Eines Nachts erschien Abū l-ʿAbbās ʿAbd Allāh al-Ma’mūn, dem siebten Kalifen aus dem Geschlecht der ‘Abbāsiden, im Schlaf ein glatzköpfiger Mann, mit rötlichem Gesicht, zusammengewachsenen Brauen und rotunterlaufenen Augen. 

Mit dieser Begegnung beginnt die Anekdote, die der Bagdader Antiquar und wohl größter Büchernarr seiner Zeit, Muḥammad ibn an-Nadīm (gest. 980), in seinem monumentalen Katalog religiöser, historischer, schöngeistiger, juristischer, philosophischer und wissenschaftlicher Literatur, dem kitāb al-Fihrist, wiedergibt. Die Anekdote ist Teil einer Antwort auf die Frage, wie es dazu kam, dass sich die Bücher griechischer Philosophen, Mathematiker, Ärzte und Naturforscher im Reich des Islam so zahlreich vermehren konnten. Eine Tatsache, die den Einwohnern Bagdads im neunten Jahrhundert unserer Zeitrechnung so merkwürdig wie selbstverständlich erschien, dass sich eine Vielzahl von Mythen und Geschichten um die griechisch-arabische „translatio philosophiae et scientiae“ rankten. 

Seit nunmehr einigen Jahrzehnten stellt sich auch die universitäre Forschung die Frage, die bereits an-Nadīm und seine Zeitgenossen zu ihren aberwitzigen Anekdoten inspirierte: Wie war es möglich, dass große Teile der (bis dahin) abendländischen Kultur durch eine Zivilisation konserviert und weiterentwickelt wurde, die nicht erst seit Samuel Huntingtons „The Clash of Civilizations“ (1996) als der europäischen Kultur geradezu entgegengesetzt wahrgenommen wird? Der vorliegende Text möchte einige Aspekte dieses folgenreichen Ereignisses beleuchten und durch Anekdoten, historische Berichte und die Ergebnisse gegenwärtiger Forschung einen Eindruck über die verschiedenen Agenten und Faktoren dieser unwahrscheinlichen Kulturleistung vermitteln.

Eine Schlüsselrolle im Prozess der Übertragung und Vermittlung antiker Wissenschaften spielt der eingangs erwähnte ‘Abbāsidenkalif al-Ma’mūn (gest. 833), dem eines Nachts dieser wunderliche und der Beschreibung nach zu schließen nicht besonders ansehnliche Mann erschienen sein soll. Wer war er? Obwohl der Kalif von dieser nächtlichen Erscheinung sehr erschrocken gewesen sein soll, fasste er doch den Mut, nach dem Namen des Mannes zu fragen. Dieser antwortete: „Ich bin Aristoteles“. Erleichtert stimmte der Kalif schließlich in ein philosophisches Zwiegespräch mit dem Philosophen ein. Dieser Traum des Kalifen war, so urteilt an-Nadīm, „einer der stärksten Gründe für die Veröffentlichung dieser Bücher“ (An-Nadīm 1988: 303f.). 

Über die Historizität dieser Traumbegegnung lässt sich freilich streiten, jedoch offenbart sie interessante Einblicke in das kulturelle Milieu, in dem solche Anekdoten kursierten. Wie die Geschichte uns wissen lassen möchte, ist dem Kalifen der Name „Aristoteles“ durchaus ein Begriff und folglich lässt er auch nicht etwa die königlichen Wachen holen, um den Eindringling aus seinem Schlafgemach entfernen zu lassen, sondern empfängt ihn mit einer Frage, und zwar mit der wohl grundlegendsten: „Was ist das Gute?“ 

An dieser halb scherzhaften Erzählung zeigt sich deutlich, dass jedem Wissenstransfers immer ein Zustand des Wissen-Wollens vorausgehen muss, ein Zustand des Fragens und Suchens nach Antworten. Eben diese Wissbegier wird dem Kalifen al-Ma’mūn in Nadīms Anekdote zugesprochen. Angeregt durch seinen nächtlichen Plausch, soll dieser am nächsten Morgen dem byzantinischen Kaiser mit der Bitte geschrieben haben, einige alte Handschriften des Philosophen nach Bagdad überführen zu dürfen, die (wie vielsagend hinzugefügt wird) in der oströmischen Hauptstadt verschlossen gehalten wurden. Als der Kaiser nach anfänglichem Zögern schließlich einwilligt, schickt al-Ma’mūn eine Riege seiner besten Männer nach Byzanz, um die besagten Schriften nach Bagdad bringen zu lassen. Aus der Anekdote erfahren wir auch die Namen dieser Männer: Es handelt sich um die Wissenschaftler und Übersetzer al-Ḥaǧǧāǧ ibn Maṭar (Übersetzer des Almagest und der Elemente Euklids), Yaḥyā ibn Baṭrīq (Übersetzer der Schriften von Galen und Hippokrates) und Salmān, den Leiter des sagenumwobenen Bayt al-Ḥikma (Haus der Weisheit), der führenden Bildungsinstitution ihrer Zeit. Kam Aristoteles also durch einen diplomatischen Staatsakt nach Bagdad, wie es die Anekdote uns nahelegen möchte? 

Die Antwort darauf muss klarerweise Nein lauten. Wie Dimitri Gutas in Greek Thought, „Arabic Culture“ (1998) einschlägig gezeigt hat, verlief die sogenannte Übersetzungsbewegung aus dem Griechischen ins Arabische keineswegs ausschließlich top-to-down, sondern war ein gesellschaftlicher Prozess, der neben dem ‘abbāsidischen Herrscherhaus die unterschiedlichsten sozialen, kulturellen und religiösen Agenten einschloss. Dieser Prozess, der im neunten Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte, konnte zudem auf die bereits umfangreiche Übersetzungs- und Kommentartätigkeit syrischer Christen aufbauen, die neben den Schriften griechischer Kirchenväter auch Teile der logischen Schriften des Aristoteles (das sogenannte „Organon“) ins Syrische übersetzten, kommentierten und – nicht zuletzt – auch unterrichteten. 

Aus den bibliographischen Angaben erfahren wir die Namen einiger Auftraggeber arabischer Übersetzungen. Unter ihnen befinden sich nicht nur Kalifen, sondern auch deren Familienmitglieder, Höflinge, Beamte und Militärs sowie Wissenschaftler und Gelehrte, die sich die teuren Übersetzungen leisten konnten. An-Nadīm zählt allein namentlich an die fünfzig Übersetzer griechischer Werke auf, unter ihnen mehrheitlich syrische Christen, aber auch Muslime und sogar Heiden. Ein Vergleich mit den namentlich genannten Übersetzern aus dem Persischen (sechzehn) und dem Indischen (drei) zeigt zudem, dass die große Mehrheit der Übersetzungstätigkeit Werken der griechischen Antike und Spätantike gewidmet war.

Welche Rolle aber spielte der in der Anekdote beschriebene Kalif al-Ma’mūn? In der Tat war er der bedeutendste, aber nicht der erste Herrscher der ‘Abbāsiden, der den griechisch-arabischen Wissenstransfer protegierte. Die Entwicklung einer intellektuellen, an der griechischen Antike orientierten Elite geht bereits auf seinen Urgroßvater al-Manṣūr (gest. 775) zurück, über den der Historiker ʿAlī ibn
al-Ḥusayn al-Masʿūdī (gest. 957) Folgendes zu berichten weiß:

Der erste unter den Arabern, der die Wissenschaften pflegte, war der zweite Kalif Abū Ǧaʿfar al-Manṣūr. Er war – Gott habe ihn selig – mit den Wissenschaften und denen, die sie ausübten, eng verbunden. Er war bewandert im religiösen Wissen und war ein Vorreiter in der Einführung des philosophischen Wissens, insbesondere der Astrologie (Murūğ aḏ-ḏahab, §3446).

Demzufolge war es also gar nicht al-Ma’mūn, der Aristoteles nach Bagdad holte. Warum aber nennt die Anekdote an-Nadīms den Traum des Kalifen als Ausgangspunkt des griechisch-arabischen Wissenstransfers? Die Antwort auf diese Frage findet sich (wie so oft) im Reich der politischen Interessen und nicht der historischen Fakten: Al-Ma’mūn übernahm das ‘abbāsidische Kalifat nach einer Zeit politischer Unruhe und Erbfolgezwistigkeiten, die mit der Ermordung seines Bruders al-Amīn endete, der in Bagdad bereits das Amt des Kalifen ausübte. Zugleich geriet das Kalifat durch seinen westlichen Rivalen, dem byzantinischen Kaiserreich, außenpolitisch und militärisch zunehmend unter Druck. Nach seinem Einzug in Bagdad im Jahr 819 sah sich al-Ma’mūn daher zu einer Kampagne gezwungen, die sich zweifelsohne als ‚Staatspropaganda‘ bezeichnen lässt. Kern dieser Kampagne war die Bekämpfung der inneren Widersacher seiner Herrschaft durch eine eingesetzte Inquisition (arabisch „miḥna“), begleitet von einer verschärften Polemik gegen das byzantinische Kaiserreich unter Michael Psellos und seinem Nachfolger Theophilos. Während es das Ziel der „miḥna“ war, die rationale Theologie und damit verbunden das Dogma der Geschaffenheit des Korans nach innen gegen die traditionell einflussreichen Theologen und Prediger durchzusetzen, verfolgte al-Ma’mūn mit der offensiven Protegierung der griechischen Wissenschaften nach außen die Absicht einer geschickten Diskreditierung des byzantinischen Kaiserreichs, indem er seinem Kalifat die Nachfolge der griechischen Antike auf die Fahnen schrieb: 

The Byzantines were portrayed as deserving of Muslim attacks not only because they were infidels (…) but because they were also culturally benighted and inferior not only to Muslims but also to their own ancestors, the ancient Greeks. (…) The Byzantines turned their back on ancient science because of Christianity, while the Muslims had welcomed it because of Islam (Gutas 1988: 84f.).

Mit dem Rationalismus der griechischen Antike konnte al-Ma’mūn zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Durch das Programm einer konsequent auf der Grundlage griechischer Logik und Wissenschaft entfalteten Staatstheologie konnte der Kalif die klerikalen Feinde im Inneren zurückdrängen (so etwa den Traditionalisten Aḥmad ibn Ḥanbal, den Begründer der ḥanbalitischen Rechtsschule) und so seine Macht neben der weltlichen auch durch theologische Autorität festigen. Zugleich war es ihm mit demselben Narrativ möglich, den Byzantinern den Rang im Bereich des kulturellen und wissenschaftlichen Fortschritts streitig zu machen und das ‘abbāsidische Kalifat als einzig legitimen Erben der griechischen Antike in Stellung zu bringen. Das Bewusstsein der Fortführung antiker Wissenspraktiken bei den Arabern führte so weit, dass der Bagdader Philosoph al-Kindī (gest. 873) Yunān, den Ahnherrn der Griechen, und Qaḥṭān, den Ahnherrn der Araber, zu zwei Brüdern machte (vgl. Murūğ aḏ-ḏahab §666), um der Aneignung griechischer Wissenschaften den Anschein einer bloßen Rückübersetzung ins Arabische zu verleihen. Al-Ma’mūn war demzufolge weniger Initiator als vielmehr Nutznießer der „translatio philosophiae et scientiae“, zu deren Erfolg er als Mäzen und Schutzherr der Philosophen freilich tatkräftig beitrug. 

Einen anderen Akzent auf den griechisch-arabischen Wissenstransfers setzt eine zweite Erzählung, diesmal aus der Feder des Bagdader Philosophen al-Fārābī (gest. 950), die sich im Werk des Biographen und Historikers Ibn Abī Uṣaibiʿa (gest. 1270) findet. Den Schauplatz dieser Anekdote bilden nun nicht mehr Byzanz und Bagdad, die beiden rivalisierenden Hauptstädte der Christenheit und des Islam, sondern die spätantike Metropole Alexandria, Sitz der von Ammonios Hermeiou (gest. 517) geprägten Neuplatonischen Schule, aus der bis ins siebte Jahrhundert eine Vielzahl an Abhandlungen und Kommentaren zum aristotelischen und platonischen Textcorpus hervorging. 

Diese besagte Philosophenschule – so al-Fārābīs Bericht – geriet eines Tages in den Fokus der byzantinischen Bischöfe, die untersuchen wollten, welche ihrer Inhalte mit den Dogmen des Christentums vereinbar waren. Das Ergebnis lässt sich bereits ausmalen. Der philosophische Lehrplan wurde zensiert und der Unterricht stark eingeschränkt. „So blieb der öffentliche Unterricht“ – so al-Fārābī – „in diesem Umfang erhalten, den Rest studierte man im Geheimen, bis danach nach langer Zeit der Islam kam“ (übers. v. Strohmaier 1987: 382). Auch wenn es sich hierbei nicht wie bei an-Nadīm um eine halb scherzhafte Randanekdote handelt, sondern um einen sichtlich um Seriösität bemühten und mit Quellen angereicherten Bericht, lässt sich in beiden Versionen derselbe Tenor finden: Während die Christen ihre Denker zensieren, öffnet der Islam ihnen Tür und Tor und fürchtet weder die Philosophie noch die Wissenschaft. 

Betrachtet man die historischen Fakten, lässt sich feststellen, dass sich manches an diesem Bericht auf wahre Begebenheiten zurückführen lässt (wenn auch vermischt mit viel Zweifelhaftem). Tatsächlich ließ der oströmische Kaiser Justinian im Jahr 529 die von Plutarch dem Älteren begründete pagane neuplatonische Philosophenschule in Athen (nicht Alexandria!) schließen. Ob der Kaiser an den paganen Athener Philosophen ein Exempel statuieren wollte, um seinem Ruf als kompromissloser Christianisierer Taten folgen zu lassen, oder ob es sich um das Resultat einer stadtinternen Fehde zwischen Christen und Heiden handelte, die im Namen des Kaisers geführt wurde, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit rekonstruieren. Aus welchem Grund auch immer das Berufsverbot ausgesprochen wurde, es hatte weitreichende Folgen für die weitere Entwicklung der griechischen Philosophie. Die Schließung der Athener Schule, begleitet von entsprechenden finanziellen Repressalien, führte zu einem Exodus der sieben führenden Neuplatoniker, unter ihnen Berühmtheiten wie Simplikios, Damaskios und Isidoros. Als Exil wählten sie das mit Byzanz verfeindete sassanidische Perserreich unter König Chosrau I, dessen Schwärmerei für die Philosophie ihnen zu Ohren gekommen sein musste. Der byzantinische Historiker und Zeitgenosse Agathias berichtet über den Auszug der sieben Weisen aus Athen, dass „die Blüte der Philosophen unserer Zeit zu dem Schluss kam, dass – da die offizielle Religion des römischen Reiches nicht nach ihrem Geschmack war – der persische Staat um vieles besser sei“ (Hist. II 30,3). Auch eine Stelle aus Simplikios‘ Kommentar zu Epiktets „Handbüchlein der Moral“ scheint auf diese für die griechische Philosophie bittere Zeit anzuspielen: „In korrupten Staaten (…) kann man nicht den Herrschern schlecht regierter Menschen dienen und zugleich vertrauenswürdig und bescheiden bleiben. Da man es ablehnt, in unheilbaren Angelegenheiten Ratschläge zu geben, wird man, sofern es möglich ist, in ein anderes, besseres Land ziehen“ (In Ench. 32.186-191).

Das Exil am persischen Königshof währte jedoch nicht lange und bereits 531 konnten sich die emigrierten Philosophen nach einem enttäuschenden Aufenthalt erneut im oströmischen Reich niederlassen und, wie es bei Agathias heißt, „ihr Leben in Frieden zu Ende leben, ohne gezwungen zu sein, ihre traditio-nellen religiösen Ansichten ändern zu müssen oder eine Ansicht anzunehmen, die nicht mit ihrer eigenen übereinstimmte“ (Hist. II 30,3). Unklar ist jedoch, wo die Philosophen anschließend ihren Lebensabend verbrachten und ob sie ihre Lehrtätigkeit weiter ausführten. Nach Athen kehrten sie jedenfalls nicht mehr zurück. Al-Fārābī, der in der Erzählung Abu Usaibi'as die Entwicklung in Athen und Alexandria zu einer Geschichte zusammenführte, berichtet Folgendes über das Schicksal der griechischen Philosophenschule, nachdem sie sich eine neue Bleibe suchen musste: 

„Da wurde der Unterricht aus Alexandria nach Antiochia überführt und blieb dort eine lange Zeit, bis ein einziger Lehrer übrig blieb. Von ihm lernten zwei Männer und zogen fort, wobei sie die Bücher mitnahmen. Der eine von ihnen stammte aus Ḥarrān und der andere aus Merw. Von dem aus Merw lernten zwei Männer, der eine war Ibrāhīm al-Marwazī, der andere war Yūḥannā ibn Ḥaylān. Von dem aus Ḥarrān lernte Isrāʾīl, der Bischof, und Quwairī. Sie begaben sich nach Bagdad und hier wurde Isrāʾīl von der Religion in Anspruch genommen, während Quwairī mit dem Unterricht begann“ (ʿUyūn al-anbāʾ, übers. v. Strohmaier 1987: 382).

Wie das Zitat zeigt, führte das historisch belegte persische Exil der griechischen Philosophen und ihre anschließende Rückkehr in das oströmische Reich zur Annahme einer Kontinuität der Schultradition zwischen Athen (bzw. Alexandria) im frühen sechsten und Bagdad im späten achten und frühen neunten Jahrhundert. Die Neuplatonische Schule soll sich demnach in Antiochia angesiedelt haben, anschließend in Merw und Ḥarrān (lat. Carrhae), das unweit von Antiochien entfernt lag. Von dort zog sie schließlich nach Bagdad, der Hauptstadt des ‘abbāsidischen Kalifats. Dieser Bericht al-Fārābīs (eines Schülers des erwähnten Yūḥannā ibn Ḥaylān), wird auch von weiteren Quellen gestützt. So erwähnt auch al-Mas'udi einen Ort in Harran, an dem sich pagane Philosophen trafen und an dem er folgenden Satz auf der Eingangstür in syrischer Sprache gelesen haben will: „Wer seine Natur erkennt, der wird zu Gott“ (Tardieu 1986: 13). Auf die Frage, von wem dieser Satz stamme, erhielt er die Antwort, von keinem Geringeren als Platon. 

Diese und weitere unabhängige Quellen führten in der Forschung zur Annahme, es habe tatsächlich einen Ableger der neuplatonischen Schule in Asia Minor gegeben, der vom frühen sechsten bis zum späten achten Jahrhundert (also knapp 200 Jahre) ein Bindeglied zwischen der griechischen und arabischen Philosophie darstellte. Strohmaier (1987), Gutas (1999), Luna (2001) und Watts (2005) haben jedoch gewichtige Einwände gegen diese These erhoben und sie zu großen Teilen in das Reich der Spekulation verbannt. Tatsächlich ist die Indizienlage auch mehr als dünn. Zu den Belegen einer Niederlassung der exilierten Philosophen in Ḥarrān zählen lediglich eine Handvoll Passagen aus den Schriften des Simplikios, in denen er sich auf die in der Gegend um Ḥarrān verbreiteten manichäischen Ansichten bezieht, einen spezifischen Kalender nennt, der ebenfalls in Ḥarrān im Umlauf gewesen sein soll, und in seinem Kommentar zu De caelo ein bestimmtes, von luftgefüllten Schläuchen getragenes Wasserfahrzeug beschreibt, das er bei seiner Flussfahrt auf dem Aboras (einem Seitenfluss des Tigris) beobachtet haben soll (vgl. Thiel 1999). Wie Luna (2001) gezeigt hat, lassen sich alle diese Indizien jedoch auch ohne einen Aufenthalt in Ḥarrān plausibel erklären. Zudem ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich die Philosophen schlicht zur Ruhe setzten (Damaskios war zu diesem Zeitpunkt bereits an die 70 Jahre alt) oder sich über verschiedene Gemeinden verstreuten: 

There are many possible places to go and, philosophically, there was no need of a revived Academy. This makes it unlikely that the philosophers would have decided to re-establish the Athenian Neoplatonic School in Ḥarrān (Watts 2005: 310). 

Auch wenn sich die verlockende Erzählung einer ungebrochenen Schultradition von den hellenischen Städten Athen und Alexandria zur ‘Abbāsidenhauptstadt Bagdad bei näherer Betrachtung und kritischer Prüfung der Quellen als unwahrscheinlich erweist, so enthalten die zitierten Quellentexte (ebenso wie die Anekdote über den Traum des Kalifen al-Ma’mūn) wichtige Einsichten in die Natur dieses Wissenstransfers: Wie gezeigt, kam es mit der allmählichen Verbreitung des Christentums verstärkt zu philosophiefeindlichen Polemiken und Übergriffen, die in Athen im Jahr 529 zur endgültigen Schließung der neuplatonischen Schule unter Damaskios führte. In Alexandria zeigte die anti-pagane Stimmung eine ähnliche Wirkung, auch wenn (oder gerade weil) dort die christliche und pagane Bevölkerung im Gegensatz zu Athen traditionell stärker durchmischt war. Zwar konnte die Schule von Alexandria durch eine kluge Bündnispolitik und einige Zugeständnisse gegenüber der christlichen Mehrheit, wie etwa die Einwilligung des Schuloberhaupts Ammonios, von orphischen, chaldäischen und theurgischen Lehrinhalten abzusehen, die Schule vor einer endgültigen Schließung bewahren, doch blieb das philosophische Leben stets vom dunklen Schatten eines möglichen Gewaltausbruchs oder Berufsverbots bedroht (vgl. Watts 2006: 220ff.). Demgegenüber genossen die Philosophen des ‘abbāsidischen Kalifats – wie es uns die zitier-ten Quellen nahelegen wollen – die komfortable Situation des politischen Schutzes und finanziellen Wohlstandes.

Wie kam Aristoteles also nach Bagdad? Auf Umwegen, das ist sicher. Wie gezeigt wurde, ist es so gut wie ausgeschlossen, dass es ein bestimmtes Ereignis gab, das die Schriften des Aristoteles nach Bagdad führte, wie etwa die von an-Nadīm beschriebene Korrespondenz zwischen dem Bagdader Kalifen und dem Kaiser von Byzanz. Ebenso unwahrscheinlich ist eine ununterbrochene Überlieferungskette der griechischen Philosophie bis ins arabische Mittelalter, wie es Abī Uṣaibiʿa durch den Bericht al-Fārābīs weismachen möchte. Zugleich bergen die genannten Zeugnisse (seien es Anekdoten oder historiographische Berichte) Spuren bedeutsamer Ereignisse und Faktoren, die den griechisch-arabischen Wissenstransfer über die Jahrhunderte bestimmt haben. Sie zeigen, dass es sich um einen gesellschaftlichen Prozess handelte, der ebenso von politischen Entscheidungen des byzantinischen Kaiserreiches und des ‘abbāsidischen Kalifats geprägt war wie von den theologischen und philosophi-
schen Interessen verschiedener Bevökerungsschichten, an dem sich der Umfang und das Angebot der spätantiken Bildung stets orien-tierte. Bei aller Ungewissheit ist aber doch eines sicher: Der griechisch-arabische Wissenstransfer stellt eine der bedeutendsten Leistungen und herausragendsten Ereignisse sowohl der morgenländischen als auch der abendländischen Kulturgeschichte dar, das über politische, sprachliche, konfessionelle sowie kulturelle und soziale Grenzen hinweg die Liebe zur Weisheit verbreitete und damit ein geistiges Fundament geschaffen hat, das bis heute die geteilte Grundlage aller an diesem Transfer beteiligten Kulturen und Religionen bildet. Wie auch immer Aristoteles nach Bagdad kam, er war dort ebenso zu Hause wie in Athen und Alexandria.


Literaturverzeichnis:

Zitierte Primärtexte:

  • Abī Uṣaibiʿa, ʿUyūn al-anbāʾ fi ṭabaqāt al-aṭibbāʾ: Die Klassen der Ärzte, hrsg. v. August Müller, Königsberg: Selbstverlag 1884. 
  • Agathias, Historiae: Ἀγαθίου σχολαστικοῦ Περὶ τῆς Ἰουστινιανοῦ βασιλείας βίβλοι πέντε, Venedig 1729. (Englische Übersetzung in: Agathias: Historiarium (The Histories). Übersetzt von Joseph D. Frendo, Berlin 1975 (Corpus Fontium Historiae Byzantinae Series Berolinensis Bd. 2)).
  • An-Nadīm, al-Fihrist: Kitāb al-Fihrist li-ʾn-Nadīm. Taḥqīq Riḍā Taǧaddud Ibn ʿAlī ibn Zain al-ʿAbidīn al-Ḥāʾirī al-Māzandarānī, Bairūt: Dār al-Masīra, 1988.
  • Masʿūdī, ʿAlī b. al-Ḥusain,  Murūğ aḏ-ḏahab: Les Prairies dʾOr, hrsg. v. C. Pellat (ed.). Publications de l’Université Libanaise (7. Vols), Beirut 1965-79.
  • Simplikios, In Enchiridon Epicteti: Simplicius‘ Commentaire sur le Manuel d’Épictète. Introduction et édition critique du texte grec, hrsg. v. Ilsetraut Hador. Philosophia antiqua 66. Brill: Academic Publishers, 1996.

Zitierte Sekundärliteratur:

  • Gutas, Dimitri (1998): Greek Thought, Arabic Culture. The Graeco-Arabic Translation Movement in Baghdad and Early 'Abbasaid Society (2nd-4th/5th-10th centuries). London: Routledge.
  • Gutas, Dimitri & Biesterfeldt, Hans Hinrich (1999):  „The «Alexandria to Baghdad» Complex of Narratives. A Contribution to the Study of Philosophical and Medical Historiography Among the Arabs“, in: Documenti E Studi Sulla Tradizione Filosofica Medievale (10), S. 155–193. 
  • Huntington, Samuel (1996): The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order. New York: Simon & Schuster. (deutsch: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München: Goldmann.).
  • Luna, Concetta (2001): „Rezension zu Rainer Thiel (1999): Simplikios und das Ende der Neuplatonischen Schule“, in: Mnemosyne (54), S. 482–504.
  • Strohmaier, Gotthard (1987): „Von Alexandrien nach Bagdad. Eine fiktive Schultradition“, in: Aristoteles. Werk und Wirkung II. Kommentierung / Überlieferung / Nachlegen, hrsg. V. J. Wiesner. Berlin / New York: De Gruyter, S. 380–389.
  • Tardieu, Michel (1986): „Sâbiens coraniques et <Sâbiens> de Harrân“, in: Journal asiatique (274), S. 1–44.
  • Thiel, Rainer (1999): Simplikios und das Ende der Neuplatonischen Schule. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse (8). Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
  • Watts, Edward (2005): „Where to Live the Philosophical Life in the Sixth Century? Damascius, Simplicius, and the Return from Persia“, in: Greek, Roman, and Byzantine Studies (45), S.  285–315.
  • Watts, Edward (2006): City and School in Late Antique Athens and Alexandria. Berkeley / Los Angeles / London: University of California Press.