Amüsant zu lesen, wo überall Aventinus „im Tätigkeitsbereich historisch orientierter Fachkreise nach wie vor präsent ist” (245), „noch stärker gilt das für den außerwissenschaftlichen Bereich” (246), etwa als Namensgeber von Straßen, Plätzen, Schulen, Apotheken usw.
Der Verfasser, der nach einem Gelehrtenleben den Leser dieser Buches tief in die Vergangenheit und tief in die Gegenwart führt, tut das aus der Überzeugung, dass es an der Zeit sei für eine Biografie seines Ahnen in der Geschichtswissenschaft. R. Neumaier schrieb in der Süddeutschen Zeitung vom 11.2.2020: „Wenn Historiker wie Schmid über Historiker wie Aventin schreiben, hat das etwas Programmatisches. Als Vorsitzender der Kommission für bayerische Landesgeschichte an der Akademie der Wissenschaften war Schmid so etwas wie ein Nachfolger im Amt des Oberhistorikers im Freistaat. Seine großartige Aventin-Monografie, die auch das Werk und die lange und wechselvolle Rezeption ausleuchtet, kann man als Verneigung vor dem Humanismus lesen.”
Jan Ross, Bildung. Eine Anleitung,
Rowohlt, Berlin 2020, 28.00 €,
ISBN: 978-3-7371-0047-2

Zeitungsleser kennen Jan Roß. Er war Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Berliner Zeitung und gehört heute zum politischen Ressort der ZEIT, für die er von 2013 bis 2018 Korrespondent in Indien war. Jan Roß, 1965 in Hamburg geboren, studierte Klassische Philologie, Philosophie und Rhetorik in Hamburg und Tübingen, u.a. bei Walter Jens.
Anders als Jürgen Kaube (Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? Rowohlt Berlin, 2019, 336 Seiten, 22.00 €), Herausgeber und Bildungsexperte der FAZ, hat Jan Roß in seinem Buch Bildung. Eine Anleitung die aktuelle Schule und die Niederungen des Alltags nicht fortwährend im Blick. Er stellt sich die Frage: „Wie wird man ein gebildeter Mensch?“ und konstatiert: „Bildung ist mehr als Information und Wissen, sie verspricht Orientierung und Dauerhaftigkeit: das, was wirklich Bestand hat und lohnt.“
Bei der Lektüre des Buches von Jan Ross habe ich mir zwei jüngst erschienene Titel von Konrad Paul Liessmann, (Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien; Essayist und Kulturpublizist), nämlich Bildung als Provokation, 2017, und Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift, 2014 (beide Paul Zolnay Verlag Wien), aus dem Regal geholt und parallel gelesen.
Liessmann schreibt: „Uns fehlt mittlerweile jede Vorstellung davon, dass es geistige Inhalte geben könnte, die Wert und Interesse für sich selber haben und deshalb der entscheidende Stoff, die entscheidende Nahrung für die Entwicklung eines jungen Menschen sein müssen. Wissen ist heute ergebnisorientiert und anlassbezogen, es soll sich entweder an den Bedürfnissen der jungen Menschen, an den Wünschen der Arbeitgeber oder an den Herausforderungen der Zukunft, die keiner kennt, orientieren“, 2014,56. – An anderer Stelle: „Bildung erscheint längst nicht mehr als Ausdruck einer eigenen und zunehmend selbstverantwortlich organisierten Anstrengung, sondern als das Konsumieren eines Produkts, das von einem Konsortium von Pädagogen und ihren Beratern maßgeschneidert angeboten werden muss“, 2014, 114. Schließlich: „… Schule wird immer weniger als Ort des Lernens und des Wissens, als Raum der Bildung, sondern als sozialpädagogische Anstalt zur Aufbewahrung von Kindern und Jugendlichen aufgefasst, weil man nicht weiß, was man sonst mit Ihnen machen sollte“, 2014, 100.
Vieles, was Liessmann als Gravamina des heutigen Schulbetriebs deklariert („niemand ist neugierig darauf, eine Kompetenz zu entwickeln“, 2014, 76; „wem es nur darum geht, die Lesekompetenz seiner Schüler zu fördern, für den ist das, was gelesen wird, kein Wert mehr an sich; wenn der Inhalt als Aufgabe, Rätsel, Herausforderung, Provokation verschwindet aber das, von dem noch Aristoteles glaubte, dass es konstitutiv für den Menschen sei: sein Streben nach Wissen, seine Neugier: ´Bildung beginnt mit Neugierde. Man töte in jemandem die Neugierde ab, und man stiehlt ihm die Chance, sich zu bilden“, 2014,75.
In diesen Punkten wäre Jan Roß mit Konrad Paul Liessmann völlig d’accord. Auch in der Bestimmung des Begriffs Bildung, Liessmann orientiert sich hier an einer Beschreibung des Berliner Philosophen Peter Bieri: „Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen. Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein“ 2014,128; Peter Bieri, Wie wäre es, gebildet zu sein, in: Heiner Hastede, Hg., Was ist Bildung? Eine Textanthologie, Stuttgart 2012,228.
Jan Roß bestimmt Bildung folgendermaßen: „Gebildet ist gerade nicht, wer ‚mit beiden Beinen auf der Erde steht‘, der Durchblicker und Bescheidwisser, der unerschütterliche Realist. Man braucht einen Rest an Naivität, um mit Dichtung und Kunst, mit den großen Geschichten der Menschheit etwas anfangen zu können. Und nicht nur mit den großen Geschichten, auch mit den großen Gedanken. Die Philosophie, wußten die Griechen, fängt mit dem Staunen an, damit, dass man die Dinge nicht für selbstverständlich hält. Man muss sich erst einmal wundern, bevor man für das Verwunderliche, für das Wunderbare Erklärungen suchen und finden kann“, 2020, 61.
Das Buch beginnt mit einer fesselnden Einleitung, einer Bildungserfahrung in Indien im Gespräch mit einem Filmemacher: Unsere unsichtbaren Helfer (9ff.). –> Lesen Sie bitte auf Seite 66 weiter
Ich muss dreizehn oder vierzehn Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal die Akropolis in Athen gesehen habe. Meine Eltern hatten mich auf eine Griechenlandreise mitgenommen, und als wir den Weg zum antiken Burgberg mit seinen Tempeln hinaufstiegen, passierte etwas Seltsames, das ich damals als Frühjugendlicher, mäßig sensibel für die Gefühlswelt der Erwachsenen, nicht recht verstanden habe. Mein Vater wurde plötzlich blass, ihm blieb die Sprache und beinahe der Atem weg, und er musste sich mit weichen Knien auf einen der mehrtausendjährigen Steine niedersetzen, die überall herumlagen. Der Schwächeanfall hatte nichts mit Erschöpfung zu tun. Mein Vater war mattgesetzt von der Schönheit der Marmorruinen, die da vor ihm auftauchten. Aber es war noch etwas anderes im Spiel. In dem altsprachlichen Gymnasium, das meine Mutter und er dreißig Jahre vorher besucht hatten, war von der Kultur des Altertums stets in den höchsten Tönen die Rede gewesen: von den Staatsmännern, Dichtern, Künstlern und Denkern Athens und ihren unsterblichen Werken, die angeblich den Gipfel menschlicher Zivilisation darstellten und für alle Zeiten unerreichte Vorbilder sein sollten. Doch diese ganze Schulantike war irgendwie unwirklich gewesen, etwas, das bloß in Büchern stand, eine Legende, wie die Geschichten von König Artus und den Rittern der Tafelrunde oder die klassischen Götter- und Heldensagen von Gustav Schwab. Der Gymnasialhumanismus hatte keinen Bezug zur Realität; unvorstellbar, dass man eines Tages tatsächlich vor den Überresten dieser Kultur stehen, sie mit eigenen Augen anschauen und mit den Händen anfassen würde. Jetzt kam, mit der Wucht eines Schocks, das Bewusstsein: Das alles, wovon sie uns immer erzählt haben, gibt es also wirklich. Als hätte der Zollbeamte des Feenlandes einem gerade den Pass gestempelt und den Schlagbaum zur Weiterfahrt geöffnet – und würde ein bisschen ungeduldig darauf warten, dass man endlich den Zündschlüssel umdreht und den Motor anlässt.
Jan Ross, Bildung. Eine Anleitung, Rowohlt, Berlin 2020, Kap. 1: Die Entdeckung des Eigentlichen, 29
Doch am stärksten im Gedächtnis geblieben sind mir von diesem Tag acht Worte, die wir nur zufällig mitbekamen. Im Museum auf dem Akropolisfelsen, in dem die wichtigsten Funde der Ausgrabungen ausgestellt sind, trafen wir eine englischsprachige Besuchergruppe mit einem griechischen Führer, der die Exponate ziemlich redselig erläuterte. Nach einem längeren Rundgang kamen die Leute zu einem Marmorrelief aus der Zeit um 460 vor Christus, das oft »die trauernde Athene« genannt wird. Es zeigt die Schutzpatronin Athens, die Göttin des Krieges und der Weisheit, stehend, im Profil, den Helm auf dem Kopf, leicht vorgeneigt, auf ihren Speer gestützt, den Blick gesenkt. Schwer zu sagen, ob sie wirklich trauert oder eher nachdenklich ist. Das Bild ist jedenfalls ein Musterbeispiel für das, was man »klassisch« nennt: weder karg noch üppig, weder kalt noch gefühlig, sondern in einer vollkommenen Balance – in einer Mitte nicht zwischen den Extremen, sondern über ihnen. Vor diesem Steinrelief nun hielt der wortreiche Führer an, stoppte seinen bisherigen Redefluss, startete keinerlei Erläuterungsversuche, wie ich sie eben gerade gemacht habe, sondern wandte sich an seine Gruppe mit einem einzigen Satz:
»Look at it and keep it in mind.«
Und dann kam nichts mehr. Die acht Worte sind in unserer Familie zu einem geflügelten Wort für den Respekt vor dem Schönen und Großen geworden. Und eine Gipskopie der «trauernden Athene» hängt bis heute in der Wohnung meiner Eltern an der Wand über dem Kachelofen.
Jan Ross, Bildung. Eine Anleitung, Rowohlt, Berlin 2020, Kap. 1: Die Entdeckung des Eigentlichen, 29
Fortsetzung von Seite 61
Das erste Kapitel ist nicht nur für Gräzisten sehr anregend: Die alten Griechen. Die Entdeckung des Eigentlichen (27ff.). – Es folgen diese Kapitel: Geschichten. Von der Wahrheit erfundener Welten (54ff.). – Die Bibel. Der Entwicklungsroman der Menschheit (71ff.) – Lesen: Wie Bücher zu Freunden werden (99ff.). – Wissenschaft und Philosophie: Wie man die Welt auf den Kopf stellt (118ff.). – Bildende Kunst: Zweite Schöpfung aus Menschenhand (155ff.). – Bewunderung: Die Provokation des Schönen und Guten (175ff.). – Staatsbürgerkunde: Freiheit lernen (194ff.). – Zugang: Wie man die Hürden vor der Bildung nimmt (221ff.). – Tradition und Gegentradition: Die Klassiker der Rebellion (237ff.). – Erinnerung: Was dem Leben wahre Tiefe gibt (267ff.). – Musik: Der direkteste Weg in die Seele (287ff.). – Das Schlusskapitel: Macht uns Bildung zu besseren Menschen? (311ff.).
In den einzelnen Kapiteln präsentiert Jan Roß Themen und Texte aus Wissenschaft und Literatur, mit denen die Beschäftigung sich lohnt, er sucht nach ihrer Bildungsbedeutung und beschränkt sich – gerade nach einem mehrjährigen Aufenthalt als Korrespondent in Indien – nicht nur auf solche europäischer Provenienz. In der Einleitung schildert er die Gespräche mit dem Drehbuchautor Basharat Peer, der ihm erzählt, er habe in Shakespeares Tragödie Hamlet die Tragödie seiner eigenen Heimat wiedergefunden. Bald wird Jan Roß bewußt, dass der Hamlet „mir mehr über Kaschmir (verriet) als alle politischen Studien und Artikel, die ich darüber gelesen hatte“ (11). Jan Roß erzählt recht amüsant von Schulerlebnissen, die ihm besonders präsent sind: von einer Klassenfahrt nach Rom (167ff.), der Platonlektüre im Griechischunterricht (145ff.). Er erzählt vom Akropolisbesuch mit seinen Eltern und dem Moment, in dem er vor der Paradiestür Lorenzo Ghibertis in Florenz stand (170ff.). Er läßt immer wieder einfließen, welche Bildungsbemühungen er bei seinen beiden Kindern anstrengte. Mit Humor relativiert er dabei seine Neigung zum kulturellen Traditionalismus, seinen Antikefimmel und seine Klassikmanie (156).
Amüsant zu lesen ist, wenn er berichtet, wie sein FAZ-Kollege vom Feuilleton, Henning Ritter, ihm den Darwinismus erklärt (131ff.), was zur Erkenntnis führt, dass in der Schwerverdaulichkeit der Bildungswert der Wissenschaft liege (137; 145). Der brillante Theaterkritiker der FAZ, Gerhard Stadelmaier, habe ihn entdecken lassen, dass das Kritische ein wichtiges Element der Bildung sei, aber nicht ihre Seele, ihre treibende Kraft. „Bloß mit der Idee des In-Frage-Stellens im Kopf würde kein Mensch je ein Buch aufschlagen, sein Musikinstrument aus dem Schrank holen oder eine Opernkarte kaufen. Die Zeit und Mühe, die das alles kostet, bringt man nicht ohne die Annahme auf, dass es am Ende der Anstrengung etwas Großartiges und Einmaliges zu entdecken gibt“ (180).
Wie wird man ein gebildeter Mensch? Jan Roß zeigt, wie man zu dieser scheinbar schwierigen und verschlossenen Welt Zugang findet. Es gibt – so seine Überzeugung – keinen Grund, sich von der Tradition einschüchtern zu lassen. Bildung, so Roß, heißt letztlich etwas sehr Einfaches – dass wir nicht allein sind beim Versuch, das Leben zu meistern und die Welt zu verstehen. Wie man dieser Gemeinschaft beitritt und wie man in ihr heimisch wird – davon handelt sein Buch. Es begleitet die Leserin und den Leser auf die Akropolis und nach Rom, zu Shakespeare, Kant und Dostojewski, aber auch zu Wissenschaftlern wie Darwin oder Revolutionären wie Rosa Luxemburg: Ein Plädoyer für die welterschließende, phantastische, subversive Macht von Literatur und Musik, Kunst und Wissenschaft.
Dennis Gressel, 33 Ideen Digitale Medien Latein,
SEK I + II, Step-by-step erklärt, einfach umgesetzt – das kann jeder!
72 Seiten, Auer-Verlag Augsburg, 2019,
ISBN 978-3-403-8295-8, 18.40 €

Moderner Unterricht soll digitale Medien berücksichtigen – auch im Lateinunterricht. Nur wie soll das funktionieren, ohne nennenswerte Vorkenntnisse? Der vorliegende Band erhebt den Anspruch, uns zu zeigen, wie es geht! Die Broschüre im DIN A4-Format enthält 33 praxiserprobte Ideen zum Einsatz digitaler Medien im Lateinunterricht, die auf einer Doppelseite jeweils einfach und Schritt für Schritt erklärt werden. Zusätzlich wird das Vorgehen an einem konkreten Beispiel verdeutlicht. Angaben zu Klassenstufe, Material, technischen Voraussetzungen etc. erleichtern die Umsetzung.
Thematisch ist der Band in vier Abschnitte gegliedert: Antike Texte bearbeiten und kreativ umsetzen | Antike Kultur erfahrbar machen | Wortschatz und Grammatik visualisieren | Digitale Unterrichtsprojekte realisieren. Jede Unterrichtsideen kann einer oder mehreren Unterrichtsphasen zugeordnet werden und zwar zu den Phasen Einstieg, Erarbeitung, Ergebnissicherung, Vertiefung, Wiederholung, Übung, Anwendung und Projekt.
Die Strukturelle Anlage jeder Doppelseite weckt Vertrauen. Nach Basisangaben zum zeitlichen Umfang, Unterrichtsphase und Thema folgt eine Kurzbeschreibung der jeweiligen digitalen Idee, Angaben zu benötigten Materialien und technischen Voraussetzungen, Notizen zu Ablauf und Methode an einem konkreten Beispiel, Hinweise auf mögliche Fallstricke und Tipps, eine analoge Alternative (wenn alles notfalls ohne Computer oder Tablet gehen soll) sowie Materialhinweise und Infoseiten, sprich Links zu Suchmaschinen, Beispielseiten, Erklärvideos, allgemeinen Informationen und Hilfsprogrammen.
Natürlich kann man solch eine Broschüre nicht abarbeiten, aber die ein oder andere der 33 Ideen gut und nachahmenswert zu finden, das sollte schon möglich sein. Ich räume gerne ein, dass ich mir im Einzelfall im Vorfeld Hilfe suche würde, etwa beim Vorinstallieren von Programmen und dem Ausloten von deren Möglichkeiten, dass ich eine Fachkonferenz ansetzen oder eine kleine Arbeitsgruppe organisieren würde, um einen Eindruck zu gewinnen, was geht, dass ich den ein oder anderen Schüler anspitzen würde, mir auf die Sprünge zu helfen.
Selbstverständlich gibt es Ideen für den Einsatz digitaler Medien in dieser Broschüre, die ich sofort realisieren könnte, etwa Texte digital zu erschließen (S. 18f), eigene Textausgaben zu erstellen (S. 14f.), einen virtuellen Stadtrundgang zu erstellen (S. 22f.), Rezeptionsdokumente zu erstellen (S. 28f.), eine Exkursion vorzubereiten (S. 30f.), einen virtuellen Museumsrundgang zu erstellen (S. 34f.).
Wie sagte doch Aristoteles: Der Anfang ist die Hälfte vom Ganzen. Auch der Lateiner D. Magnus Ausonius ist überzeugt: Die Hälfte der Tat besteht darin, angefangen zu haben.
Jana Abandowitz, Ulrike Wodka,
55 Stundeneinstiege Latein.
Einfach, kreativ, motivierend. Auer Verlag Augsburg,
3. Auflage 2018, 68 Seiten,
ISBN 978-3-403-07694-0. 17.90 €

Dieses Büchlein von 68 Seiten sollte bei jedem Lateinlehrer, bei jeder Lateinlehrerin vom Schreibtisch aus greifbar im Regal stehen, egal ob Anfänger im Unterrichten oder weit Fortgeschrittener in der Unterrichtspraxis. Beide werden Ihren Fundus an Ideen erweitern und ergänzen wollen und neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen sein. Und an der Tatsache, dass ein gelungener Stundeneinstieg quasi die halbe Miete darstellt, dürften die Zweifel gering sein.
Schülerinnen und Schüler müssen zu Stundenbeginn im Lateinunterricht ankommen, aufmerksam gemacht und darauf vorbereitet werden, was im weiteren Verlauf erarbeitet werden soll. Das verlangt ein bißchen Planung, Abwechslung und Zielgerichtetheit. Die beiden Autorinnen schütten dazu die Füllhörner Ihrer Praxiserfahrenheit aus und präsentieren 55 Stundeneinstiege – allesamt in der Schulwirklichkeit erprobt, maximal 10 Minuten Zeit in Anspruch nehmend, nach drei Anforderungsniveaus sortiert und eingeteilt in die fünf Kategorien Wortschatz, Grammatik, Umgang mit Texten, Hintergrundwissen und Quid ad nos?
In aller Kürze werden die Voraussetzungen eines Einstiegs genannt (Sch kennen die verwendeten Vokabeln / Sch kennen mehrere unregelmäßig gebildete Stammforen / Besonders im Kontext Philosophie geeignet u. ä.) und das ggf. erforderliche Material angegeben (z. B. Weißes Papier und Stifte / Vorbereitete Folie zum Thema / Vorbereiteter lateinischer Dialog auf Arbeitsblatt / Schülerhefte für Notizen usw.). Entscheidend positiv ist, dass man nicht das halbe Buch lesen muss, um einen geeigneten Einstieg zu finden. Natürlich wird man auch nicht mit allen 55 Vorschlägen in gleicher Weise zurecht kommen. Was hätte ich in meinen Anfangsjahren als Lateinlehrer dafür gegeben, auf solch ein Kompendium zurückgreifen zu können. Wie oft habe ich meine Kollegen in den modernen Fremdsprachen, in Deutsch, Geschichte, Politik oder Geographie beneidet, dass Verlage Ihnen solches Material als Ideenbörse anboten. Für die alten Sprachen gab es das nicht, bislang musste man jedenfalls lange danach suchen.
Natürlich ist das Thema Stundeneinstieg ein Pflichtthema in jedem Fachseminar und in der Referendarszeit. Selbstverständlich sind nicht alle Einstiege neu und frisch erfunden. Die Wörterschlange / Serpens verborum, der Buchstabenquark, der Vokabelfußball / Certamen pediludicum, das Kreuzworträtsel, das Formentelefon, das Elfchen, das Chronogramm und die Nuntii Latini habe ich als Lehrer über die Jahre meist in neuen Lehrbüchern kennen und schätzen gelernt. Gerne verwenden würde ich die Wortwolke (S. 52, erstellt mit dem Programm www.wordle.net) oder Tangite – Realien aus der Antike (S. 63) oder die Oratio brevissima (S. 58) oder Fragmente (S. 49, einen zerstückelten Text in die richtige Reihenfolge sortieren), Schnipselsätze (S. 36), Stammformenchaostheorie (S. 31, aus einem Buchstabenchaos die lateinische Stammform herauszufinden und die fehlenden Formen zu ergänzen) oder Bingo, Activity oder Tabu (S. 22ff.)
Ein interessanter Stundeneinstieg – eine Binsenweisheit – kann einen großen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Motivation und Anstrengungs-bereitschaft der Schüler leisten. Lateinlehrkräfte wissen das und die 3. Auflage dieses Büchleins ist der Beweis.
Im Auer Verlag gibt es noch weitere Titel für experimentier- und Innovationsfreudige Kollegen, etwa 55 Methoden Latein (von Florian Bartl), 66 und XV Spielideen Latein, 44 kreative Wege zur mündlichen Note Latein, Die schnelle Stunde Latein (von Julia Umschaden) und 44 x Einführung Grundlagengrammatik Latein (von Christian Schöffel).
Mehr Informationen unter www.lehrerwelt.de und www.auer-Verlag.de