Laokoon. Auf der Suche nach einem Meisterwerk.
Herausgegeben von Susanne Muth. Begleitbuch zu einer Ausstellung von Studierenden und Dozenten des Winckelmann-Instituts der Humboldt-Universität zu Berlin und des Sonderforschungsbereichs 644 Transformationen der Antike.
Verlag Marie Leidorf GmbH, Rahden/Westfalen 2017,
504 Seiten, ISBN-13: 978-3867570190, 39,80 €

Laokoon Cover RGB

Wo soll man bei diesem 500-Seiten-Buch zu lesen anfangen? Vielleicht sollte man zuerst gar nicht lesen, sondern sich von der unendlichen Fülle von 770 Bildern inspirieren lassen, von historischen Relief-darstellungen, digitalen Rekonstruktionen, Detaildarstellungen, Plänen, Übersichtskarten, Frontispizen, Wandgemälden, Buchmalereien, Bildern von Handschriften und Archivdokumenten, Kupferstichen, Münzen, Zeichnungen, Modellen, Bildnissen, Büsten, Nachbildungen, Architekturansichten – und immer wieder die Statuengruppe des Laokoon und seiner Söhne, aus den unterschiedlichsten Perspektiven, in der Totale und im Detail und im Vergleich.

Schon in den beiden Grußworten – von Sabine Kunst, der Präsidentin der HUB, und Johannes Helmrath, dem Sprecher des SFB Transformationen der Antike – findet man nur Superlative: die Staue des Laokoon und seiner Söhne zähle zu den berühmtesten antiken Kunstwerken der Welt. Die Berühmtheit sei so groß, dass das Bildwerk quasi zu einem Sinnbild für die antike Bildhauerkunst geworden sei. Das Funddatum, der 12. Februar 1506, gilt als Sternstunde der europäischen Kunst. Als einer der ersten eilte Michelangelo zum Fundort in der Nähe des Kolosseums. Papst Ju-
lius II. kaufte die Skulptur sofort, seither steht sie im Vatikan. Ihr Einfluss auf die Kunstproduktion war ungeheuer: „Das Wirkungspotenzial lag sowohl in der verschlungenen Szenerie des grausamen Geschehens als vor allem in der Affektivität des Schmerzes. Das ließ sich auf Darstellungen Christi am Kreuz übertragen. Die Laokoonmanie drang schnell und dauerhaft in die DNS der europäischen Kunst ein, von Michelangelo über El Greco bis Fritz Mauthner und zahlreiche andere. Zeichnungen und Kopien aller Art und Größe ... befeuerten den Wettstreit um die rechte Ergänzung, in der es implizit um mehr ging. Es war das erste Mal, dass man eine Statue ergänzte” (S. 9). 

Nun ist der Laokoon in Berlin. Der „künftig die Maßstäbe setzende Katalog” dokumentiert die Ergebnisse intensiver Grundlagenforschung und „zeigt plastisch die Schichten und Phasen der Laokoondeutung qua Ergänzung und öffnet über die Transformationen, die Deutungen und Aneignungen bis in die Gegenwart dann auch einen wissenschaftlichen Zugang zum antiken Kunstwerk selbst. So werden grundsätzliche Fragen des antiken Entstehungskontexts, der Bildkonzeption, der Datierung und der Steinmetztechnik des Künstlertrios aus Rhodos neu diskutiert, die etwa die Bruchlinien der keineswegs, wie der von Plinius kolportierte Mythos wollte, aus einem Monolithen (ex uno lapide), sondern aus mindestens sieben Teilstücken zusammengefügten Statue genial kaschiert” (9).

Susanne Muth, die Herausgeberin dieses Buches, konstatiert, dass die Wiederentdeckung des Laokoon 1506 im Renaissance-zeitlichen Rom und ihre Überführung in den Belvedere-Palast des Antike-begeisterten Papstes Julius II. – im wahrsten Sinn zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort – einen einzigartigen Prozess der Aneignung und Transformation auf den Weg gebracht hat. „Wäre die Laokoongruppe zu einem anderen Zeitpunkt, unter einem anderen Papst und in einem anderen kulturellen Klima wiederentdeckt worden – ihre Geschichte wäre zweifellos anders und sicherlich weniger triumphal verlaufen” (11). 

Die Klassische Archäologie habe sich seit einigen Jahrzehnten demonstrativ von dem fokussierenden Blick auf die berühmten und zwischendurch als Meisterwerke anerkannten ,Kunstwerke’ verabschiedet – und einen offeneren, historisch angemesseneren Blick auf sämtliche überlieferten Objekte der materiellen Kultur der Antike gewählt, jenseits aller zu recht oder unrecht postulierten Bewertungen künstlerischer Qualität. Mit dem Ausstellungstitel Laokoon – Auf der Suche nach einem Meisterwerk begebe man sich also auf eine problemorientierte Spurensuche. „Uns interessiert die Bewunderung des Laokoon nicht als akzeptiertes Phänomen, sondern vielmehr als historisch entstandener Prozess. Entsprechend wollen wir die Erfolgsgeschichte des als ,Meisterwerk’ verstandenen Laokoon vor allem als eine Problemgeschichte beleuchten. Was macht ein Bildwerk der Antike überhaupt zu einem solch gefeierten ,Meisterwerk’? Was sind die konstitutiven Faktoren innerhalb dieser Geschichte, die dem Laokoon einen solchen Rang als ,Meisterwerk” zukommen ließen? Wie viel liegt in dem antiken Bildwerk wirklich begründet – und wo sind es von außen herangetragene Eigendynamiken, Zufälle, Missverständnisse? Wie viel Anteil an diesem Prozess hat überhaupt die Aneignung und Transformation durch die jeweils rezipierende Gesellschaft, Epoche Kultur?” (11).

Ein Resümee des intensiven Forschungsprozesses zieht Susanne Muth schon im Vorwort: „Die komplexe Geschichte der Statuengruppe des Laokoon, die wir hier erzählen und diskutieren wollen, wird somit zu einem eindrücklichen Beispiel für die Bedeutung und Wirkungsmacht kultureller Transformation im Allgemeinen sowie für die konstruktive Dimension unseres neuzeitlichen Antikenverständnisses im Speziellen. Und damit zugleich zu einem Fallbeispiel, das uns vor dem Missverständnis warnt, allzu leicht und unverfälscht die kulturellen Phänomene der Antike uns direkt erschließen können zu glauben, ohne den Einfluss der seit vielen Jahrhunderten kontinuierlichen Transformation der Antike zu berücksichtigen, in deren Erbe auch wir heutzutage noch stehen - und zwar mehr, als uns gemeinhin bewusst ist” (12).

Die Liste der am Laokoon-Projekt 2013–2016 (mit Wurzeln bis ins Jahr 2004) Beteiligten ist lang, Museen, Organisationen, Institutionen, Bibliotheken, Universitäten, Berater und Mitarbeiter in halb Europa und natürlich an der HU in Berlin. Der Erwartungs- und Arbeitsdruck auf die Projektleiterin und schließlich das Gefühl der Entlastung beim Verfassen des Vorworts müssen beträchtlich gewesen sein, erkennbar daran, dass auch Stromi, vierbeiniger Laokoon-Fan, seine ,kleine Unsterblichkeit’ erhält „für seine treue Geduld und sein unermüdliches Interesse an unserem Projekt ... sowie für seine Bereitschaft, unseren Laokoon-Abguss in jeder Phase seiner Aufstellung sorgenvoll zu bewachen: Hätte es in Troja schon Dackel gegeben, die Geschichte um Laokoon wäre sicher anders ausgegangen” (15).

Der Leser findet eine erste Orientierung in einem übersichtlichen Anhang zur Einleitung von Susanne Muth: Die Erfolgsgeschichte eines Meisterwerkes als Problemgeschichte: Anleitung zu einer Spurensuche (16ff.) mit den Grunddaten zur Statuengruppe des Laokoon (44-51) von der Schaffung der Statue durch die rhodischen Bildhauer Hagesandros, Polydoros und Athenodoros über die Auffindung bis zum 500-jährigen Jubiläum der Wiederentdeckung 2006 mit zahlreichen interessanten Stationen wie die diversen Reparaturen und mehrfachen Ergänzungen fehlender Teile, die Inszenierung des Cortile delle Statue als Repräsentationsgarten Julius II. mit einer kostbaren Statuensammlung 1511, der Umdeutung der antiken Statuen in den Jahren 1566–72 als Götzenbilder, die sodann hinter Holzläden verschwinden, die Erhebung der Statue des Laokoon zum ethischen und ästhetischen Ideal des Klassizismus durch Johann Joachim Winckelmann 1755, die Präsentation der Laokoongruppe in wieder sichtbarer Aufstellung 1773, ihre Überführung nach Paris und der Triumphzug mit den vatikanischen Antiken als Beutestücke durch Paris 1798, der Rücktransport nach Rom mit anderen Antiken 1815 (mit dem Sturz des Laokoon vom Transportwagen), die Auffindung eines Fragments des fehlenden rechten Laokoonarms 1903 und weitere Rekonstruktionsmaßnahmen in den 50-er und 60-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Über den Laokoon gibt es also, beginnend mit den zentralen antiken Textzeugnissen (Plin. nat. hist. XXXVII,37 und Verg. Aen. II,40-56. 199-234; S. 52f) viel zu erzählen, zu dokumentieren und zu kommentieren. 

31 Artikel und ein halbes Tausend an großformatigen Buchseiten dienen dieser Spurensuche durch die Jahrhunderte; schon die Überschriften machen neugierig: Die Wiederentdeckung: Zur richtigen Zeit am richtigen Ort (Agnes Henning); Der Cortile delle Statue im päpstlichen Belvedere: Die Aeneis im Vatikan (A. Henning, S. Muth); Laokoons Ruhm und dessen kontingente Gründe im frühen 16. Jahrhundert (Luca Giuliani); Keine Erfolgsgeschichte ohne Probleme: Der Laokoon als unvollständiges Statuen-Puzzle (S. Muth); Der (re)konstruierte Laokoon im 16. Jahrhundert: Die Dynamik des Transformationsprozesses (L. Giuliani, S. Muth); Die Laokoongruppe im Wandel der Zeit und des Geschmacks: Zwischen Vergessen und (Wieder-)Entdecken vom 16. bis 19. Jahrhundert (Rolf F. Sporleder); Ein Zufallsfund und die Konsequenzen: Rekonstruktionen des Laokoon im 20. Jahrhundert (Franziska Becker, Simone Vogt).

Nach der Geschichte der transformierten Statuengruppe untersucht eine zweite Abteilung von elf Aufsätzen die Variationen der Aneignung – Der Widerhall der Berühmtheit, etwa Das Begehren, den Laokoon zu besitzen: Die Aneignung des Laokoonthemas in der Bildenden Kunst des 16. Jahrhunderts (Fabian Sliwka); ,und wegen der Wunde versagt dem Marmor der Atem’. Die Reflexionen des Laokoon in der Skulptur und Plastik der Renaissance (Darja Jesse); Wie gemalt. Repräsentationen der antiken Laokoongruppe in der Malerei des 16. und 18. Jahrhunderts (Darja Jesse); Ein alter ,Neuer Laokoon’? El Greco und die Grenzen der Skulptur und Malerei (Michael Squire); Laokoon (re-)produziert: Die Lancierung im Medium der Graphik (Saskia Schäfer Arnold); Laokoon von Rom über die Alpen: Die komplexen Spielarten der Aneignung  (Saskia Schäfer Arnold); Ein Wunder Roms im Pretiosenkabinett: Der Laokoon in den dekorativen Künsten (Philipp Schneider, Simone Vogt); Meisterwerke auf Reisen: Abgüsse berühmter Antiken im 18. Jahrhundert (Charlotte Schreitter); Die Kontroverse um die Deutung der Laokoongruppe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Von Winckelmann zu Goethe (L. Giuliani); Ein neues Potential für das entthronte Meisterwerk: Die Laokoongruppe in Karikaturen (Gregor Schuster, Rolf F. Sporleder); Ein antikes Meisterwerk in der Moderne: Aneignung und Transformation der Laokoongruppe in der Kunst und Alltagskultur des 20. und 21. Jahrhunderts (Gregor Schuster, Hannah Vogler).

Zwei weitere Themenbereiche folgen darauf noch; zunächst zehn Beiträge zur Geschichte der antiken Statuengruppe, nämlich von Luca Giuliani und Susanne Muth Laokoon reset: Wie die Statue in der Antike ausgesehen haben könnte; Alexander Nawrot, Bettina Schirrmacher: Funktionale Bewegungsanalyse des Laokoon; Susanne Muth: Der Laokoon als antikes ,Meisterwerk’: Die raffinierte Darstellung einer kaum darstellbaren Gewalttat; dies.: Von wegen 'ex uno lapide': Die geheime Meisterschaft des Laokoon; Wolfgang Filser: Überlegungen zu Anstückungen und Reparaturen der Laokoongruppe; Stephan G. Schmid: Kopie oder Original? Zu Datierung des Laokoon im Kontext der antiken Kunst; Sascha Kansteiner: (Pseudo-)monolithische Gruppen; Agnes Henning, Simone Vogt: Laokoon verzweifelt gesucht: Die Figur im Kontext der antiken Kultur und Bildkunst; Stephanie Pearson: Der Tod des Laokoon in Pompeji. Der Mythos im Kontext des römischen Wohnens; Jessica Barz, Simone Mulattieri: Eine Skulptur der Mächtigen? Auf der Suche nach dem antiken Aufstellungskontext der Laokoongruppe.

Die letzten drei Aufsätze geben schließlich den Blick frei hinter die Kulissen der Ausstellung: Agnes Henning, Susanne Muth: ,Laokoon – Auf der Suche nach einem Meisterwerk’: Eine Ausstellung entsteht; Michael Breuer, Marko Koch, Mohsen Miri, Nicole Salamanek: Laokoon 3D: Ein Meisterwerk wird eingescannt; Susanne Muth, Dirk Mariaschk, Hannah Vogler: Der Laokoon zwischen Realität und Virtualität: Die Chancen des 3D-Modells. Es versteht sich von selbst, dass ein umfangreiches Literaturverzeichnis, detaillierte Bildnachweise und ein Autorenverzeichnis (ein Drittel der 27 Autoren sind Studenten) den prächtigen Band abschließen.

Was bleibt nach dem Studium des Buches im Kopf hängen: Erst die Wiederentdeckung der Statuengruppe 1506 im renaissance-zeitlichen Rom bildet den eigentlichen Startpunkt für die Erfolgsgeschichte des Laokoon als Meisterwerk. Die Geschichte der Aneignung und Transformation dieser antiken Statue verlief überaus bewegt. Die Erfolgsgeschichte des transformierten Laokoon war allerdings kein zielführender Siegeszug. „Er war vielmehr ein langer und wechselvoller Prozess mit vielen Wendungen und auch Rückschlägen, bei dem vor allem Zufälle, aber auch Missverständnisse den Fortgang der Geschichte ... wesentlich prägen sollten.” (S. 55) Die Geschichte des Laokoon vor 1506 erweist sich als eine sehr anders verlaufende Geschichte: „Obgleich er von Plinius als Meisterwerk gefeiert wurde und sich in kaiserlichem Besitz befand (eine ähnliche Ausgangslage wie im päpstlichen Belvedere 1506!), erfuhr die antike Statue anders als der transformierte Laokoon keine spürbare Rezeption. Auch setzte die Darstellung des Mythos in der antiken Statue teils sehr andere Akzente gegenüber der Rekonstruktion des transformierten Laokoon. Und auch das Interesse und die Wahrnehmung der Statuengruppe in der Antike wich grundlegend von der ästhetischen und ethischen Bewunderung, die der Laokoon ab 1506 fand, ab.“ (289)

Es stellt einen Glücksfall dar, dass die jahrelangen Untersuchungen der Laokoongruppe in eine Ausstellung münden, die noch bis zum 31. Juli 2018 von Lehrkräften der Fächer Griechisch, Latein sowie Kunst und Geschichte und ihren Schülerinnen und Schülern als bestens geeigneter außerschulischer Lernort besucht werden kann. Die Ausstellung erzählt anschaulich die Erfolgsgeschichte der Laokoongruppe und hinterfragt mit kritischem Blick, wie es zu einem solchen Ruhm ausgerechnet dieser Statue kommen konnte. 

Der Ausstellungsbesuch kann im altsprachlichen Unterricht im Kontext der Lektüre eines Lehrbuchkapitels geschehen oder der einschlägigen Passagen (Eroberung Troias, hölzernes Pferd) bei Vergil oder Homer, aber auch bei der Thematisierung der augusteischen Kulturpolitik oder der Beschäftigung mit der Epoche der Renaissance. Das Winckelmann-Institut lädt dazu ein, „sich aktiv, neugierig und experimentell” (462) mit der Statuengruppe des Laokoon und ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Dazu gibt es Angebote, „die den Besuchern die Möglichkeit eröffnen, sich in verschiedene Rollen hineinzudenken: als antiker Bildhauer, Renaissance-zeitlicher Bewunderer und Restaurator, Gelehrter des 18. Jahrhunderts oder als moderner Archäologe und Kunsthistoriker” (464). Im Zentrum der Ausstellung – die ja auf 115 Quadratmetern nur begrenzte Möglichkeiten bietet – steht der Dialog zwischen der Skulptur als realem Objekt und verschiedenen digitalen Medien, die dem Besucher immer wieder neue Perspektiven auf den Laokoon eröffnen. Verschiedene Vermittlungsformate – Videos, Animationen, Audiostationen sowie unterschiedliche Text- und Bildzeugnisse – sollen verschiedene Besuchergruppen (Sextaner und LK-Besucher) ansprechen bzw. durch unterschiedliche Reize ein besonders abwechslungsreiches Angebot liefern. Die Abguss-Sammlung Antiker Plastik Berlin stellt als Leihgabe den Laokoon in der traditionellen Fassung (sie kursiert weiterhin in den Medien: vgl. halbseitiges (!) Foto in der FAS vom 11. Februar 2018, S. 3) der Laokoon-Restauration, wie sie seit dem 16. Jahrhundert kanonisch geworden war und erst im Zuge der Entrestaurierung der vatikanischen Statuengruppe 1960 aufgegeben wurde. Diesem Modell tritt ein digitales Laokoonmodell entgegen, ein im Rahmen des Forschungsprojektes entstandenes 3D-Modell aus hochauflösenden 3D-Scans von Teil-Gipsabgüssen, das dazu dient, vielfache Variationen anschaulich zu machen, also die unterschiedlichen Überlieferungssituationen des Laokoon zu visualisieren und die Rekonstruktionsvorschläge experimentell zu erproben. Der Besucher dieser Ausstellung erfährt, wie die moderne Archäologie heutzutage arbeitet. Ein Besuch lohnt sich!

Der hervorragende Katalog ist beim Verlag leider vergriffen und nur noch (bei Amazon und)  beim Besuch der Ausstellung erhältlich, die in den Sammlungsräumen des Winckelmann-Instituts der HUB noch bis zum 31. Juli 2018 stattfindet. 

LAOKOON – Auf der Suche nach einem antiken Meisterwerk (bis 31.7.2018)

Sammlung des Winckelmann-Instituts Humboldt-Universität zu Berlin, 

Hauptgebäude Unter den Linden 6, 10117 Berlin

Raum 3094, 2. OG Westflügel

Der Eintritt ist frei.

Reguläre Öffnungszeiten:

Mittwoch, 18–19 Uhr; 1. & 3. Samstag/Monat 12–14 Uhr

Kontakt: 

Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Webseite: www.laokoon.hu-berlin.de


Leroi, Armand Marie: Die Lagune oder wie Aristoteles die Naturwissenschaften erfand,
Aus dem Engl. von Sabine Schmidt-Wussow und Manfred Roth, WBG Darmstadt,
Theiss Verlag 2017, 
528 Seiten, 67 sw Abbildungen, 
ISBN 978-3-8062-3584-5, 38,00 €, Mitglieder 29,95€

3584 Leroi Die Lagune oder wie Aristoteles die Naturwissenschaften erfand

„Aristoteles war ein intellektueller Allesfresser, ein Nimmersatt, wenn es um Informationen und Konzepte ging. Aber das Thema, das ihm am meisten am Herzen lag, war die Biologie. In seinen Arbeiten wird das Studium der Natur lebendig, wenn er die Pflanzen und Tiere beschreibt, die in all ihrer Vielfalt unsere Welt bevölkern”(17).

„Die Bücher, die wir (sc. von Aristoteles) haben, sind für Naturforscher ein reines Vergnügen. Viele der Lebewesen, über die er schreibt, leben im oder am Meer. Er beschreibt die Anatomie von Seeigeln, Seescheiden und Schnecken. Er betrachtet Sumpfvögel und beschreibt ihre Schnäbel, Beine und Füße. Delfine faszinieren ihn, weil sie Luft atmen und ihre Jungen säugen, aber dennoch aussehen wie Fische. Er erwähnt mehr als hundert verschiedene Fischarten und zählt auf, wie sie aussehen, was sie fressen, wie sie sich fortpflanzen, welche Geräusche sie von sich geben und welche Wege sie auf ihren Wanderungen zurücklegen. Sein Lieblingstier war ein merkwürdig intelligenter Wirbelloser: der Tintenfisch. Der Dandy muss also Fischmärkte geplündert und an Anlegeplätzen mit Fischern geplaudert haben.

Doch der größte Teil von Aristoteles’ Wissenschaft ist ganz und gar nicht beschreibend, sondern besteht auf Antworten auf Hunderte von Fragen. Warum haben Fische Kiemen und keine Lungen? Flossen, aber keine Beine? Warum haben Tauben einen Kropf und Elefanten einen Rüssel? Warum legen Adler so wenige Eier, Fische so viele, und warum sind Sperlinge so lüstern? Wie ist das überhaupt mit den Bienen? Und dem Kamel? Warum geht nur der Mensch aufrecht? Wie sehen, riechen, hören, fühlen wir? Wie beeinflusst die Umgebung das Wachstum? Warum sehen Kinder manchmal so aus wie ihre Eltern und manchmal nicht? Was ist der Zweck von Hoden, Menstruation, Scheidenflüssigkeit, Orgasmen? Was verursacht Missgeburten? Was ist der wahre Unterschied zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen? Wie bleiben Lebewesen am Leben? Warum vermehren sie sich? Warum sterben sie? Das ist kein zaghafter Streifzug in ein neues Gebiet, es ist eine vollständige Wissenschaft. Vielleicht zu vollständig, denn manchmal scheint es, als hätte Aristoteles für alles eine Erklärung”(18f).

Der Autor dieser Zeilen, Armand Marie Leroi, ist Professor für Evolutionäre Entwicklungsbiologie in London, und schreibt beneidenswert anschaulich und mitreißend. Nimmt man das schöne, in Leinen geschlagene Buch in die Hand, begibt man sich als Leser mit dem noch jugendlichen Autor in der Altstadt von Athen in einen Buchladen – „Es ist der reizendste, den ich kenne. Er liegt in einer Gasse nahe der Agora, neben einem Geschäft, das Kanarienvögel und Wachteln in Käfigen verkauft” (13). Dort entdeckte Leroi – „im letzten Frühling der Drachme, als Griechenland noch arm und billig war” – eine komplette Ausgabe der Works of Aristotle Translated into English, wobei ihm besonders der Titel des vierten Bandes der Reihe ins Auge gefallen war: Historia animalium (Historiai peri ton zoon). „Ich öffnete ihn und las etwas über Muschelschalen”.

Der Leser erfährt dann von der kindlichen Besessenheit des Autors für Schneckenhäuser und Muschelschalen, die erst Studienjahrzehnte später  im Athener Buchladen wieder virulent wurde. Leroi verstand seinen Aristoteles jedenfalls sofort: „Er war offenbar zum Strand gegangen, hatte eine Schnecke aufgehoben, hatte sich gefragt: ,Was steckt darin?’, hatte nachgesehen und hatte gefunden, was ich gefunden hatte, als ich 23 Jahrhunderte später dasselbe tat”(16).

Die zweite Titelhälfte gibt die Richtung des Buches an: „... wie Aristoteles die Naturwissenschaften erfand”. Elegant lässt Leroi in wenigen Sätzen Jahrhunderte von Wissenschaftsgeschichte vorüberziehen: „Die Wissenschaft, die Aristoteles begann, ist groß geworden, aber seine Nachkommen haben ihn so gut wie vergessen. In einigen Bezirken von London, Paris, New York oder San Francisco kann man keinen Stein werfen, ohne einen Molekularbiologen zu treffen. Aber fragt man ihn dann, nachdem man ihn niedergestreckt hat, was Aristoteles getan hat, erntet man bestenfalls ein verwirrtes Stirnrunzeln. Doch Gesner, Aldrovandi, Vesalius, Fabricius, Redi, Leeuwenhoek, Harvey, Rey, Linné, Geoffroy Saint-Hilaire père et fils und Cuvier – um nur einige von vielen zu nennen – haben ihn gelesen. Sie nahmen die Struktur seiner Gedanken in sich auf. Und so wurden seine Gedanken zu unseren Gedanken, selbst wenn wir nichts davon wissen. Seine Konzepte fließen wie ein unterirdischer Fluss durch die Geschichte unserer Wissenschaft und treten hier und da als Quelle zutage als scheinbar neue Ideen, die jedoch tatsächlich schon sehr alt sind” (19).

Aristoteles begann erst im Alter von 37 Jahren seine biologische Forschung. Nach dem Tod Platons 347 v. Chr. hatte er Athen verlassen und verbrachte die folgenden dreizehn Jahre im nordöstlichen Ägäis-Raum. Auf Lesbos freundete er sich mit Theophrast an. Bald teilten sie sich die Arbeit: Aristoteles beackerte das Feld der Zoologie, Theophrast wurde zum Vater der Botanik. Schon der schottische Gelehrte D’Arcy Wentworth Thompson, der 1910 die Historia animalium, Aristoteles’ zoologisches Hauptwerk, ins Englische übersetzt hatte, bemerkte, dass dieser einen Großteil seiner meeresbiologischen Daten in der Lagune von Pyrrha auf Lesbos gesammelt hatte. Jener Lagune von Pyrrha verdankt das Aristoteles-Buch von Marie Armand Leroi seinen Titel. Auch Leroi reiste für längere Aufenthalte nach Lesbos, um der aristotelischen „Erfindung der Naturwissenschaften“ zu folgen, tauchte dort nach Fischen, sezierte Sepien, Krebse und Seeigel und klassifizierte Muschen.

Aristoteles zeichnet über die Lagune und ihre Lebewesen ein Porträt, wie sie vor 23 Jahrhunderten aussah, „vielleicht das älteste Porträt eines Naturortes, das wir haben. Heute ist kaum noch etwas von der alten Stadt Pyrrha übrig – Strabo schreibt, sie wurde zerstört durch ein Erdbeben im 3. Jahrhundert v. Chr. – aber die Biologie stimmt noch immer” (29).

Das Buch von Armand Marie Leroy besteht aus CXIV kurzweiligen Abschnitten vom Umfang einer halben Seite (S. 30, 173) bis zu fünf, sechs Seiten, meistens sind es nur drei. Im jeweils ersten Satz gibt er mit einer provokanten These, einem plausiblen Satz, einer Frage, einem Zitat, einer Behauptung usw. das Thema vor. Leroy besitzt ein großes Geschick beim Formulieren solcher ersten Sätze (allerdings nicht nur dieser Sätze!), die klug und prägnant geschrieben sind, die ein interessantes Problem beschreiben, einen Sachverhalt etwas ungewöhnlich benennen und damit den Leser neugierig machen und zum Weiterlesen regelrecht herausfordern. Beispiele: III: Ganz klar ist die Sache nicht. Wie kam Aristoteles zur Biologie? Wie erfindet man überhaupt eine Wissenschaft? – VIII: Über Aristoteles Leben ist wenig mit Sicherheit bekannt. Die alten Quellen, etwa ein Dutzend, entstanden Jahrhunderte nach seinem Tod und widersprechen sich häufig. – XI: Im Jahr 348 oder 347 v. Chr. verließ Aristoteles plötzlich Athen. Es gibt mindestens zwei Berichte, die den Grund zu erklären versuchen. – XIII: Im Jahre 345, als Hermias noch herrschte, brachte Aristoteles seine Braut nach Lesbos, um dort mit ihr zu leben. Der Romantiker Thompson nannte die zwei Jahre, die Aristoteles auf der Insel verbrachte, ,die Flitterwochen seines Lebens’. – XIV: Um nach Lesbos zu gelangen, nimmt man am besten die Abendfähre von Piräus. Wer jung oder arm oder abgehärtet ist, nimmt einen Platz an Deck – für 30 Euro kommt man so über die Ägäis. – XXI: Plinius’ Geschichte ist bezaubernd. Alexander, mehr als nur ein Lüstling mit kajalumrandeten Augen oder ein megalomanischer Eroberer, hat auch eine Schwäche für Pflanzen und Tiere, und als er sich an die Interessen seines alten Lehrers erinnert, legte er ihm liebevoll die Ausbeute eines Weltreichs zu Füßen. – XXIII: Aristoteles beschreibt die innere Anatomie von etwa 110 verschiedenen Tieren. Bei etwa 35 davon sind seine Angaben so umfassend oder akkurat, dass er sie selbst seziert haben muss. – XXVI: In den kühlen Flüssen und Seen von Makedonien lebt ein Wels mit liebevollen Gewohnheiten. – XXVIII: Aber es gibt eine Entdeckung, für die Aristoteles die volle Anerkennung gebührt: Er beschrieb die bemerkenswerten Embryonen des Grauen Glatthais. – XXIX: Schiller sagte, die Griechen sähen die Natur ohne Rührseligkeit, Humboldt postulierte, sie porträtierten sie nicht um ihrer selbst willen. Meiner Meinung nach liegen beide falsch. – XXXIV: Trotz der Strenge, mit der er seine Vorgänger behandelte (und Aristoteles nahm nie wirklich ein Blatt vor den Mund), bediente er sich dennoch bei ihnen allen. Demokrit und Empedokles zeigten ihm die Macht der Materie, Anaxagoras, Sokrates und Platon das Vorherrschen des Zwecks, Platon den Ursprung der Ordnung. Sein eigenes Erklärungsschema enthält all diese Elemente. –XXXVI: Die Naturphilosophen der Renaissance betrachteten die Welt mit Neugier, entdeckten, dass sie fast gar nichts über sie wussten, und wandten sich wie selbstverständlich Aristoteles zu als einem, der mehr wusste. – XXXVII: Die moderne biologische Taxonomie – die Wissenschaft von der Klassifikation - erblickte 1758–59 mit der Veröffentlichung der zehnten Ausgabe von Carl Linnés Systema naturae das Licht der Welt. – XL: Mitten in der Darstellung von Griechenlands kriegsgeschüttelter Dynastienhistorie erzählt Herodot zusammenhanglos die Geschichte von Arion, einem Musiker aus Lesbos. – XLIV: Aristoteles' Theorie der Demonstration ist nicht ganz problemfrei. Jeder Wissenschaftler lernt schon im Grundstudium, das ,Korrelation nicht gleich Kausalität’ ist. – L: Wenn Aristoteles den Aufbau von Tieren analysiert, denkt er wie ein Architekt oder ein Ingenieur. Sein erster Gedanke gilt dem Zweck, dem ein Organ dient. – LIV: Das traditionelle griechische Verständnis der Seele war das von Homer. Patroklos fällt vor Troja und seine körperlose Seele fliegt davon in das Haus des Hades. Vielleicht erklärt das, warum der griechische Name für ,Schmetterling’ derselbe ist wie für ,Seele’ – Psyche. – LIX: Aischylos war gerade zu Besuch auf Sizilien, als ein Adler seinen Kahlkopf mit einem Felsen verwechselte, eine Schildkröte auf ihn fallen ließ und ihn damit tötete. Die Schildkröte starb vermutlich auch, denn der einzige Teil der Geschichte, der mit Sicherheit stimmt, ist die Tatsache, dass Steinadler tatsächlich Schildkröten greifen, mit ihnen auffliegen und sie aus großer Höhe fallen lassen, um sie wie eine Nuss zu knacken. – LXXI: Er wirkt wie der klassische Epigone. Wenn Aristoteles ein Feuerwerk ist, dann ist Theophrast eine Kerze. Seine Theorien sind nicht so kühn, sie reichen nicht so tief, sie scheinen überwiegend von seinem Freund geliehen zu sein. – LXXVII: Aristoteles’ Theorie der spontanen Entstehung hatte eine unheilvolle Wirkung auf die frühe moderne Wissenschaft. Descartes, Liceti, sogar Harvey standen alle in ihrem Bann. Van Helmont, kein dummer Mann, berichtete von spontaner Entstehung von Mäusen aus einer Mischung von Lumpen und Weizen. Der Niedergang der Theorie wurde seltsamerweise durch eine Passage von Homer ausgelöst. – XCV: Dass Theophrastos ein Buch über Fossilien geschrieben haben könnte, ist ein quälender Gedanke. Denn es hieße, dass er den Weg einschlug, an dem sein Lehrer vorüberging. – C: Die Griechen, sagt Plato, drängen sich um das Mittelmeer wie Frösche um einen Teich. Von Sizilien bis Kleinasien und weiter bis zum südlichen Schwarzen Meer gab es mehr als tausend griechische Stadtstaaten. Sie folgten einer Vielzahl politischer Richtungen. – CVI: Eine Frage bleibt. Wenn, wie ich behauptet habe, Aristoteles tatsächlich so ein großer Biologe war, wenn, wie ich behauptet habe, es kaum eine Facette unserer Wissenschaft gibt, die er nicht erleuchtet hat, wenn, wie ich behauptet habe, viele unserer Theorien auf seiner aufbauen, warum geriet dann seine Wissenschaft so in Vergessenheit? 

Wenn wir von Aristoteles sprechen, dann denken wir Altphilologen an der Literaturtheoretiker, den Begründer der Ethik, den Metaphysiker, den Erfinder der Logik. Die statistische Auswertung des Corpus Aristotelicum zeigt den Mann aus Stageira in einem anderen Licht: Vierzig Prozent der erhaltenen Texte behandeln naturwissenschaftliche und hier vor allem zoologische Themen. Nüchtern betrachtet war Aristoteles – und daran erinnert uns Armand Marie Leroi nachdrücklich – in erster Linie Biologe mit Spezialdisziplin Zoologie, der erste empirisch verfahrende Zoologe.

Armand Marie Leroi ist ein ungemein belesener und versiert schreibender Autor; nicht umsonst erhielt er Preise für mehrere seiner Sachbücher. So hat er den Guardian First Book Award gewonnen und ist in Großbritannien ein bekannter Wissenschaftskommentator im Fernsehen. Sein glänzend geschriebenes Buch wurde von Sabine Schmidt-Wussow und Manfred Roth kongenial ins Deutsche übersetzt. Der Band enthält nützliche Anhänge und Tabellen, so etwa ein informatives Glossar, das die von Aristoteles erwähnten griechischen Tiernamen mit der modernen wissenschaftlichen binären Nomenklatur abgleicht.

Zu nennen sind unbedingt noch die Rekonstruktionen einiger aristotelischer Zeichnungen. Alle Illustrationen, die Aristoteles’ zoologische Schriften einmal gehabt haben könnten, sind seit Langem verloren. Eine Reihe von Darstellungen des Buches – Sie finden diese mit Erlaubnis des Theiss Verlags und der WBG Darmstadt innerhalb dieser Besprechung wieder - basieren auf Darstellungen, die Aristoteles erwähnt. Sie wurden von David Koutsogiannopoulos mit Unterstützung der Papyrologin Grace Ioannidou rekonstruiert. Dabei dienten hellenistische Papyri mit geometrischen Abbildungen und Tieren aus der Zeit als Leitfaden zum technischen Verfahren. Nach „vielem Herumprobieren ist ein Stil entstanden, der nicht die Arbeiten eines Künstlers, sondern eines Denkers vermittelt” (508).

Ein Thema für sich ist die Beziehung zwischen Aristoteles und Darwin: „Tatsächlich ist sicher, dass Darwin wenig über Aristoteles wusste, was nicht aus Fragmenten bestand oder was er aus zweiter Hand gehört hatte, bis ihm der Arzt und Altphilologe William Ogle 1882 eine Ausgabe von De partibus animalium schickte, die er gerade übersetzt hatte mit folgendem Begleitschreiben” (297): 

Sehr geehrter Herr Darwin,

ich erlaube mir, Ihnen eine Ausgabe einer Übersetzung von „De partibus” von Aristoteles zu senden, und ich verspüre eine gewisse Selbstherrlichkeit, wenn ich auf diese Weise den Vater der Naturforscher offiziell seinem großen modernen Nachfolger vorstelle. Könnte die Begegnung in Fleisch und Blut stattfinden, was wäre das für ein Spektakel! (S. 297, dazu auch 322).

Leroi erzählt weiter: „Es war genau das richtige Geschenk für Darwin. Einige Wochen später dankte Darwin Ogle in einem Antwortschreiben für das Buch:

Durch Zitate, die ich kannte, hatte ich bereits eine hohe Meinung von Aristoteles’ Verdiensten, aber ich hatte nicht die leiseste Vorstellung davon, was für ein wunderbarer Mann er war. Linné und Cuvier waren bisher meine beiden Götter, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise, aber im Vergleich zum alten Aristoteles waren sie nichts als Schuljungen (298).


Fabio Stok: Vom Papyrus zum Internet. Eine Geschichte der Überlieferung und Rezeption der antiken Klassiker.
Aus dem Italienischen übersetzt von Christiane Reitz in Zusammenarbeit mit Torben Behm, Markus Kersten, Lars Keßler und Svenja Mues,
265 Seiten, broschiert,
Verlag Marie Leidorf GmbH, Rahden/Westfalen, 2017,
ISBN-13: 9783867570909, Bestellnummer: 8078726, 24,80 € 

450 Stok Papyrus 9783867570909

Ein Buch wie das von Fabio Stok fehlt auf dem deutschen Markt. Es führt den Studenten und jeden Interessierten in die Überlieferungsgeschichte und die geistige Tradition der klassischen Literatur ein, immer verständlich, immer anspruchsvoll, immer präzise. Wir sind der Auffassung, dass es kaum eine bessere Einführung in die komplexen Rezeptionsvorgänge der antike Texte geben kann: Ausgehend von der materiellen Überlieferung stellt sie das Schicksal der antiken Texte in einem Szenario dar, das dem Leser zweieinhalb Jahrtausende europäischer Geistesgeschichte zugänglich macht. (Vorwort zur deutschen Übersetzung, S. VII)

Zu dieser Feststellung kam das kleine Team um Christiane Reitz an der Universität Rostock, Torben Behm, Markus Kersten, Lars Keßler und Svenja Mues, die das Buch „I classici dal papiro a Internet” (2012) des an der römischen Universität Tor Vergata tätigen Professors für Lateinische Sprache und Literatur ins Deutsche übersetzt haben. Gleich wo man zu lesen beginnt, der Eindruck des Präzisen, Anspruchsvollen, Verständlichen stellt sich schnell ein. Das sehr detaillierte Inhaltsverzeichnis mag den Leser zu den letzten beiden Kapiteln des Buches führen, zu Kapitel 6 „Die Klassische Literatur in der Moderne”, die Fabio Stok zum Ende des 17. Jahrhunderts beginnen lässt, mit dem Literaturstreit der Alten und der Neuen (Querelle des Anciens et des Modernes). Die Verfechter der Moderne postulierten die Überlegenheit der Modernen in allen Wissensgebieten, eine Debatte, die sich kurz darauf nach England verlagert habe. Hier liegt übrigens ein besonderer Reiz des Buches, die Geschichte der Überlieferung und Rezeption der antiken Klassiker als europäisches Phänomen zu betrachten, was ja gar nicht anders möglich ist. Im Kapitel 5 über „Die Klassiker im Zeitalter des Buchdrucks” heißt es: „Die Beschäftigung mit der antiken Kultur war nicht mehr, wie bei den Humanisten, eine alles durchdringende Einstellung, sondern wurde gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer Forschungsdisziplin, der Altertumswissenschaft, wie Friedrich August Wolf sie nannte. Hierbei verlagerte sich das Zentrum für klassische Studien erneut: Nachdem es von Italien nach Frankreich und dann in die Niederlande und nach England gewandert war, übernahm nun Deutschland die führende Rolle und behielt sie bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.” (178) – Im Abschnitt „Vom Fall der Berliner Mauer bis zum Irak-Krieg” (218f) beschreibt der Autor das Interesse an aktualisierenden Neubetrachtungen der antiken Geschichte, man erinnert sich an entsprechende Titel. „Zum ersten Mal seit dem Niedergang des Römischen Reiches hatte eine einzige Supermacht die Vorherrschaft in einer globalisierten Welt inne: die Vereinigten Staaten von Amerika.” Seit den neunziger Jahren haben sich die Parallelisierungen zwischen Antike und modernen Ereignissen vervielfacht. „Die Krise des Bildungssystems” (220ff) seit den sechziger Jahren skizziert Fabio Stok mit einigen markanten Stimmen aus Deutschland, Frankreich, Italien und den USA: „Die Gefühle der Unsicherheit, die weiterhin vorherrschen, werden durch die ökonomische Krise verstärkt. Die macht es schwierig vorauszusehen, ob Vorschläge wie die von Robert Proctor (sc. ein amerikanischer Italianist: „Die klassische Bildung mag tot sein, doch haben wir bis jetzt nichts gefunden, was sie ersetzen könnte”) und Martha Nussbaum (sie ist überzeugt, „das humanistische Bildung kreatives und unabhängiges Denken fördert, das einen Erfolg auf dem Feld der Innovation garantiert”) zur Aufwertung der Klassiker irgendeine Möglichkeit haben, umgesetzt zu werden. Wahrscheinlich wird man abwarten müssen, bis sich in der heutigen ,Liquidität’, um auf die durch Zygmunt Bauman bekannt gewordene Metapher zurückzugreifen, einige Festigkeit zeigt, um festzustellen, inwieweit Proctors Ansicht begründet ist, man dürfe das Studium der Griechen und Römer nicht vernachlässigen, da ,sie uns unter anderem dabei helfen können, über unsere Zukunft nachzudenken’”. (222f).

Auf den letzten Seiten geht es um „Die Klassiker im Internet”, „Digitale Bibliotheken” und die abschließende Frage „Sind uns die Klassiker näher oder ferner?” An einigen Beispielen illustriert Fabio Stok seine These, dass die Art, wie wir die antike Welt wahrnehmen und rezipieren, sich in dem vom Internet bestimmten soziokulturellen Kontext verändern werde – ganz abgesehen von ungewöhnlichen Forschungsmethoden (Eben lese ich, dass der Einsatz von Plagiatssoftware für literaturhistorische Fragestellungen nicht mehr neu sei und im Falle Shakespeares schon vor Jahren zu überraschenden Ergebnissen geführt habe).

An dieser Stelle ist es nun von Vorteil, das Buch von vorne gelesen zu haben oder planvoll damit zu beginnen und z.B. die vielfältigen Veränderungen der Beschreibstoffe und Textträger – vom Stein, Papyrus, Pergament zum Papier bis zu den magnetischen Trägern – Schritt für Schritt nachzuvollziehen und zu sehen, dass zu den Verlusten, die mit jeder Änderung zu verzeichnen sind, immer auch überraschende positive Effekte zu beobachten sind. „Der Wechsel von der Rolle (Galen bezifferte die Lebensdauer einer Papyrusrolle auf 300 Jahre, vgl. 27) zum Kodex bewirkte im Verlauf des 4. Jahrhunderts, dass der gesamte Bestand des literarischen Erbes, wie er in den Bibliotheken aufbewahrt wurde, in das neue Medium überführt wurde. ... Der Wechsel des Mediums bewirkte die Wiedervereinigung vieler Werke, insofern der Inhalt vieler Rollen nun in ein einziges Buch passte. ... Beträchtlich sind auch die Neuerungen, die der Kodex für das Kommentieren bewirkte – einem der wichtigsten Bereiche der Unterrichtspraxis. ... Im Kodex war es möglich, Kommentare so zu gestalten, dass sie den gesamten zu kommentierenden Text enthielten. Dieser wurde für gewöhnlich in die Mitte des Blattes geschrieben und der Kommentar erschien in Form von Noten am Rand des Blattes. Dies gestattete dem Leser, gleichzeitig Text und Kommentar im Blick zu behalten.” (25) Der Übergang zur Minuskel regte die Buchproduktion zusätzlich an, da dadurch der Kopiervorgang weniger aufwendig wurde und man weniger Pergament benötigte (116). „Zu Beginn des 16. Jahrhunderts, am Ende der großen Suche der Humanisten nach Texten, war nahezu die Gesamtheit der griechischen und lateinischen Autoren wieder verfügbar, die wir bis heute lesen können. Was die Humanisten wiedergewinnen konnten, hat aber nicht nur sämtliche überlieferte Texte wieder ans Licht gebracht, sondern auch die Gefahr von Textverlusten radikal reduziert und somit die Reproduktion des gesamten klassischen Erbes in großem Maßstab gesichert. Diese Rettungsaktion wurde später durch den Buchdruck verstetigt” (121).

Ausgesprochen interessant zu lesen und wegen der Fülle an Detailinformationen auch für den schulischen Unterricht bedeutsam ist Kapitel 1 über die Bewahrung von Texten. Da geht es um Bücher, Kopisten und Buchhändler, um Bibliotheken als Kriegsbeute, Gründungen von Kaisern und Wohltätigkeitswerke in den Städten des Reiches: „Die Präsenz eines dichten Netzes von Bibliotheken dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach bei der Bewahrung und Verbreitung von Texten eine wichtige Rolle gespielt haben. Hierdurch konnten auch die häufigen Zerstörungen und Brände ausgeglichen werden. Galen bezeichnet Brände, zusammen mit Erdbeben, als die größte Gefahr für die Erhaltung von Büchern” (19).

Eine spannende Frage ist es, wie es zum Wechsel von der Rolle zum Kodex (übrigens „ein Element der Identitätsstiftung bei den frühen Christen”), vom Papyrus zum Pergament kam. Papyri sind natürlich ziemlich vergängliche Beschreibstoffe, wobei der Verlust von Texten nicht allein auf diese Tatsache zurückzuführen ist: „Bei einer beträchtlichen Anzahl von Texten und Autoren ist die Kette von Abschriften in einem bestimmten Moment gerissen, wenn die Exemplare, von denen man hätte neue Kopien anfertigen können, verloren gingen oder zerstört wurden. ... Wenn der Papyrus auch in der Spätantike das vorherrschende Trägermaterial geblieben wäre, so wären wahrscheinlich ... viel mehr Fäden abgerissen und auch andere Autoren für immer verloren. Man kann zwar die Verluste abschätzen, indem wir die Autoren betrachten, von denen wir Kenntnis haben. Aber es ist auch wahrscheinlich, dass in der Antike auch Autoren tätig waren, von denen wir nicht einmal den Namen kennen. H. Bardon (Paris 1952–56) hat ermittelt, dass wir von 772 lateinischen Autoren Kenntnis haben. Von 144 Autoren ist ein Werk oder mehr überliefert (das sind 18,65%), von 352 Autoren (45,60%) sind uns Fragmente erhalten. Von den verbleibenden 276 /37,75%) haben wir nichts mehr” (31).

Auch Kapitel 2 „Die handschriftliche Überliefe-rung” ist absolut realitätsnah: „Die Anzahl der Fehler (sc. bei der handschriftlichen Reproduktion) hängt vom Bildungsgrad, der Anstrengung und
den psychophysischen Bedingungen des Kopis-ten ab. Ihre Häufigkeit steigt, wenn dieser unauf-merksam, müde oder einfach unwissend ist" (33) Das führt dann zu einer Typologie von Fehlern und die Erscheinungsformen von Interpolationen. Ein Thema sind auch Plagiate und 'Raubausgaben', von denen schon Plinius und Vitruv berichten (43). Die Wiederherstellung von Texten ist kein
neueres Phänomen, sondern bildet einen Arbeits-schwerpunkt der alexandrinischen Philologie, ein Zusammenschluss von Gelehrten im 3. Jh. v. Chr., die die Bibliothek von Alexandria zusammenstellten und leiteten. 

Krates von Mallos war 168 v. Chr. in diplomati-scher Mission in Rom; Sueton berichtet in De grammaticis 2.2, dass dieser sich in einem de-fekten Abwasserkanal das Bein gebrochen und während seiner Rekonvalenszenz Lektionen über Dichtkunst erteilt habe: so seien die Grammatik und die Philologie nach Rom gekommen. Lucius Aelius Stilo, Varro, Iulius Hyginus, Caecilius Epiro-ta, Asconius Pedianus, Valerius Probus, Quinti-lian, Gellius kümmerten sich in Rom maßgeblich um Textprobleme und Überlieferungsfragen (46–55).

Überlieferung und Textverlust spielen auch im 3. Kapitel „Die Rezeption der Klassiker von der Antike bis zum Mittelalter”, eine maßgebliche Rolle. Schlaglichter fallen hier auf das Bemühen, die Verwendung der heidnischen Literatur durch die christlichen Autoren zu legitimieren, die Verbreitung der Epitomai, als speziell von historio-graphischen Texten Zusammenfassungen herge-stellt wurden. Die Kultur der Spätantike hatte die Funktion eines Filters für die Überlieferung der Texte, eines Filters im negativen Sinn für Texte, die auch aufgrund ihrer geringen Verbreitung während jener Zeit verloren gingen, aber auch im positiven Sinne für Texte, die von der spätantiken Kultur wertgeschätzt wurden, z.B. die Saturae des Juvenal, ein Werk, das zur Zeit des Servius zur Schullektüre erhoben wurde, sowie die Rhetorica ad Herennium, ein Handbuch, das in der Spätantike als ciceronianisches Werk wieder beliebt wurde (79f).

Fabio Stok schildert über mehrere Stationen den Verfall und die Renaissancen des Griechischen im Westen. Anfangs bewog ja das Prestige von Griechisch als Kultursprache sogar Autoren mit lateinischer Muttersprache dazu, auf Griechisch zu schreiben. Ab dem Beginn des 3. Jahrhunderts blieb die Kenntnis des Griechischen im Westen auf die kulturellen Eliten beschränkt, was die Verbreitung griechischer Bücher verminderte und die Produktion von bearbeiteten Versionen und Übersetzungen (etwa medizinischer Werke) veranlasste (80ff). Der Zugang zu wissenschaftlichen und philosophischen Texten in griechischer Sprache war dann im Spätmittelalter von hoher Bedeutung für die Kultur dieser Zeit. In Spanien wurden zahlreiche griechische Autoren ins Lateinische übersetzt (Aristoteles, Claudius Ptolemäus und andere), die in den Jahrhunderten zuvor ins Arabische übersetzt worden waren, aber ebenso Autoren arabischer Sprache wie Avicenna und Averroes (105). Im Lauf des Mittelalters war es nur einzelnen Gelehrten gelungen, sich Griechischkenntnisse anzueignen, um griechische Texte zu verstehen und zu übersetzen. Petrarca brachte eine Handschrift der Ilias in seinen Besitz und besaß zudem einen umfangreichen Platonkodex, aber er konnte sie nicht lesen. In einem Dankesschreiben vom Januar 1354 an Nikolaos Sigeros, der ihm den Homerkodex aus Konstantinopel geschickt hatte, schrieb Petrarca: „Dein Homer ist hier bei mir, stumm, oder vielleicht bin ich es. der für ihn taub ist. Ich bin indessen glücklich, ihn zu betrachten, und umarme ihn häufig und sage ihm unter Seufzern: ,Großer Mann, wie gerne würde ich dich hören!’” (Fam 18.2) (126f).

Das Griechische kehrte in den Westen in der Zeit der Humanisten mit dem byzantinischen Gesandten Manuel Chrysoloras (ca. 1350–1415) zurück, der auf Einladung des Florentiner Kreises 1397 begann, in Florenz Griechisch zu lehren. Der Erfolg war vor allem ein Resultat seiner Methode: vereinfachte Grammatik und direkte Lektüre der Texte. Seiner Grammatik, den Erotemata, war ein dauerhafter Erfolg beschieden (140). Chrysolaos' Schüler gaben den Auftakt zu einem literarischen Phänomen, das im Lauf des 15. Jahrhunderts noch deutlicher in Erscheinung trat: lateinische Übersetzungen griechischer Texte. Im Verlauf eines guten Jahrhunderts (1397–1527) lassen sich ca. 154 Autoren verzeichnen, die übersetzt wurden, 165 Übersetzer und 784 Werke (142). Im Laufe des 15. Jahrhunderts wurde nahezu die gesamte bekannte griechische Literatur ins Lateinische übersetzt. Lateinische Übersetzungen wurden den griechischen Texten auch in der ersten Zeit des Buchdrucks beigegeben. Erst im Laufe des 16. Jahrhunderts verbreiteten sich Übersetzungen griechischer Texte in die Volkssprachen. Aber viele dieser Übersetzungen entstanden auf der Basis des Lateinischen und nicht der griechischen Originale (143).

Es versteht sich von selbst, dass in dem sehr umfassenden Kapitel über „Die Rezeption der Klassiker von der Antike bis zum Mittelalter” (57–120) die karolingische und ottonische Renaissance sowie die Renaissance des 12. Jahrhunderts mit ihren Vertretern und Entwicklungen zu Wort kommen. Im Kapitel „Die Klassiker und die Humanisten” (121–159) finden sich bekannte Namen, die mit den kulturellen Umwälzungen verbunden sind, die im 15. Jahrhundert Italien und dann ganz Europa veränderten: Lovato Lovati, Francesco Petrarca, Giovanni Boccaccio, Poggio Bracciolini, Niccolò Niccoli, Lorenzo Valla, Angelo Poliziano und viele mehr: Thematisiert werden die Ausbreitung der humanistischen Schrift von Florenz aus (134ff), die humanistischen Entdeckungen, die noch bis ins 16. Jahrhundert andauerten, aber auch die negativen Begleiterscheinungen der Suche nach antiken Texten, Fälschungen aus kommerziellen Gründen oder beruflicher Rivalität.

Am Beginn des Buchdrucks steht als erstes klassisches Werk Ciceros De officiis: 1465 wurden in Köln und Mainz davon gar zwei verschiedene Ausgaben veröffentlicht. Auch in den folgenden Jahren blieb Cicero der am meisten gedruckte klassische Autor. Am Jahrhundertende waren 18% der gedruckten klassischen Texte von Cicero und 11% von Vergil. Auch noch im 16. Jahrhundert wurden vor allem Werke in lateinischer Sprache gedruckt (153). Die gedruckten Texte verbreiteten sich schnell und ersetzten die handschriftliche Produktion, die sich schon am Ende des 15. Jahrhunderts stark verringerte. Die Ausbreitung des Drucks fand übrigens auch Gegner. Federico da Montefeltro war ein Nostalgiker der Handschrift und sammelte noch in den achtziger Jahren Pergamentkodizes für die Bibliothek in Urbino. Ein glühender Anhänger der Handschrift, der Benediktinerabt Johannes Trithemius, warnte vor den Gefahren des Drucks in seinem Werk De laude manualium, für dessen Verbreitung er sich indessen einem Drucker anvertraute (154).

Auch Druckern und Herausgebern unterlaufen Fehler. Ende des 15. Jahrhunderts wurden einige Humanisten auf dieses Problem aufmerksam, denn in Zeiten des Buchdrucks wurde ein mitunter flüchtig edierter Text zum Standard und abhängig von der Höhe der Auflage ließ er handschriftliche Exemplare in den Hintergrund treten, auch wenn diese einen besseren Text boten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts blieb dem Herausgeber eines klassischen Textes nichts anderes übrig, als vom textus receptus (,überlieferter Text’) auszugehen, also dem Text der Druckausgaben. Zur Korrektur dieses Textes standen zwei Formen der emendatio (,Korrektur’) zur Verfügung, die emendatio ope codicum (,Korrektur mit Hilfe von codices’) und die emendatio ope ingenii (,Korrektur durch Sprachvermögen’). Die Maßstäbe, nach denen beide Techniken vom 16. bis 18. Jahrhundert angewendet wurden, sind allerdings von denen der Philologie des 19. Jahrhunderts weit entfernt (170). 

Nach einem Blick auf die Frühzeit der Paläographie, auf die Papyrusfunde in den Vesuvstädten und die Entdeckung von Palimpsesten beschreibt Fabio Stok die Anfänge der Altertumswissenschaft. Friedrich August Wolf gehörte zu den bedeutendsten Professoren an der 1810 gegründeten Berliner Universität und bildete in der von ihm selbst entworfenen ,Altertumswissenschaft’ eine der zwei Hauptsäulen. Die andere Säule stellte der Lehrstuhl für die Philosophie des Idealismus dar, den Hegel innehatte (179). Die Textkritik entwi-ckelte sich sodann zu einem Schwerpunkt alter-tumswissenschaftlicher linguistischer Forschung. Fabio Stok beschreibt die methodischen Schritte, die zu einer kritischen Ausgabe eines lateinischen oder griechischen Textes mit dem dazugehörigen wissenschaftlichen Apparat führen. Üblicherweise werden der Apparat und die praefatio auf Latein verfasst; die Bibliotheca Teubneriana und die Bibliotheca Oxoniensis halten sich noch heute daran: „Es handelt sich um die letzte überlebende Gepflogenheit aus einer Zeit, in der die gelehrte Welt sich auf Latein unterhielt” (192).


Günther E. Thüry, Der metallene Spiegel.
Die Forschungsgeschichte der antiken Numismatik,
money trend Verlag Wien 2017, 140 Seiten,
ISBN:978-3-9504195-5-9, € 49,50 / SFr 58,- 

Cover ThAry bearb

Günther E. Thüry studierte Ur- und Frühgeschichte, Latinistik und Gräzistik in Basel. Seit 1980 ist er als Universitätslektor in Salzburg, Leipzig und Wien tätig. Wir in Berlin kennen ihn von Fortbildungsveranstaltungen als Fachmann für die römische Küche, für das Thema Liebe und Erotik im Römischen Reich und seinen Provinzen, für Siedlungshygiene und Umweltprobleme in der antiken Welt, für Archäobotanik und -Zoologie, für Ernährungs- und Medizingeschichte, als Autor mit einer Vorliebe für Inschriften sowie für regionalgeschichtliche und regionalarchäologische Fragestellungen, als Ausstellungsmacher in Österreich, Ungarn, Frankreich und Deutschland und als Rekonstrukteur historischer Gartenanlagen. 

Soeben ist von ihm ein schönes Buch zur For-schungsgeschichte der antiken Numismatik erschienen. Das antike Münzwesen stellt – genau besehen – seine früheste wissenschaftliche Liebe dar. Die erste eigenständige Publikation Thürys handelt von einem spätrömischen Münzfund in Kaiseraugst, seine erste Vorlesung in Salzburg war eine Einführung in die römische Münzkunde. Numismatische Themen gehören seit über 40 Jahren ununterbrochen zum Forschungsbereich von Günther E. Thüry.

Das reich illustrierte Buch ist denn auch entstanden aus Vorlesungen des Autors an der Universität Salzburg und dann aus einer Artikelserie, die in den Jahren 2013–2016 in der Zeitschrift „Money
Trend” (Wien) erschien. 25 solche vier- bis siebenseitige münzgeschichtliche Artikel machen das Buch aus, ergänzt durch zwei umfangreiche Anhänge (Druckwerke des 16. bis mittleren 19. Jahr-
hunderts zu Themen der antiken Numismatik, 121–125, und Literatur über die Forschungsgeschichte der antiken Numismatik, 126–134) und drei Register (136–139; Namensregister, Sachregister, Register der Fundorte). Einen aus-gezeichneten Einstieg stellt eine tabellarische Übersicht zu den Entwicklungsschritten der Forschungsge-schichte von der Antike bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (119) dar mit Verweis auf die jeweiligen Kapitel des Buches, in denen der Autor den einzelnen Fragen nachgeht. 

Schon ein paar Kapitelüberschriften können die Breite der Recherche von Günther E. Thüry andeuten: Kulturvermächtnis und Judaslohn. Antike Münzen zwischen Frühmittelalter und Renaissance; – Budés und Fulvios Erben. Anfänge der Numismatik an Donau, Elbe und Rhein; – Jacopo da Strada und Wolfgang Lazius: Ein numismatisches Duell; – Waffenlärm vertreibt die Musen. Frühbarocke Numismatik im Deutschen Reich, in Frankreich und Spanien; – Im Schatten des Königs. Tragische Numismatikerschicksale im barocken Frankreich; – Wie wichtig ist die Numisma-tik? Jean Hardouin und die Verschwörung der Fälscher; – Von Camden bis Addison. Antike Numismatik im barocken England; – Römer an der Ostsee? Karthager auf den Azoren? Das 18. Jahrhundert auf den Spuren gefundener Münzen; – Ein Leben wie im Märchenbuch. Valentin Duval und das numismatische Wien um 1750; – Joseph Hilarius Eckhel und die ,Doctrina Nummorum’; –Vom Spätbarock zum Biedermeier. Ein Rückblick und ein Ausblick. 

Natürlich trifft man in diesem Buch auf zahlreiche Persönlichkeiten, von denen etwa auch Fabio Stok in seiner Geschichte der Überlieferung und Rezeption der antiken Klassiker spricht (eine reizvolle Sache, diese Herrschaften aus einer anderen Perspektive bzw. eine neue Facette ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit zu erleben), aber die Nu-mismatik ist speziell auch eine Leidenschaft der Könige. „Majestät erlauben sich einen Scherz” überschreibt Thüry einen kleinen Exkurs an den Hof der eigenwilligen schwedischen Königin Christina, die sich wie der französische König Ludwig XIV. vom Vorbild der antiken Münze zu seiner Medaillenprägung anregen ließ. In ihrem römischen Exil ließ sie eine Medaille anfertigen, die auf der Vorderseite ihren Namen REGINA CHRISTINA und einen Kopf mit Helm zeigte, auf
der Rückseite den in Flammen stehenden Vogel Phönix und in griechischer Schrift das Wort MAKELOS. Daraufhin begannen die Gelehrten zum großen Amüsement der Königin ihre Lexika
zu wälzen, um den Sinn der griechischen Rück-seitenlegende zu ergründen. Das Griechisch-lexikon half dabei aber nicht weiter, was dann die Königin selbst tat. „Makelos”, klärte sie die Gelehrten auf, sei gar nicht altgriechisch, sondern schwedisch (heute: „makalös”) und bedeute zweierlei: „wunderbar” und „ledig”. Beides passe zu ihr (Thüry, 83).

Den Gedanken, dass das Münzporträt nicht allein der Illustration diene, sondern etwas vom Wesen der dargestellten Person preisgeben könnte, formulierte der bayerische Historiker Johannes Aventinus (i.e. Johannes Turmair aus Abensberg bei Kelheim), der über das Aussehen des römi-schen Kaisers Maximinus Thrax (235–238 n.Chr.) sinnierte: „Und ist Maximinus ain wilder grober greulicher peuerischer man gewesen ... hat ain ungeschaffen peuerisch angesicht (als sein münz anzaigt) gehabt und ist im die grobhait und hertigkait aus den augen geschinen.” Thüry meint dazu: „Tatsächlich scheint zu diesen Gedanken zu passen, dass eine neuere naturwissenschaftliche These eine markante Kinnpartie wie die des Maximinus Thrax für ein mögliches Anzeichen auch von Aggressivität hält. Aber so
einfach, wie Aventin und andere meinen, sind die beliebten Rückschlüsse von Bildern auf Charaktere wohl nicht wirklich” (28). Guillaume Rouillé, ein französischer Verleger (1518–1589), gibt – fasziniert
vom Individuellen – in seinem „Handbuch der Bilder der berühmteren Menschen von Beginn der Zeit an” (Promptuarium iconum insigniorum a saeculo hominum, Lyon 1553) eine andere Begründung zur Faszination der Gesichter, offensichtlich ein Lieblingsthema seiner Zeit: „Es gibt auf diesem Erdkreis, der gewaltigen Bühne unter dem Himmelszelt, nichts Sehenswürdigeres als das Gesicht des Menschen. In ihm ist (sogar die Dämonen bekennen das) ein Spiegel Gottes zu bewundern und zu verehren; und die Anzeichen aller Tugenden leuchten klar aus diesem so engen und doch so erhabenen Raum hervor ... Deshalb haben jene Menschen des Altertums das Gesicht als – kein Zweifel – den schönsten und vornehmsten menschlichen Körperteil ... im kleinen metallenen Rund ihrer Münzen ... abgeprägt und dargestellt” (aus dem Vorwort des o.g. Buches von G. Rouillé) (Thüry, 33). 

Eine hübsche Verknüpfung von den Anfängen des Buchdrucks und der Numismatik zeigt Thüry am Beispiel der Druckermarke, also der Wahl des Markenzeichens, des Venezianischen Verlagshauses des Aldo Manuzio auf: „Diese Drucker-marke zeigt einen Anker, um den sich ein Delphin windet. Als Vorbild hatte dafür die Darstellung von Anker und Delphin auf einem Denar des römischen Kaisers Titus aus dem Prägejahr 80 nach Christus gedient. Ein Exemplar der Münze war dem Drucker von seinem Freund Pietro Bembo geschenkt worden; und Manuzio hatte die Darstellung ungemein gefallen. Sie gefiel ihm allerdings deshalb so besonders, weil er das antike Münzbild missverstand. Manuzio – und ebenso der große Gelehrte Erasmus von Rotterdam – sah in der Kombination von Anker und Delphin ein Symbol für eine Überzeugung, die er teilte: für die Überzeugung nämlich, dass die Schnelligkeit im Leben (für die der Delphin stehe) nur dann eine vernünftige Sache sei, wenn sie sich mit einer gewissen Bedächtigkeit (vertreten durch den Anker) verbinde. Diese Regel ,Eile mit Weile’ war bereits das Motto des römischen Kaisers Augustus, der auch zu sagen pflegte: ,alles geschehe schnell genug, wenn es nur gut geschieht’ (Sueton Divus Augustus 25,4). Das ist nun zwar eine Weisheit der Antike, die zeitlos und noch für die automobilistische Ära bedenkenswert scheint. Aber mit der Titusmünze hat sie an sich nichts zu tun. Die Denarrückseite mit Anker und Delphin stellt in Wahrheit zwei Attribute des Meeresgottes Neptun dar. Als Anlass der Prägung kommt die Eröffnung des Flavischen Amphitheaters, also des Colosseums, durch Kaiser Titus in Frage. Dabei wurde die Arena auch geflutet und wurden Schiffskämpfe gezeigt” (Thüry 16f).

Zur antiken Numismatik hat sich auch Johann Wolfgang von Goethe, besonders in Briefen im Kontext seiner Reise nach Italien, vielfach geäußert; so hat er – der zum Schluss eine Sammlung von 121 griechischen und 638 römischen und byzantinischen Stücken besaß – gegenüber seinem Freund Friedrich von Müller den „abgeklärten Ausspruch” (Thüry) getan: „Der Mensch mache sich nur irgend eine würdige Gewohnheit zu eigen, an der sich die Lust in heiteren Tagen erhöhen und in trüben Tagen aufrichten kann. Er gewöhne sich z.B. täglich in der Bibel oder im Homer zu lesen, oder Medaillen oder schöne Bilder zu schauen, oder gute Musik zu hören. Aber es muss etwas Treffliches, Würdiges sein, woran er sich so gewöhnt, damit ihm stets und in jeder Lage der Respect dafür bleibe” (Thüry 105).

Günther E. Thüry schließt den Darstellungsteil seines Buches mit einem Auszug aus dem Vorwort von Christian Wilhelm Huber, Numismatiker, Diplomat und Literat, im ersten Band der „Numismatischen Zeitschrift” (erschienen 1869), der wiederum endet in der Feststellung: „Eine Münzsammlung ist kein todtes Capital, sie trägt dem Besitzer durch Belehrung und Unterhaltung reichliche Zinsen” (Thüry 118). Das lässt sich auch über dieses Buch (und seine Illustrationen) sagen: es belehrt und unterhält in hohem Maß!


Mark Lehner, Zahi Hawass, 
Die Pyramiden von Gizeh. 
Aus dem Engl. von Martina Fischer, Dr. Renate Heckendorf und Dr. Cornelius Hartz,
Verlag Philipp von Zabern – WBG 2017,
560 S. mit über 
400 farbigen Abbildungen, 
ISBN 978-3-8053-5105-8, € 129,00 
Die englische Originalausgabe Giza and the Pyramids erschien 2017 bei Thames & Hudson Ltd. London

Lehner Die Pyramiden von Gizeh

Die beiden Autoren dieses gewichtigen Buches kennen Sie aus den Medien. Es gibt kaum eine Dokumentation über das alte Ägypten, in der nicht Zahi Hawass zu Wort kommt, er-folgreicher Ausgräber auf dem Gizeh-Plateau, Direktor der Gizeh-Pyramiden, Generalsekretär der ägyptischen Altertümerverwaltung, Minister für Altertumsgüter, kurz: der bekannteste Ägyptologe seines Landes.

Wenn es um die Pyramiden geht, fällt immer auch der Name des US-Amerikaners Mark Lehner, des führenden Experten auf dem Gebiet der Pyramidenforschung. Beide Autoren kennen sich seit  Studentenzeiten Mitte der 70-er Jahre. Mark Lehner leitet später die Ancient Egypt Research Associates (AERA), die zahlreiche großangelegte Forschungsprojekte, wie z.B. das Gizeh Plateau Mapping Project, die wissenschaftliche Erforschung der Sphinx etc. ins Leben riefen.

Seit den 90-er Jahren ist Mark Lehner in meinem Unterricht präsent gewesen; er ist der Archäologe, der bei meinen Schülern regelmäßig Staunen und Bewunderung hervorrief. Eines seiner öffentlich-keitswirksamsten Projekte war der Pyramidenbauversuch von 1991 durch ägyptische Bauhand-werker und Steinmetze mit Werkzeugen und Techniken der Antike. Mark Lehner realisierte den Nach-
bau einer kleinen Pyramide, um die benötigte Zahl von Arbeitern beim Pyramidenbau abzuschätzen. Erwartete und unerwartete Probleme kamen dabei zum Vorschein. Darüber gab es zwei 45-Minuten-Filme, an Spannung kaum zu überbieten: experimentelle Archäologie im bes-ten Sinn, der Renner in meiner damals etwa 300 Kassetten umfassenden Videosammlung zu Themen der Antike, hier zum letzten weitgehend erhaltenen Weltwunder der Antike. Im Kapitel 16 dieses Buches – Wie sie die Pyramiden gebaut haben könnten – kommt Lehner auf dieses Projekt zu sprechen, illustriert durch etliche Fotos (413–419).

Doch zurück zum Anfang und den Anfängen die-ses Buches. Im Vorwort bekennen die beiden Autoren: „42 Jahre haben wir an Die Pyramiden von Gizeh gesessen. Das ist wahrscheinlich länger als der Bau der Cheops-Pyramide gedauert hat. Seit 30 Jahren stand sogar bereits der Titel fest. Alles begann 1986 unter der Ägide unseres gemeinsamen Mentors William Kelly Simpson, der mit dem unermüdlichen Lektor Colin Ridler von Thames & Hudson vereinbarte, dass wir ein allgemein gehaltenes Buch über Gizeh schreiben würden” (Vorwort, 9). Beiläufig erzählen beide Autoren, was sie über die Jahre beschäftigt hat: „In Gizeh grub Zahi Hawass den Arbeiterfriedhof an der Ostseite des Gebel al-Qibli aus, und Marl Lehner legte ... die Arbeiterstadt an der Krähenmauer frei, die so groß war wie sieben Fußballfelder ... Hawass war an Ausgrabungen an diversen Stätten in ganz Ägypten tätig ... und Mark Lehner gelang es, die Wasserstraßen und Häfen der 4. Dynastie zu rekonstruieren” (11–13). Beide publizierten unabhängig voneinander zahlreiche Bücher. „Auf dem Gizeh-Plateau hatten wir währenddessen so viel zu tun, dass wir Die Pyramiden von Gizeh weiter aufschoben”(12). 

Was dann eintrat, überrascht nicht: „Was 1986 ,neu’ gewesen war, war 1996 bereits ein alter Hut, erst recht aber 2006, und bis 2016 hatte sich unser Archiv komplett verändert und war um ein Vielfaches gewachsen. Die Fülle neuer Gräber und neuer Daten über den Alltag der Pyramidenbauer, ihre tönernen Siegelabdrücke, ihre Bäckereien, Metzgereien und Werkstätten, die Überreste von Pflanzen und Tierknochen – all das ist inzwischen in neuen Archiven versammelt, die mindestens so viel Material für neue Forschungen bieten wie die Funde von Hassan, Reisner und Junker im vorigen Jahrhundert. Im Lauf der Jahre entwickelte sich unser Buch Die Pyramiden von Gizeh zusammen mit unserer Forschung ständig weiter. Wir mussten neue Kapitel hinzufügen, andere nach mehreren Jahrzehnten umschreiben ... Mitunter kam es uns so vor, als würden wir das Buch eines anderen bearbeiten. Und im Grunde stimmte das ja auch: Schließlich hatten wir manche Texte geschrieben, als wir noch nicht halb so viel wussten wie jetzt” (13)

Wie muss man sich ein Buch über die drei großen Pyramiden von Gizeh vorstellen, das von zwei Autoren stammt, die seit über vier Jahrzehnten Grabungen auf dem Gizeh-Plateau durchführen und leiten? Es ist an Detailreichtum, Genauigkeit und Aktualität kaum zu überbieten. Auf 20 umfangreiche Kapitel folgt gar noch ein Nachwort „Neues aus Gizeh” (526ff). Kaum eine Frage wird ausgelassen, etwa „alternative Theorien und New-Age-Gedankengut” (25f) zum Pyramidenbau, Rätsel und offene Fragen werden als solche benannt. Geographie und Geologie spielen eine bedeutende Rolle, z.B. in Kap. 3: Die Entstehung des Gizeh-Plateaus. Natürlich gibt es ein Kapitel über die „Ursprünge der Pyramide” (63ff) bis hin zum Pyramiden-Bauboom. Sehr spannend fand ich das Kapitel über „Forscher, Wissenschaftler und Expeditionen” (81ff), in dem es immer wieder um folgenreiche Fehldeutungen geht: „Bis Griechen und Römer Gizeh besichtigten, hatten sich die Fakten bereits unaufhaltsam mit den Sagen über die Pyramiden vermischt. Um die Mitte des 5. Jhs. v. Chr. hörte Herodot einen ausgesprochen negativen Bericht über Chufu, den er Cheops nannte. Er war es, der schrieb, Sklaven seien zum Bau der Großen Pyramide gezwungen worden” (82). Über den Abbau der Pyramidensteine und des Sphinx zur Zeit des großen Saladin (1138–93) berichtet der Historiker Abd al-Latif aus Bagdad; auch schrieb er, die Pyramiden seien mit nicht entzifferbarer Schrift bedeckt: „So zahlreich sind die Inschriften, dass nur diejenigen abgeschrieben wurden, die man auf der Oberfläche der beiden Pyramiden findet; dies würde etwa zehntausend Seiten füllen.” Hierbei müsse es sich um die Graffiti von Besuchern noch aus der Pharaonenzeit gehandelt haben (85) und die Verkleidung der Pyramiden müsse bei Abd al-Latifs Besuch 1197 noch weitgehend intakt gewesen sein. 

Eine der frühesten europäischen Darstellungen der Pyramiden befindet sich auf einem „Mosaik in der Kuppel der Basilika St. Markus in Venedig. Es zeigt die Pyramiden als Kornspeicher des Josef.
Diese Vorstellung ging von den lateinischen Schriftstellern Rufinus und Julius Honorius aus dem 4. und 5. Jh. aus” (86). Athanasius Kircher (1601–80), der als „Vater der Ägyptologie” gilt, „zeichnete die Pyramiden in seinem 1679 veröffentlichten Turris babel, sive Archontologia mit doppelten Mausoleum-Eingängen in der Größe von Garagentoren” (86f). Der Oxforder Professor für Astronomie John Greaves (1602-52), mit dem die Anfänge wissenschaftlicher Beschreibung verknüpft sind, wischte alle mythischen Erzählungen über die Gizeh-Pyramiden beiseite. Engländer, Franzosen, Deutsch, Dänen u.v.m. gehören fortan zu den Besuchern des Gizeh-Plateaus. 

Der Ägyptenfeldzug unter Napoleon Bonaparte im Jahr 1798 markiert eine bedeutende Schwelle in der Erforschung des Alten Ägypten. Seine Gelehrten rechneten ihm bei seinem Besuch der Pyramiden vor, „dass die Steinmasse der drei Hauptpyramiden für eine 50 cm dicke und drei Meter hohe Mauer um Frankreich herum ausreichte und dass die Steine – längs hintereinander gesetzt – zwei Drittel des Erdumfangs ergäben” (90f). Leider begann in dieser Zeit der exakten Dokumentation auch die Ära des Plünderns und der zerstörerischen, unsyste-matischen Ausgrabung. Zu denen, die in den
Folgejahren die Pyramiden erkundeten, zählt auch Carl Richard Lepsius (1810–84) als Leiter einer von König Friedrich Wilhelm IV. ausgesandten preußischen Expedition nach Ägypten. Sein Architekt Georg Erbkam fertigte übrigens die exakteste Karte des Gizeh-Plateaus seit Napoleons Feldzug an, die erst in den späten 1970-er Jahren übertroffen wurden. (97). Die Forschungsgeschichte des 20. Jahrhunderts legen die Autoren umfassend dar und stellen fest, dass die lange Reihe der Gizeh-Untersuchungen den Nebel aus Mythen und Legenden gelichtet hätten, der über Herkunft und Zweck der Pyramiden lag. Die rabiate Untersuchung mit Schwarzpulver und Brecheisen sei den Methoden mit geophysikalischen, ,fernerkundenden’ Lasern und Forschungsrobotern gewichen. Den Forschern sei klar geworden, dass sie noch mehr über das Pyramidenzeitalter lernen konnten, wenn sie sich von den eigentlichen Pyramiden ab- und der sie umgebenden Gräberstadt zuwenden (107).

In den folgenden sechs großen Kapiteln geht es dann um die Pyramiden des Cheops, des Chephren und des Mykerinos, um die Tempelanlagen und Gräber, um den Großen Sphinx und das Chentkaues-Denkmal, „Gizehs i-Tüpfelchen”, ein „äußerst ungewöhnliches, nur schwer einzuordnendes Denkmal” (286). Die Dimensionen dieses Komplexes sowie die Form ihres Grabes unterstützen den Eindruck, dass Chentkaues I. als rechtmäßige oberste Herrscherin regierte (311).

Ein jüngeres Forschungsobjekt ist die östlich und westlich der Cheops-Pyramide gelegene Gräberstadt mit vier Kernfriedhöfen mit mächtigen Mastaba-Gräbern, in den Jahren 1842-45 von Lepsius erforscht und zwischen 1987 und 2000 erneut von Zahi Hawass untersucht: "Viele, die als junge Leute an den mächtigen Pyramiden-Projekten der 4. Dynastie mitgearbeitet hatten, kehrten in der 5. Dynastie, alt geworden, offenbar nach Gizeh zurück, um hier ihre Gräber auszustatten. Viele konnten ihre Gräber nicht mehr zu Lebzeiten fertigstellen; ihre Scheintüren blieben leer. Gizeh scheint für sie der Ort gewesen zu sein, den sie mit ihren intensivsten Arbeits- und Lebenserfahrungen verbanden. Alte Gräber und Friedhöfe wurden erweitert, die Lücken zwischen ihnen geschlossen, und so hinterließen uns die nachfolgenden Generationen in der großen Gizeh-Nekropole rund um die alten Friedhofskerne, rings um Pyramiden und Sphinx regelrechte Gräbergalaxien" (337).

Die Geschichte der Ausgrabung des Arbeiterfriedhofs beginnt schmerzhaft: "Am 14. April 1990 wurde eine amerikanische Touristin beim Ritt über das Plateau abgeworfen, als ihr Pferd gegen etwas Hartes stieß. Es war ein kleiner Abschnitt einer Lehmziegelmauer, etwa 10 m von den Ausgrabungen der Jahre 1988/89 entfernt. Am 4. Mai nahm das Gizeh-Inspektorat die Grabungsarbeiten in dem Bereich auf, den wir später Arbeiterfriedhof nennen sollten. Seitdem haben wir (Hawass) über einige Jahre hinweg mit dem kompletten Archäologen- und Spezialistenteam sowie 70 Arbeitern hier verbracht" (340). Die Funde verraten viel über die Menschen und ihre Aufgaben, so eine Mastaba aus hochwertigem Kalkstein, geschmückt mit feinen Hieroglyphen in horizontalen Registern auf dem Türsturz: "Ny-su-wesert ('Er gehört zu den Mächtigen') habe ein 'wunderbares hohes Alter unter dem großen Gott (dem König) erworben'. Seine Titel lauten ,Hüter des Eigentums des Königs’ und ,Verwalter der großen Domäne’”(347). Viele Frauen wurden im Arbeiterfriedhof mit oder neben ihren Ehemännern bestattet. Man hat auch zwei Gräber gefunden, in denen nur Frauen bestattet waren. Sie haben möglicherweise allein in Gizeh gearbeitet; die Gräber je einer Priesterin der Hathor und der Neith wurden hier gefunden (350).

Kap. 15 handelt vom Leben in Gizeh: Arbeiter-siedlungen und Pyramidenstädte (355ff). Viele stellen sich die Pyramiden als majestätisch-isolierte Bauten vor. Aber um die Pyramiden herum drängen sich die Gräber der Elite; der Arbeiterfriedhof zeugt noch von den Menschen – mit Titeln, Statuen und Szenen des täglichen Lebens. Die Menschen, die die Arbeiterschaft bildeten, müssen in den Jahren und Jahrzehnten der Entstehung der Pyramiden in fußläufiger Entfernung zur Baustelle gewohnt haben. Gizeh muss über eine Spanne von knapp 75 Jahren geradezu pulsiert haben. Die erst wenige Jahre
zurückliegenden Grabungen brachten bemer-kenswerte Funde zum Vorschein (dargestellt mehrfach als Rekonstruktionszeichnung), so zwei intakte Bäckereien aus der Pyramidenzeit (374ff). Brot und Bier waren im Alten Ägypten Grundnahrungsmittel. In Grabszenen des Alten Reichs wird in denselben Einrichtungen Brot gebacken und Bier gebraut. Mark Lehner ließ 1993 solch eine antike Bäckerei nachbauen und in Betrieb gehen: „Letztendlich stellten wir aus verschiedenen Gerste-Emmer-Kombinationen tatsächlich genießbares Brot her, wenn es auch etwas zu sauer war – wir ließen den Teig zu lange gehen, sodass sich zu viele der Milch-säurebakterien, die eine Symbiose mit der Hefe eingehen, bildeten” (377). 

Viele Details zum Pyramidenbau enthält das Kap. 16: Wie sie die Pyramiden gebaut haben könnten (403ff). Es beginnt mit der lapidaren Feststellung: „Viele Ideen zum Pyramidenbau erweisen sich bei genauerer Betrachtung im hellen Sonnenlicht Ägyptens als unbrauchbar” (404). „Im ersten Schritt mussten die Baumeister jeweils zunächst die Landschaft für Pyramide, Aufweg und Tempel
aufteilen und auch die Steinbrüche, Werkhöfe, Transportwege, Hafen, Lagerplätze und Arbeitersiedlungen effizient unterbringen. Versorgungslinien für alle Baumaterialien und Brennstoff waren einzurichten. Nahrungsmittel für die Arbeitskräfte zu beschaffen” 404). Als im Rahmen der TV-Reihe NOVA in Gizeh eine kleine Pyramide gebaut wurde, konnten etliche Theorien etwa über den Transport der Steine auf Schlitten, über den Wüstenlehm als Schmiermittel, über Transportbahnen zwischen Wasserweg und Bau-platz bestätigt, widerlegt oder modifiziert werden, etwa der Gebrauch von Seilen: „Auf Grabszenen sind Reihen von Männern zu sehen, die an dicken Tauen Boote mit schweren Särgen ziehen. Nach den Erfahrungen heutiger Steinmetze reicht die Zugfestigkeit von trockenen Seilen zum Transport von schweren Lasten nicht aus: sie reißen schnell. Zum Stürzen großer Blöcke verwenden sie daher mit Öl behandelte Seile von 4 cm Durchmesser. Um für den Ziehenden griffig zu sein, darf das Tau nicht zu dick sein” (413).

Bemerkenswert ist, dass Mark Lehner im Kapitel 16: „Wie sie die Pyramiden gebaut haben könnten” vielfach im Konjunktiv spricht sowie Wahrscheinlichkeiten formuliert: „Die Blöcke der obersten Lage könnten aber durchaus zunächst über Rampen so hoch wie möglich hinaufgebracht und dann durch Hebeln in ihre Position befördert worden sein” (417). –„Für die Bildung der rechten Winkel an den Ecken sind drei Möglichkeiten denkbar. Die Vermesser könnten ....” (409).  – „Wahrscheinlich nutzten sie Quarzsand als Schleifschlamm” (406). – „In der Theorie mag das schlüssig erscheinen, in der Praxis aber ergeben sich Probleme ...” (408). Solche Eingeständnisse sind für den Leser hilfreich, weil sie ihn erkennen lassen, wo die vielfältigen Rätsel und Probleme des Pyramidenbaus weiterhin liegen. Gegenläufig ist Kap. 17 konzipiert: Vor Ort in Gizeh: die Pyra-midenprojekte (421ff). Dort zeigen die Autoren, wie minutiöse Beobachtungen unsere Kenntnisse immer wieder erweitern. Beispiel Meißelspuren. Mark Lehner erzählt, dass er mit Nick Fairplay, dem Meisterbildhauer der Kathedrale St. John the Devine in New York, Arbeitsspuren der Steinmetze studiert habe: „Als er die Meißelspuren an den Wänden der Großen Galerie in der Cheops-Pyramide in Augenschein nahm, konnte er genau erkennen, an welcher Stelle ein einzelner Steinmetz pausiert, sein Werkzeug nachgeschliffen und schließlich die Bearbeitung der Oberfläche fortgesetzt hatte. Unmittelbar vor einer Unterbrechung begannen die Meißelecken sich zu biegen und tiefere Linien in die Kanten des Schnittkanals zu hinterlassen” (426f). Auf jede der drei Großen Pyramiden bezogen stellt Mark Lehner spezifische Besonderheiten, Merkmale, Fassungen, Berechnungen und Werkzeugspuren zusammen, die als unbedeutende Details er-scheinen und meist übersehen werden mögen. „Tatsächlich bieten sie aber einige der besten und überzeugendsten Anhaltspunkte dafür, wie die Pyramiden von Gizeh gebaut wurden – eine Leistung, die manche als nicht menschenmöglich ansehen” (460f).

Nach 500 Seiten Lektüre und vielen z.T. grandiosen Bildern möchte man meinen, dass die Erforschung dieses Weltwunders durch  Generationen von Archäologen und Pyramidenspezialisten ein gewisses Ende erreicht hätte, aber dem ist nicht so. Eigentlich haben das ja schon die respektablen Ausgrabungen und Forschungen der beiden Autoren in den vergangenen Jahrzehnten auf dem Gizeh-Plateau umfassend belegt. Im Nachwort „Neues aus Gizeh” (526ff) berichten die Autoren von „kürzlich entdeckte Wadi-el-Jarf-Papyris aus der Zeit des Cheops” (526), die „Aufschluss geben über zahlreiche reale Personen, die in der noch recht obskuren Geschichte des frühen Alten Reichs eine Rolle spielten”. Ein weiteres internationales Projekt – ScanPyramids – forscht nach bislang unbekannten Hohlräumen in den Pyramiden. Dabei arbeitet man mit Myonen; diese Elementarteilchen sind überall präsent und durchdringen zu Millionen und Abermillionen alle materiellen Strukturen. Auf speziellen Geräten hinterlassen Myonen Spuren, die ein Bild ähnlich einer Röntgenaufnahme ergeben. Ergänzt wird diese Technik durch Infrarot-Untersuchungen. 2015 wurde schließlich die bislang gründlichste Vermessung der Basis der Cheops-Pyramide durchgeführt. Fazit ist, „dass alle vier Seiten nur um 5 mm voneinander abwichen – eine nahezu perfekte Konstruktion. Man vergleiche nur den Maximalwert im Osten (230,373 m) mit dem Maximalwert im Westen (230,378 m” (531f).

Was soll man zu solch einer grandiosen „Vermessung der Großen Pyramiden” von zwei so versierten Akteuren und Autoren anderes sagen, als dass „Die Pyramiden von Gizeh” ein ziemlich perfektes Opus Grande ist, das neue Standardwerk zu diesem unerschöpflichen Thema.


Markus Janka (Hrsg.): Lateindidaktik. Praxishandbuh für die Sekundarstufe I und II,
Cornelsen Verlag Berlin, 2017, kartoniert,  256 Seiten, 
ISBN 978-3-589-15331-6, 22,99 €

Janka Fachdidaktik Latein

Das Schulfach Latein steht im Spannungsfeld zwischen historischer Ausrichtung der Fachinhalte und dem Blick nach vorne auf Modernisierung – so die These der fünf Autoren dieses Praxishandbuchs, die überwiegend an der Universität Regensburg studiert haben und nun an der Ludwig-Maximilians-Universität München bzw. im Bayerischen Schuldienst tätig sind. Das kompakte (und preiswerte!) Handbuch soll gleichermaßen Studierende, Referendare und erfahrene Lehrkräfte des Faches ansprechen. Seine drei Teile bieten dabei für jeden Adressatenkreis genügend Material zum historischen Verständnis, zur Reflexion, zur Erprobung, zur Bestimmung der eigenen Lehreridentität. Mit zwei Abschnitten fällt Teil I: Voraussetzungen recht überschaubar aus. Völker Müller beschreibt unter der Überschrift „Historisch-institutionelle und kulturelle Voraussetzungen” knapp die Tradition des Lateinunterrichts und den Status quo sowie die Fachleistungen des Lateinischen als Unterrichtsfach: „Der Lateinunterricht kann in der Zukunft – neben seiner ohnehin schon etablierten Multivalenz – (die Überzeugung, dass Latein eben nicht nur ein Sprachfach sei, sondern viele andere Inhalte vermittle) – seine besondere Kraft aus der verstärkten Präsenz der Antike in der Alltagskultur der Gegenwart schöpfen” (18). Die „Schülerindividualität” bildet den zweiten Aspekt der Voraussetzungen; diese wird bestimmt von einem ziemlich differenten Bildungshintergrund – auch bei der Klientel des Lateinunterrichts. Mit Verweis auf das groß angelegte Berliner Projekt Pons Latinus – Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache lernen Latein konstatiert Volker Müller: Es dürften „keine gravierenden Schwierigkeiten zu erwarten sein, sollten Schüler mit Migrationshintergrund Latein als Fach wählen; im Gegenteil, die geschilderten Vorteile für sie legen geradezu die Wahl von Latein nahe” (36). Um die Lernerindividualität aufzugreifen, seien die mit einer Individualisierung einhergehende innere oder Binnendifferenzierung und die Kombination unterschiedlicher Lernformen das Mittel der Wahl (also Differenzierung nach Lernwegen, nach dem Umfang des Lernstoffs, nach Anforderungsniveau, nach der Wahl der Sozialformen und der Arbeitsform).

Teil II ist erwartungsgemäß der Teil mit dem größten Umfang (40–171), im Focus steht der konkrete Unterricht. Markus Janka und Volker Müller sowie Jan König und Rüdiger Berneck präsentieren die gängigen Themenfelder 3. Die Spracherwerbsphase und ihre Zielsetzung, 4. Arbeiten mit dem Lehrwerk, 5. Übersetzen, 6. Textarbeit, 7. Formen der Interpretation, 8. Die Lektürephase und 9. Unterrichtsplanung. Hier geht es fraglos um die Grundprinzipien, das Basiswissen und das unverzichtbare Handwerkszeug des Lateinlehrers. Reizvoll und inspirierend sind in diesem Abschnitt die knappen Übersichten zu einzelnen Aspekten, etwa „Grundsätze des Spracherwerbsunterrichts”(41), „Prinzipien des Übens und Aufgabenformate” (77–83), „Lektüreprinzipien” (137ff), sodann die historischen Rückblicke und Übersichten zu den Entwicklungsstufen, die beim Leser den Blick schärfen für das, was gegenwärtig gilt, z.B. „Schulische Relevanz von Grammatikmodellen” (42), „Kulturkunde” (55ff), „Lehrbücher und ihre Generationen”, (62–71), „Das Ringen um die 'gute Übersetzung' in der öffentlichen Diskussion und im Unterricht” (88ff), Übersetzungsmethoden und Dekodierungsverfahren (92ff), „Arbeit am Text: Nicht nur Übersetzen und Interpretieren” (101ff), „Von der philologischen Interpretation zum Lektüreunterricht: Didaktische Modellierungen” (113ff), „Didaktische Modelle als Grundlage von Unterrichtsplanung” (156ff), aber auch Konkretionen und Praxisbeispiele, z.B. „Grammatikeinführung konkret„ (45ff), „Ansätze zu einer neuen didaktischen Konzeption der Wortschatzarbeit im Lateinunterricht” (53ff), „Textarbeit in der Spracherwerbsphase” (103ff), „Textarbeit in der Lektürephase” (108ff), „Kriterien sinnvoller Einstiegstexte” (sc. bei der ersten Lektüre) (140 ff), „Wortschatzarbeit” (146ff), „Anforderungen an moderne Lektüreausgaben” (152ff), „Mögliches Artikulationsschema einer Lateinstunde” (165–171).

Richtig interessant wird es in Teil III: Herausforderungen (172–238), in diesem Abschnitt erläutern die fünf Autoren des Buches die aktuellen Fragestellungen des Lateinunterrichts. Volker Müller sieht als „Fachspezifische didaktisch-methodische Forderungen an den Lateinunterricht” (Kap. 10) die Schülerorientierung, Handlungsorientierung, Visualisierung und Motivation. In Sachen Motivation darf man keine Zaubermittel erwarten; also nicht viel Neues unter der Sonne beim Thema Motivation durch die Lehrkraft, aber höchst Entscheidendes: „Die Motivationskraft eines Lehrers liegt in seiner Persönlichkeit und seiner Fachkompetenz: Er sollte auf jeden Fall von seinem Fach und den Alten Sprachen überzeugt sein, denn nur dann wirkt man authentisch und den Schülern gegenüber glaubwürdig. Zweitens gilt es, die Schüler vor allem im Anfangsunterricht durch Anerkennung zu ermutigen und bei Misserfolgen adäquate Hilfestellung zu geben, um die Freude der Schüler am Fach aufrechtzuerhalten. Drittens sollte die Lehrkraft durch vielfältige Beispiele den Wert des Lateinlernens für die eigene Lebenswelt überzeugend demonstrieren können.” (179)

Mit „Alternativen Methoden” setzt sich Volker Müller im Kap. 11 auseinander und benennt nach Beschreibung der Idee des Offenen Unterrichts vier methodische Konzepte: handlungsorientierte,
materialgestützte, projektartige Unterrichtskonzepte und außerschulische Aktivitäten (180f). Den Vorzügen solcher Konzepte – „Aufgrund seines kreativen und flexiblen Potenzials ... bieten sie sich in besonderem Maße an, fächerübergreifende und -verbindende Synergien zu nutzen” – stehen leider auch spezifische Probleme entgegen: es „steht ihrer praktischen Umsetzung oftmals die durch die Stundenkürzungen bedingte Zeitknappheit entgegen” (185). – Einen vergleichsweise neuen Aspekt von Lateinunterricht, die „Kooperation im fächerverbindenden und fächerübergreifenden Lateinunterricht” (Kap. 12)  thematisiert Markus Janka und weist darauf hin, dass auch die universitäre Klassische Philologie sich in den vergangenen Jahrzehnten als „Grundlagenfach” wiederentdeckt habe. In der Spracherwerbsphase ist als Beispiel die Mehrsprachigkeitsdidaktik (Latein plus) zu nennen (194ff). Beispiele auch für die Lektürephase: „rezeptionsorientierte Interpretation und wissenschaftspropädeutische Seminare” (198ff). – Ein Themenfeld, das so elaboriert in keiner lateinischen Fachdidaktik der letzten Jahrzehnte anzutreffen ist, bearbeitet Michael Stiersdorfer: „Latein und die Präsenz der Antike in der postmodernen Alltagskultur”, Kap. 13, 203–221. Man weiß, dass seit der Renaissance Autoren Elemente aus der griechisch-römischen Mythologie in Texte einbauten, die für Kinder und Jugendliche gedacht waren. „Dass dieses Phänomen in der Postmoderne insbesondere seit dem Jahr 2005 in einer so signifikanten Vielfalt und Bandbreite der verwendeten mythologischen Elemente (Mytheme) kulminiert, ist ein für die Lateindidaktik elektrisierender Befund” (203) – deshalb auch die zentrale These der Autoren: „Der Lateinunterricht kann in der Zukunft seine besondere Kraft aus der verstärkten Präsenz der Antike in der Alltagskultur der Gegenwart schöpfen” (18). Einschlägige Comics, Filme, Computerspiele und Internetinhalte stellt M. Stiersdorfer beispielhaft vor und zieht den Schluss, dass „sich Rezeptionsdokumente
aus der multimedial geprägten Alltagskultur überaus vielfältig im Alltagsunterricht einsetzen” lassen. Solche Rezeptionsdokumente eignen sich als Einstieg bzw. Motivation, zum Vergleich mit den mythologischen Standardversionen. Fortgeschrittene Schüler können erkennen, „dass das antike Werte- und Normensystem überblendet wird und die modernen Autoren den Mythen und Erzählungen aus der Historie oftmals das westliche Werte- und Normensystem ,überstülpen’. Bei jüngeren Schülern reicht es, wenn sie feststellen, dass Lateinunterricht nicht etwas Überholtes und Verstaubtes behandelt, sondern anhand von modernsten Rezeptionsdokumenten aktuelle Relevanz gewinnt” (221). – Rüdiger Berneck geht in Kap. 14 der „Kompetenzorientierung im Lateinunterricht” nach, fragt nach Entstehung und Bedeutung des Begriffs, untersucht die „Kompetenzorientierung in Lehrplänen”: „Kompetenzorientierter Unterricht wird also, wo immer möglich, den Schülern die Möglichkeit bieten, sich selbstständig neues Wissen und Können durch Vernetzung mit bereits Gelerntem zu erwerben und dabei auf die angewandten Methoden zu reflektieren” (227). „Zentrale Bedeutung kommt im kompetenzorientierten Unterricht einer Aufgabenkultur zu, die durch komplexe Anwendungssituationen den kreativen und flexiblen Einsatz von Wissen und Können fördert” (229). – Kap. 15 schließlich gilt der „Inklusion im Lateinunterricht” (232–238). Volker Müller grenzt zunächst den Begriff Inklusion von Integration ab und hält fest, es sei damit der „Einbezug aller Schüler mit allen Heterogenitätsdimensionen in den Unterricht an allgemeinbildenden Schulen” gemeint, „indem sich eine veränderte Schulkultur und ein adäquater Unterricht mit Blick auf die Akzeptanz der Vielfalt etabliert” (232). Volker Müller betrachtet einzelne Kategorien von Heterogenitätsdimensionen und beurteilt dann die Schwierigkeiten eines inklusionsdidaktischen Weges für das Fach Latein, wobei er konzedieren muss, dass es dazu noch keine konkreten Leitlinien gebe und seine Ausführungen als erste Anregung und Vorschläge mit weiterem Konkretisierungsbedarf zu verstehen seien. Praxiserfahrungen machten deutlich, dass „jegliche Form von Strukturierung vor allem Schüler mit Lernschwierigkeiten und Beeinträchtigungen in der geistigen Entwicklung eine große Erleichterung ist”. Strukturierung, Klarheit, Visualisierung, ein freundliches Unterrichtsklima, Geduld, Toleranz für Langsamkeit, transparente Leistungserwartungen, die Schulung im Umgang mit Misserfolgserlebnissen. 

Der Lateinunterricht in der Gegenwart bietet auf zahlreichen und sehr unterschiedlichen Ebenen Raum für ein Engagement, das das Fach und die Lehrerrolle weiter entwickelt und voranbringt. Ein einzelner Lehrer wird nicht auf allen in diesem Buch beschriebenen Baustellen präsent und aktiv sein können, aber auf der Baustelle, die an seiner Schule besonderen Einsatz erfordert oder auf der er sich besonders kompetent fühlt oder prägend sein möchte, sollte er sich bei der Modernisierung des Faches einbringen.


Res Romanae – Literatur und Kultur im antiken Rom. Neubearbeitung, 
hrsg. von Peter Kuhlmann und Susanne Pinkernell-Kreid,
Oldenbourg Schulbuchverlag ISBN-13: 9783060242610, 2017, 
336 Seiten, 22.00 €, auch als E-book erhältlich

Cover Res Romanaes

Ein schon klassisch zu nennendes Lehrbuch für den Lateinunterricht ist soeben in einer gundlegenden Neubearbeitung erschienen. Heinrich Krefeld hat dieses Format vor Jahrzehnten begründet, das selbst in Zeiten von Wikipedia als Arbeitsbuch und Nachschlagewerk hervorragende Dienste leistet und zum Grundbestand einer Schulbibliothek gehört; als neue Herausgeber fungieren bei dieser Ausgabe, die sich in ihren bewährten Passagen stark an frühere Auflagen (zuletzt 2008) anlehnt, Peter Kuhlmann und Susanne Pinkernell-Kreid, die die neue Ausgabe mit einem zehnköpfigen Autorenteam orientiert an den aktuellen Vorgaben der Curricula für das Fach Latein erarbeitet haben. 

Inhalte des Buch sind die Inhalte des Lateinunterrichts von den ersten Unterrichtsstunden bis zum Abitur und darüber hinaus: Lateinische Sprache, Römische Literatur, Gattungen und ihre Merkmale, Rhetorik, Philosophie, Staat und Gesellschaft, Römische Wertbegriffe, Religion und Mythos, Recht, Kunst, Fortwirken der römischen Kultur, Interpretation. Die neue Ausgabe bietet kompaktes kulturgeschichtliches Sachwissen, konkretisiert in Exemplum-Seiten, visualisiert durch Tabellen und Schemata. Das Buch eignet sich wie seine Vorläufer bestens für selbstständiges Lernen innerhalb und außerhalb des Unterrichts. Das Kompendium vermittelt fachspezifisches und fachübergreifendes Basiswissen bis hin zu einem Methoden-Lehrgang „Interpretation“. Prüfungsrelevantes Sachwissen wird kompakt und umfassend zusammengefasst. Keine Frage: So gelingt eine effiziente und zuverlässige Vorbereitung auf Klausuren, auf die Latinumsprüfung oder das Abitur im Fach Latein. 

Der lehrwerkunabhängige Band eignet sich selbstverständlich auch für Hochschul- und Intensivkurse sowie zum selbstständigen Lernen und Erarbeiten von Methodik und Sachgebieten. Eigentlich ist kaum eine Lektürestunde denkbar, in der Einzelne oder Lerngruppen in diesem Buch nicht nach historischen, literatur-, gattungs- und institutionsgeschichtlichen, sprachwissenschaftlichen oder fachterminologischen Erklärungen recherchieren können. Am Schluss des Textteils findet sich ein eigenes Methoden-Kapitel zur Interpretation mit einer begrifflichen Definition und praktischen Arbeitsschritten zum Umgang mit lateinischen Originaltexten. Ein sehr detailliertes Register (316–330) sowie mehrere Verzeichnisse (Personennamen, geographische Namen, Völkernamen) sowie ein Werksverzeichnis erschließen den Band.


Karl-Wilhelm Weeber, Das antike Rom.
Eine Kulturgeschichte in zeitgenössischen Quellen,
Lat. / griech. / dt. Eingeleitet, ausgewählt und übersetzt von Karl-Wilhelm Weeber.
WBG, 2017. 384 S., Bibliogr., geb. mit SU. Preis: € 39,95 ISBN 978-3-534-26919-8

Weeber Das antike Rom

Wie wirkte Rom auf seine Bewohner? Wie präsentierte es sich Besuchern? Wie funktionierte die Stadt? Für die Beantwortung dieser Fragen lässt Karl-Wilhelm Weeber die Römer selbst zu Wort kommen – aus unterschiedlichen Perspektiven auf Arbeit und Freizeit, Architektur und Lebensbedingungen – Themen, die Karl-Wilhelm in seinen Vorträgen, Büchern und Bildbänden immer wieder höchst fachkundig aufgreift.

Als er vor etwa 15 Jahren das Lexikon Alltag im Alten Rom. Das Leben in der Stadt veröffentlichte (sowie den Folgeband über Das Landleben), fand ich die Idee prima, alle größeren Artikel mit einzelnen ausgewählten Quellen – optisch hervorgehoben - auszustatten. Schon damals fiel mir auf, dass das ein oder andere Zitat den Erläuterungen eine zusätzliche Qualität gab. Dieses ergiebige Prinzip findet man in dieser Kulturgeschichte in Quellen  modifiziert wieder. Allerdings nehmen diesmal die Quellen den weitaus größten Raum ein: sie sollen für sich sprechen. Zu 24 Themen, die zunächst in einer knappen Einleitung von drei oder vier Seiten skizziert werden, findet der Leser jeweils eine ganze Reihe von lateinischen bzw. griechischen Originaltexten, jeweils mit deutscher Übersetzung, die das jeweilige Thema beleuchten, oft erstaunlich unterschiedlich.

In dieser Anthologie präsentiert Karl-Wilhelm Weeber unterschiedliche Ansichten der Stadt und Sichten auf die Stadt: Einen weiten Weg hat dieses ehemalige Hüttendorf am Tiber bis ins 1. Jahrhundert zurückgelegt und war bereits in der Antike eine schillernde Millionenstadt. Rom war eine kosmopolitische, multiethnische Stadt, in der Arm und Reich dicht nebeneinander lebten. Sie war überaus quirlig, chaotisch und laut und machte ihren Bewohnern – vor allem den ärmeren – das Leben nicht leicht. 

Auf der anderen Seite bot sie auch den kleinen Leuten nicht nur Arbeitsplätze, sondern ein einmaliges Freizeitangebot: öffentliche Spiele, luxuriöse Thermen, spektakuläre Triumphzüge und eine atemberaubende Bautenpracht. Gleichzeitig war das Leben in der Stadt gefährlich – nicht nur wegen der Kriminalität. Rom war ein „melting pot“ von einer Millionen Menschen und damit die mit Abstand größte Stadt der vorindustriellen Epoche. 

Das Buch bietet für die Lektüre ganz viele Einstiege, bei den einzelnen Essays oder bei einem einzelnen Quellentext; zusammen ergeben diese quasi einen „vielstimmigen Chor” (Vorwort S. 8). Zu den 24 Themen gehören nicht nur die klassischen Wissensgebiete, wie „Das Rom des Wasserreichtums”, „Das Rom der Massenunterhaltungen”, „Das Rom der Frauen”, „Das Rom der Götter”, „Das Rom der Bautenpracht”, „Das Rom der Kaufleute”„Das Rom der Triumphe” oder „Das Rom der Macht”, sondern auch nicht ganz zum Erwartungshorizont des Lesers zählende Themen wie „Das Rom der Partygänger”, „Das Rom der Kriminellen”, „Das Rom des Verkehrsgewühls”, „Das Rom der kleinen Leute”, „Das Rom der Spaziergänger” und „Das Rom der Spieler”. All das sind Themen, die im Lateinunterricht an geeigneter Stelle bestens ankommen. „Das Rom der bevorzugten geographischen Lage”, „Das Rom der imaginierten Vorzeit”, „Das Rom der Fremden”  sowie das Schlusskapitel „Rom – Die ewige Stadt” zählen zu den Standardthemen der lateinischen Schullektüre. 

Wer sich also für seine Unterrichtsplanung inspirieren lassen möchte von einzelnen Aspekten des Lebens im antiken Rom, der trifft es mit diesem Buch richtig gut. Heutige Lehrpläne überbieten sich in Kompetenzen, bieten thematisch-inhaltlich aber bestenfalls Leerstellen, ältere Lehrpläne gaben als freundliche Empfehlung immerhin noch die in Frage kommenden Textstellen an. Im Abschnitt „Das Rom der Kaufleute” findet man z.B. auf dreizehn Seiten drei Dutzend Quellentexte (Cicero, Livius, Ovid, Varro, Aelius Aristides, Martial, Plinius, Digesten, Horaz, Juvenal, Lucilius, CIL, Sueton, Plautus), die man als Lehrer nicht alle mit seiner Lerngruppe übersetzen können wird, in vernünftiger Auswahl freilich schon. Zur Interpretation bieten die unterschiedlichsten Textsorten Perspektiven genug, einschlägige Kompetenzen inbegriffen.