Warum Sophokles‘ KÖNIG ÖDIPUS nach Aristoteles gute Dichtung ist1
I. Einleitung
„Die Aufgabe eines Dichters ist es, etwas so darzustellen, wie es gemäß Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d. h. was möglich ist.“2
Aristoteles
Können wir unter dieser Voraussetzung Sophokles’ KÖNIG ÖDIPUS tatsächlich als gute Dichtung bezeichnen? Soll ausgerechnet jenes Drama, in dem wir erfahren, dass der Sohn, ohne es zu wissen, seinen eigenen Vater getötet und seine eigene Mutter geheiratet hat, eine Geschichte erzählen, die sich an den Merkmalen Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit orientiert? Aristoteles selbst vertritt diese Ansicht und lobt Sophokles ausdrücklich für die Komposition dieser Tragödie, auch und vor allem unter Berücksichtigung genau dieses genannten Kriteriums.3 Was es mit diesem Kriterium auf sich hat und wie dessen Anwendung auf Sophokles’ KÖNIG ÖDIPUS dabei hilft, die Tragödie zu verstehen, soll in diesem Text gezeigt werden.
Drei Fragen werden dabei die Leitlinien für ein Verständnis liefern, das eine Alternative zu dem immer noch geläufigen Vorurteil, Ödipus sei seinem Schicksal vollständig ausgeliefert,4 zu bieten vermag: Erstens, worum geht es eigentlich im KÖNIG ÖDIPUS – und damit eng verbunden: worum geht es nicht? Zweitens, warum ist der KÖNIG ÖDIPUS überhaupt tragisch? Und schließlich drittens, was kann Ödipus selbst für das im Drama dargestellte Schicksal?
Der KÖNIG ÖDIPUS hat in den letzten Jahrhunderten bis in die Gegenwart hinein zahlreiche Kontroversen um Auslegungen, die genau diese Fragen tangieren, ausgelöst. Diese Kontroversen sollen hier nicht aufgearbeitet und erneut diskutiert werden.5 Vielmehr soll der Fokus auf eine Lesart, nämlich die Lesart, die sich aus der Aristotelischen Dichtungstheorie ergibt, gelegt werden.
Dieses Vorgehen bringt einige Vorteile mit sich. Einerseits können zentrale Aspekte der Aristotelischen Dichtungstheorie, und damit einer der bis heute wirkmächtigsten Lehren zur Dichtkunst überhaupt, eingeführt oder wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Andererseits wird eine Lesart präsentiert, die zugegebenermaßen zwar auch eine nachträgliche Interpretation einer späteren Generation zum Wesenskern der Tragödien darstellt, aber immerhin doch diejenige der uns bekannten expliziten Tragödientheorien ist, die mit die größte Nähe zu den Tragödien des fünften Jahrhunderts hat.6 Denn wenn wir bedenken, dass mehr als 1200 Tragödien im fünften Jahrhundert aufgeführt wurden und nur knapp über 30 davon die verschiedenen Selektionsprozesse der Überlieferungsgeschichte überlebt haben, können wir davon ausgehen, dass Aristoteles im vierten Jahrhundert vor dem Hintergrund einer gegenüber den jüngeren Deutungen ungleich umfangreicheren Verfügbarkeit seine Theorie über das Wesen der Tragödie und seine Einschätzungen über die Qualität einzelner Tragödien verfasste. Schließlich macht die Aristotelische Lesart auf Aspekte der Dichtungskomposition aufmerksam, die untergehen, wenn der Fokus bei der Rezeption der Tragödien, wie es noch immer allzu oft geschieht, auf ein abstrakt-allgemeines Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Freiheit auf der einer Seite und den Göttern, der Notwendigkeit oder dem Schicksal auf der anderen Seite gelegt wird.7 Natürlich spiegeln sich die Einstellungen der Dichter zu diesen Themen auch in den Tragödien wider. Doch die eigentümliche Qualität einer guten Tragödie, so die These, liegt nicht in der Themensetzung begründet, sondern in der Art, wie der Dichter seine Figuren für den Zuschauer nachvollziehbar mit Blick auf eine Handlungseinheit agieren lässt. Durch diese Verschiebung der Aufmerksamkeit darauf, wie die Handlung mit den Charakteren verwoben ist, wird in der Rezeption – nicht nur des KÖNIG ÖDIPUS, sondern auch anderer griechischer Dramen – eine tiefere Durchdringung der Komposition der einzelnen Tragödie und damit auch eine größere Freude an der Dichtkunst ermöglicht.
Daher sollen nun zunächst zentrale Aspekte der Aristotelischen Dichtungstheorie herausgestellt und anschließend mit dieser Perspektive der Text des Sophokles gedeutet werden.
II. Zentrale Aspekte der Aristotelischen Dichtungstheorie
Handlungen und Handlung
Bereits Aristoteles’ allgemeine Definition zum Wesen von Dichtung ist für die erste der drei oben gestellten Fragen zum KÖNIG ÖDIPUS von Relevanz. „Gegenstand dichterischer Nachahmung,“ so Aristoteles, „sind handelnde Menschen.“8 Nicht Gesellschaftskritik, nicht Politikkommentierung, nicht Metaphysik und auch nicht die Lehre vom Wesen des Menschen wären demnach das primäre Darstellungsziel von Dichtung, sondern schlicht die Darstellung von Menschen, die handeln; das heißt von Menschen, die Entscheidungen treffen, und das heißt auch: nicht von Menschen, die ausschließlich als Getriebene, Gestoßene, Gefallene oder als rein passive Opfer eines agierenden Schicksals dargestellt werden.
Diese Komposition einer einheitlichen Handlung aus einzelnen Handlungen nennt Aristoteles den Mythos einer Tragödie.9 Mythos meint in diesem Kontext folglich nicht den Sagenstoff, sondern die konkrete Gesamthandlung (τῶν πραγμάτων σύνθεσις / σύστασις ) des Dramas, deren Träger bestimmte handelnde Menschen sind: „Diese haben ihre bestimmte Beschaffenheit,“ so Aristoteles, „notwendigerweise von ihrem Charakter und ihrer Denkweise her [...] und es geschieht immer als Konsequenz aus deren <bestimmter Beschaffenheit>, dass jemand sein Handlungsziel erreicht oder verfehlt.“10
Aristoteles macht hier deutlich, dass das Gelingen oder Scheitern einer Handlung seine jeweilige Grundlage in dem Charakter und in der für die handelnde Person charakteristischen Denkweise hat. Das bedeutet jedoch nicht, dass Charakterstudien oder Darstellungen von Biographien einzelner (historischer oder mythischer) Persönlichkeiten zum Darstellungsziel einer Tragödie werden sollten. Im Fokus müsse die Handlung als ganze stehen. Ganz wiederum ist eine Handlung demnach dann, wenn sie – und das mag zunächst trivial klingen, diese Unterscheidung ist aber für die Betrachtung des KÖNIG ÖDIPUS besonders hilfreich – Anfang, Mitte und Ende hat. Der Anfang der Handlung wird gesetzt und muss sich nicht aus einer dem Drama innewohnenden Notwendigkeit ergeben. Die Mitte hingegen folgt aus einer inneren Notwendigkeit auf den Anfang und das Ende aus einer inneren Notwendigkeit auf die Mitte. Die am Anfang gesetzte, beginnende Handlung ist mit dem Ende abgeschlossen.11
Doch wie stellt sich Aristoteles die „notwendige“, also handlungslogisch konsistente Verbindung zwischen den Teilen vor? Die Antwort wird deutlich, wenn man darauf achtet, wie er die Dichtung von der Geschichtsschreibung abgrenzt. Während die Geschichtsschreibung die Wiedergabe der geschichtlichen Wirklichkeit zur Aufgabe habe, sei es die Aufgabe des Dichters, und damit kommen wir auf das Eingangszitat zu sprechen, etwas so darzustellen, „wie es gemäß <innerer> Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d. h. was <als eine Handlung eines bestimmten Charakters> möglich ist.“12 Und weiter: „Ein Historiker und ein Dichter unterscheiden sich nicht darin, dass sie mit oder ohne Versmaß schreiben [...], der Unterschied liegt vielmehr darin, dass der eine darstellt, was geschehen ist, der andere dagegen, was geschehen müsste. Deshalb ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Die Dichtung nämlich stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung etwas Einzelnes dar.“13
Wenn das Dargestellte zur geschichtlichen Wirklichkeit passt, habe also der Geschichtsschreiber seine Aufgabe erfüllt. Der Dichter hingegen müsse sich von dem Einzelnen, d. h. dem wirklichen Geschehen lösen und stattdessen auf das allgemeine Wesen bestimmter Charakterzüge und komplexer Charaktere achten und davon ausgehend überlegen, wie solche bestimmten Charaktere in bestimmten Situationen agieren könnten. Die Handlungsoptionen ergeben sich folglich aus dem allgemeinen Entfaltungspotenzial des Charakters, das der Dichter erkennen muss. Daher nennt Aristoteles die Tätigkeit des Dichters „philosophischer“ als die des auf die Einzelgegenstände bezogenen Geschichtsschreibers. Die geforderte Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit haben folglich nicht die geschichtliche Wirklichkeit, sondern den Charakter der handelnden Person zum Maßstab. Wenn die Aktionen und Reaktionen der Figuren auf der Bühne, also das Gesagte und Gehandelte zu ihrem Charakter passen, hätte der Dichter demnach seine Aufgabe gut erfüllt.
Gleichzeitig besteht die Herausforderung eines guten Dichters darin, den Charakter aus „den Aspekten <einer dramatischen Handlung>, aus denen erkennbar wird, welche Entscheidungen jemand zu treffen pflegt,“14 kenntlich zu machen. Ein meisterhafter Dichter vermag folglich das in einem bestimmten Charakter allgemein angelegte Potenzial so in einzelnen Handlungen zu entfalten, dass diese Handlungen einen konsistenten Charakter sichtbar machen und zugleich der zugrunde gelegte Charakter den Zusammenhang der einzelnen Handlungen und damit den Ablauf der Gesamthandlung notwendig oder wahrscheinlich macht.
Katharsis – Die Wirkung auf den Zuschauer
Dass der in einer Tragödie handelnde Charakter laut Aristoteles prinzipiell ein guter Charakter sein soll, hängt mit dem Ziel zusammen, das die Tragödie für Aristoteles ihrem Wesen nach bei den Zuschauern erreichen soll: „Durch Mitleid und Furcht bewirkt sie eine Reinigung eben dieser Gefühle.“15 Die Rezeptionsgeschichte dieses Satzes könnte ein ganzes Buch füllen, einerseits was die Übersetzung von ἔλεος und φόβος (als „Mitleid und Furcht“ oder als „Jammer und Schauder“), anderseits was das Verständnis des Genitivs τῶν τοιούτων παθημάτων im Verhältnis zu κάθαρσις – also ob hier eine Reinigung von den Gefühlen oder eine Reinigung der Gefühle erwartet wird – betrifft.16
Mit Blick auf die Aristotelische Theorie der Gefühle17 wird verständlich, dass und warum ἔλεος und φόβος für Aristoteles „rationale“18 bzw. „komplexe“19 Gefühle sind, die auf Grundlage seiner Philosophie kultiviert und nicht beseitigt werden sollten. Die rationale Komponente dieser Gefühle ergibt sich daraus, dass ihnen bestimmte Erkenntnisse vorausgehen, die für die Gefühlsbildung leitend sind. Im Fall der Furcht (φόβος) müsse die Erkenntnis einer bestimmten, konkreten, wirklichen Bedrohung vorausgehen.20 Mitleid (ἔλεος) werde wiederum durch zwei Erkenntnisse erzeugt, nämlich einerseits durch Überzeugung, dass das Leid des anderen auch einen selbst bedrohen könnte, und andererseits durch die Überzeugung, dass das Leid den anderen in unverdientem Maße treffe.21 Arbogast Schmitt bringt in seinem großen POETIK-Kommentar den Zusammenhang zwischen der Bühnenhandlung und der Wirkung auf die Zuschauer präzise auf den Punkt: Der Zuschauer „sieht, was seine Helden wirklich fürchten sollten, und empfindet Mitleid mit dem Unglück, das sie wirklich trifft, nicht mit dem, das sie sich einbilden. Seine Furcht und sein Mitleid beziehen sich also auf das, was wirklich zum Scheitern einer Handlung führt. Die Tragödie verschafft ihm so nicht durch moralische Belehrung, sondern dadurch, dass er die Gründe des Scheiterns eines Handelns in konkretem Miterleben begreift, eine Steigerung der Erkenntnisqualität seiner Gefühle. Er empfindet Furcht und Mitleid, und das heißt auch, er empfindet die Gefühle, die ihn selbst vor dem Scheitern des Handelns bewahren, dort, wo es angemessen ist, in der Weise, wie es angemessen ist, usw.“22 Bei der geforderten Reinigung handelt es sich also nicht um eine „Reinigung von derartigen Erregungszuständen“23, sondern um eine Kultivierung bzw. Reinigung der Gefühle. Denn durch das Miterleben des Scheiterns und das Verstehen der Gründe wird die Furcht auf die richtigen, nämlich wirklich bedrohenden Dinge gerichtet und das Mitleid in angemessener Weise durch ein Begreifen der Unverdientheit des Unheils hervorgerufen.
Wenn die Erzeugung von Mitleid zum Ziel der Tragödie gehört, dürfe, so Aristoteles, eine Tragödie auch nicht von charakterlich schlechten, sittlich verkommenen Menschen handeln, da der Zuschauer bei deren Scheitern kein Mitleid empfinden könne. Aber auch charakterlich tadellose, sittlich vollkommene Menschen sollten demnach in einer Tragödie nicht in ein Unglück geraten. Denn das Unglück würde solche Charaktere, die niemals falsche Urteile und Entscheidungen treffen, ausschließlich von außen, also ohne deren eigenes Zutun, treffen, was für den Zuschauer nicht mitleiderregend, sondern furchtbar und abscheulich sei.
Hamartia – Scheitern durch fehlerhaftes Handeln
„So bleibt also,“ schreibt Aristoteles weiter „ ein Charakter, der zwischen diesen beiden liegt, übrig. Von dieser Art ist derjenige, der weder durch charakterliche Vollkommenheit und Gerechtigkeit herausragt, noch durch Schlechtigkeit und Bösartigkeit ins Unglück gerät, sondern wegen eines bestimmten Fehlers (δι᾽ ἁμαρτίαν τινά) zu Fall kommt [...]“ 24
Ein guter, aber nicht vollkommener Charakter ist jemand, der grundsätzlich gute Ziele und Absichten hat, aber unter bestimmten Umständen dazu neigt, seinen Blick zu sehr einzuengen, von dem, was ihm die Vernunft mit Blick auf seine grundsätzlich guten Ziele und Absichten rät, abkommt, damit das für ihn wahrhaft Gute nicht mehr beachtet und folglich scheitert. Diese Mitwirkung und Mitverantwortlichkeit am eigenen Scheitern ist für Aristoteles von entscheidender Bedeutung. Reine Schicksalstragödien sind für ihn keine guten Tragödien. Denn die Wirkung auf den Zuschauer ergibt sich daraus, dass dieser die eigentlich guten Ziele des „Helden“ kennt, er aber mitverfolgen muss, wie der „Held“ sich zwar aus verständlichen, aber nicht zwingenden Gründen immer weiter in sein Unglück verrennt. Der Zuschauer leidet mit, weil der „Held“ der Tragödie ihm charakterlich nicht gänzlich unähnlich ist und nun Konsequenzen erleiden muss, die das verdiente Maß übersteigen. So fürchtet der Zuschauer die Fehlentscheidungen, die sich aus derartigen charakterlichen Fehltendenzen ergeben. Ein guter Tragödiencharakter müsste also so gezeichnet sein, dass er prinzipiell gut, seiner Rolle angemessen, dem Zuschauer einigermaßen ähnlich und in seinem eigenen Handeln konsistent ist.25
Die Kunst bzw. das Können des Dichters liegt darin, die Charaktere und den Mythos so miteinander zu verbinden, dass ein kohärentes Handlungsgeflecht entsteht, das einen Anfang, eine Mitte und ein Ende hat. Wenn sich der Dichter hierbei an Themen aus dem überlieferten Sagenschatz26 bedient, dann weiß auch Aristoteles, dass diese Geschichten nicht grundsätzlich verändert werden können. In der Umsetzung aber lassen die groben Gerüste dem Dichter dennoch genügend Möglichkeiten, durch Ausschmückung, Verfeinerung, Ergänzung kreativ tätig zu werden. So gehe es für einen Dichter darum, „beim Erfinden 'eines Stoffes' wie beim Gebrauch überlieferter Stoffe kunstgemäß vorzugehen,“27 also zu zeigen, warum den Charakteren genau das geschieht, was in der Tragödie dargestellt wird. Nicht das „Dass“ des ohnehin zuvor bekannten Scheiterns oder der Inhalt eines bestimmten Sagenplots wären demnach Kerngeschäft des Dichters, sondern die Komposition der Handlung, durch die das „Warum“ des „Dass“ nachvollziehbar wird. Dieses „Warum“ sollte nun mindestens auch im Charakter zu finden sein, der sich wiederum in den Entscheidungen und Gesprächen, die die handelnden Personen vollziehen, offenbart.
Die Aristotelischen Wegweiser zu den Antworten
Stellen wir uns also die drei eingangs erwähnten Fragen erneut und fragen uns erstens, worum es im KÖNIG ÖDIPUS geht, so werden wir die Antwort suchen, indem wir Aristoteles‘ Anforderung ernst nehmen, dass eine Tragödie ein zusammenhängendes, einheitliches Handlungsgeflecht mit einem Anfang, einer Mitte und einem Ende ist. Für eine Antwort auf die Frage nach der Tragik des KÖNIG ÖDIPUS überlegen wir, inwiefern die Handlungskomposition zu Furcht und Mitleid anregen könnte. Und wenn wir schließlich nach Ödipus‘ eigenem Anteil für sein Scheitern fragen, denken wir daran, dass das Scheitern in einer guten Tragödie unter Mitwirkung eines Fehlers eines guten, aber nicht perfekten Charakters erfolgt.
III. Worum geht es im KÖNIG ÖDIPUS?
Worum es nicht geht: die Vorgeschichte
Viele Geschehnisse, die bisweilen der Handlung des Dramas zugerechnet werden, sind eigentlich Teil der Vorgeschichte: Das erste der drei für den KÖNIG ÖDIPUS relevanten Orakel richtet sich an den thebanischen König Laios und seine Frau Jokaste: Sie sollen kein Kind zeugen und wenn sie zuwiderhandeln, so die Prophezeiung, werde das Kind den Vater Laios töten und die Mutter Jokaste heiraten. Das Paar verstößt gegen die göttliche Weisung, bekommt einen Sohn und setzt ihn aus, um dem Fluch zu entgehen. Doch das Kind stirbt nicht, sondern wird an einen Hirten aus Korinth übergeben, der es dem kinderlosen Königspaar Polybos und Merope überreicht, die es aufnehmen, ihm aufgrund seiner geschwollenen Füße den Namen Ödipus geben und es wie ihr eigenes Kind aufziehen. Der Zuruf eines Betrunkenen lässt den heranwachsenden Ödipus an seiner Abkunft zweifeln, er macht sich auf den Weg nach Delphi und erkundigt sich nach seinen Eltern. Das Orakel schweigt zu dieser Frage und verkündet Ödipus stattdessen (zweites Orakel), dass er seinen eigenen Vater töten und seine Mutter heiraten wird. Damit sich diese Vorhersage nicht bewahrheiten kann, mach sich Ödipus nicht zurück auf den Weg nach Korinth, sondern wandert Richtung Theben. Auf dem Weg nach Theben erschlägt er Laios, seinen ihm unbekannten Vater, und dessen Gefolge. Als er nach Theben kommt, wird die Stadt von der Sphinx belagert und bedroht. Ödipus vermag deren Rätsel zu lösen, befreit die Stadt von ihrem Fluch, heiratet Jokaste und wird König Thebens. Jahre später wird Theben von einer schlimmen Seuche befallen.
Diese Vorfälle sind Teil der außerhalb der Bühnenhandlung stattfindenden Verwicklung. Diese Handlungen und Ereignisse sind nicht das Darstellungsziel des Sophokleischen KÖNIG ÖDIPUS, also weder die mangelnde Frömmigkeit von Laios und Jokaste, noch die schreckliche Aussetzung des Säuglings, noch der Umgang mit den ersten beiden Orakeln, nicht einmal der Mord am Dreiweg, auch nicht der Fluch der Sphinx oder die meisterhafte Erlösung durch Ödipus und schließlich auch nicht das Leiden der Stadt durch die schlimme Seuche. Diese Geschehnisse bestimmen die Bühnenhandlung zwar entscheidend mit, stellen aber nicht die Handlungseinheit dar, deren Anfang auf der Bühne gesetzt wird und die davon ausgehend aus einer inneren Handlungslogik in das Ende der Bühnenhandlung mündet. Also worum geht es dann im KÖNIG ÖDIPUS des Sophokles?
Worum es geht: die Bühnenhandlung
Werfen wir zunächst einen groben Blick auf das Bühnengeschehen: Im Prolog tritt das Volk Thebens an seinen König heran, um ihn bei der Seuche um Hilfe zu bitten. Ödipus hat bereits eine erste Maßnahme getroffen und Kreon nach Delphi geschickt, der just in dem Moment zurückkehrt und das Rettung versprechende Orakel (drittes Orakel) verkündet. Im ersten Epeisodion nimmt Ödipus die Ermittlung auf und spricht die Verfluchung des Täters aus. Den nicht kooperierenden Seher Teiresias verdächtigt er des Komplotts und verurteilt ihn. Im zweiten Epeisodion verdächtigt und verurteilt Ödipus auch seinen Schwager Kreon. Jokaste beschwichtigt und berichtet vom ersten Orakel, der Aussetzung ihres Kindes und von der Ermordung des Laios am Dreiweg. Ödipus erinnert sich an den Dreiweg und ahnt, dass er selbst der Mörder ist, den er verflucht hat. Er berichtet vom zweiten Orakel und seinen Totschlägen, die er ebenfalls an einem Dreiweg zwischen Theben und Delphi verübte. Im dritten Epeisodion verkündet ein Bote aus Korinth zunächst den Tod des korinthischen Königs Polybos und deckt anschließend in bester Absicht auf, dass Ödipus nicht der leibliche Sohn des korinthischen Königspaars ist. Im vierten Epeisodion stößt der thebanische Hirte dazu, der nicht nur damals das Kind des Laios aussetzen sollte, es aber dem Korinther übergab, sondern auch später der einzige überlebende Zeuge des Geschehens am Dreiweg war. Dieser Hirte offenbart gegen seinen Willen schließlich die ganze Wahrheit. Im Exodos nimmt dann das Unglück seinen Lauf: Jokaste erhängt sich, Ödipus sticht sich die Augen aus und versucht, sein Exil zu „organisieren“.
Wie können wir nun Anfang, Mitte und Ende der Handlung des Dramas zuordnen? Der Anfang ist gekennzeichnet durch Verweise auf die Position des Ödipus: Er steht in höchstem Ansehen und besitzt Macht. Das Volk tritt an seinen König heran, um durch ihn Hilfe zu ersuchen. Das Orakel, das einen Ausweg verspricht, wird verkündet. Das ist die Ausgangssituation, die die Bühnenhandlungen des Ödipus initiiert. Ödipus‘ Umgang mit dem Orakelspruch und die Suche nach dem Mörder bildet dann die Mitte des Dramas. Am Ende steht Ödipus geächtet und ohnmächtig da. Jokaste ist tot, Ödipus geblendet, der Mörder ist zwar identifiziert, aber die Stadt wähnt sich nicht glücklich und befreit, sondern vielmehr belastet und ist voller Vorwürfe gegenüber ihrem einstigen Retter. Die Handlung ist damit abgeschlossen. Dieses Gerüst macht deutlich, dass es im KÖNIG ÖDIPUS des Sophokles offenbar um Ödipus’ Versuch geht, dem dritten Orakelspruch gerecht zu werden und dadurch die Stadt ein zweites Mal zu retten.
IV. Das Handeln des Ödipus
Die anderen beiden Fragen, die nach der Tragik und die nach Ödipus’ Mitverantwortung am Scheitern, können nicht unabhängig voneinander beantwortet werden. Denn die von Aristoteles geforderte Wirkung einer Tragödie auf die Zuschauer hängt davon ab, inwiefern der scheiternde Held für sein Schicksal mitverantlich ist. Dafür müssen wir den Blick auf die Mitte des Dramas, d. h. auf die Handlungen des Ödipus, nachdem ihm das Orakel verkündet wurde, werfen.
Hinweise auf den Charakter im Prolog
Doch zunächst sollen einige Hinweise zusammengeführt werden, die Sophokles bereits im Prolog auf den Charakter seines Ödipus’ liefert, damit wir die geforderte (innere) Wahrscheinlichkeit der kommenden Handlungen angemessen beurteilen können. Gleich in seiner ersten Ansprache an die Hilfe ersuchende Gruppe aus dem Volk stellt er sich als „der ruhmreiche Ödipus“ (v. 8) vor, der sich seinem Volk gegenüber einerseits als mitfühlend (vv. 12f.) und andererseits als entschlossen (vv. 11f., 69–72) präsentiert. Er leide nicht nur mit, wie er schnell betonen wird, sondern er leide sogar mehr als alle anderen Bewohner der Stadt (vv. 61ff.). Er verspricht nicht nur Bemühen, nein, er verpflichtet sich regelrecht selbst, alles zu tun, was der Gott ihm kundtun werde (vv. 76f.). Sein Ansehen beim Volk ist zu diesem Zeitpunkt makellos. Aufgrund seiner früheren Taten genießt er den Ruf, der Beste und Mächtigste unter den Menschen (vv. 31–34, 40, 45) und der tugendhafte Retter der Stadt zu sein (48–53).
Als Kreon nun aus Delphi zurückkehrt, gibt er zuerst eine Einschätzung zum Spruch des Gottes ab: Gutes sei ihm verkündet worden, nämlich die Aussicht auf Rettung und auf ein gutes Ende (vv. 87–88). Konkret laute die Botschaft: „Phoibos, der Herr, gebietet uns in seinem Glanz, den Frevel (μίασμα), der dieser Erde entsprossen ist, aus diesem Lande zu verstoßen, damit er nicht ins Unheilbare wachse.“28 Ob die nachfolgende Konkretion und Zuspitzung dieser Aufforderung auf eine mit Totschlag zu sühnende Vergeltung des Mörders an Laois bereits eine erste Deutung und Auslegung durch Kreon darstellt,29 sei dahingestellt. Ödipus, der erstmalig von diesem Vorfall Kenntnis nimmt, fragt direkt nach und erfährt den gegenwärtigen Aufenthaltsort des Täters, nämlich Theben (vv. 110f.), und den ungefähren Tatort (zwischen Theben und Delphi; v. 115) und -zeitpunkt (kurz vor Ödipus’ Eintreffen in Theben; vv. 103f.). Außerdem wird ihm von einem überlebenden Zeugen des Mordes berichtet, der behauptet habe, Räuber wären für die Tat verantwortlich (vv. 122f.). Darauf reagiert Ödipus auf zweierlei Weise. Zunächst äußert er direkt eine erste Vermutung darüber, dass es sich hierbei eigentlich nur um einen Auftragsmord handeln könne. (vv. 124f.) Außerdem tadelt er die Thebaner, warum sie damals nichts zur Klärung und Vergeltung unternommen hätten (vv. 126f., 255f.): „So werde ich es nun sein, der die Sache aufs Neue, von ihrem Ursprung her, aufklärt“ (v. 132), und zwar für den Gott, für das Land und für sich selbst: „Ich bin bereit, alles zu tun“ (v. 145).
Der Prolog präsentiert Ödipus als einen wohlwollenden, anpackenden, hilfsbereiten, guten und stolzen König, der bereit ist, sich für sein Volk wie ein Vater für seine Kinder höchstpersönlich einzusetzen. Trotz der schwierigen Umstände wird das Glück deutlich, das Ödipus genießt. Dieses besteht in seinem Ansehen bei den Menschen, welches er sich durch seine Taten, seinen Mut, seinen Verstand im Umgang mit der Sphinx verdient habe. Daraus generiert sich auch der Anspruch des Volkes, dass der König doch noch einmal helfen und sein Geschick von einst bestätigen möge. Auch wenn man dem Ödipus des Prologs nicht die besten Absichten absprechen kann, so finden sich darüber hinaus erste Hinweise auf charakterliche „Fehltendenzen“30. Wir erinnern uns an Aristoteles‘ Beobachtung und Forderung, dass in den guten Tragödien gute, aber nicht vollkommene Charaktere vom Glück ins Unglück geraten sollten. Ödipus wird von Sophokles nicht unbedingt als bescheidener Charakter präsentiert. Er ist von sich überzeugt, stellt sich selbst als ruhmreich dar, weiß um seine außergewöhnliche Position und tendiert dazu, sich von den anderen abzuheben: „Ihr leidet? – Ich leide mehr!“, „Ihr habt nichts unternommen? – Ich drehe nun jeden Stein höchst persönlich um!“; „Ihr fleht um Hilfe? – Ich habe erste Maßnahmen längst eingeleitet – und zwar nicht nur für Euch, sondern auch in meinem eigenen Interesse!“ Ödipus legt schon hier auf die Betonung seiner Überlegenheit, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit wert.31 Außerdem gibt Sophokles im Prolog auch gleich die erste Kostprobe von den problematischen Konsequenzen, die sich aus diesem starken, womöglich übertriebenen Selbstbewusstsein ergeben können. Denn wenn Kreon über den Zeugen spricht, der den Mordanschlag auf Laios und sein Gefolge überlebt hat, dann verlangt Ödipus nicht als erstes danach, diesen Zeugen sprechen, um wirklich, wie er sagt, die Sache von Anfang an gründlich aufzuklären, sondern legt sich bereits auf eine erste Vermutung fest, nämlich auf die Vermutung, dass es sich bei diesem Fall nur um ein Komplott handeln könne.
Unbedachte Verfluchung
Dass Sophokles seinen Ödipus als jemanden erscheinen lässt, der von seiner eigenen Geisteskraft überzeugt ist und dadurch unvorsichtig und unbedacht agiert, zeigt auch der Beginn des ersten Epeisodions, wenn Ödipus behauptet, ihm fehle bislang jegliches Indiz (v. 221). Erinnern wir uns: Es gibt einen Zeugen, den er nicht einmal einzuladen und zu befragen gedenkt. Er weiß, dass der Mord geschah, unmittelbar bevor er in Theben eintraf; er weiß, dass der Mord auf dem Weg von Theben nach Delphi geschah; und er weiß natürlich, auch wenn es auf der Bühne noch nicht angesprochen wurde, dass er selbst unmittelbar vor seinem Eintreffen in Theben auf dem Weg von Delphi nach Theben einen hochrangigen Mann samt Gefolge tötete. Dass der Täter sich momentan in Theben befindet, ist ihm durch den Orakelspruch auch bekannt. Dies alles sind Indizien, die wenigstens zum Nachdenken und Zweifeln anregen könnten und müssten, wenn man wirklich vorhat, alles aufs Genaueste zu untersuchen. Zugegebenermaßen ist die berichtete Falschaussage des Zeugen, der von mehreren Räubern als Täter sprach, dabei hinderlich, unmittelbar die Verbindungen zwischen dem eigenen und dem zu vergeltenden Mord herzustellen. Deshalb ist Ödipus’ Verhalten auch nicht völlig unwahrscheinlich. Doch der Einbezug der bekannten Indizien würde einen umsichtigeren Charakter mit Blick auf die kommenden Maßnahmen gewiss zu mehr Zurückhaltung und Nachdenklichkeit führen. Dass Ödipus behauptet, er hätte keine Indizien, zeigt, dass er bereits auf eine bestimmte Vermutung festgelegt ist, für die ihm tatsächlich die Indizien fehlen.
Ödipus‘ erste Maßnahme ist noch besonnen. Er fordert die Thebaner auf, den Täter zu benennen, verspricht Lohn und Dank. Selbst wenn sich der Täter selbst bezichtigen sollte, so würde ihm „nichts Unliebsames geschehen, er kann in Sicherheit das Land verlassen.“ (vv. 228–9) Doch die Besonnenheit endet in dem Moment, in dem Ödipus der Gedanke kommt, Täter oder Mitwisser würden seinem Befehl nicht nachkommen, sich nicht stellen und stattdessen schweigen. Dieser Gedanke scheint ihn derartig zu empören,32 dass er jegliche Besonnenheit verliert und vollkommen übereilt Mitwisser und Täter zu völliger Isolation verflucht (vv. 235–246): „diesen Mann verdamme ich in Grund und Boden: Er soll ein von allen geächtetes Leben fristen.“ (247f.) Dass Ödipus nicht ansatzweise seinen Mord mit dem zu vergeltenden Mord in Verbindung bringt, zeigt die als Eid zu verstehende explizite Übertragung des Fluchs auf sich selbst für den Fall, er selbst wisse, dass sich der Täter in seinem eigenen Haus befinde.
Verengung des Blicks
Auch der Chor beteuert seine Unschuld, empfiehlt aber doch die Befragung des blinden Sehers Teiresias, „dem als einzigem unter den Menschen die Wahrheit eingeboren ist.“ (vv. 298f.) Ödipus, der diese hohe Meinung von dem göttlichen Seher teilt (vv. 300f.), zeigt, dass er auf diesen Rat nicht angewiesen sei. Er habe längst nach dem Seher rufen lassen. Vor dem Gespräch beteuert er zwar noch einmal: „Ich prüfe alles, was man sagt.“ (v. 291), doch der Verlauf des Gesprächs zeigt deutlich, wie schnell sich Ödipus von einem Gedanken vereinnahmen und verleiten lässt. Denn nachdem Teiresias wiederholt zum Ausdruck bringt, dass er erstens sein Wissen zu dem Vorfall nicht preisgeben möchte, er zweitens sein Schweigen für das Beste für alle hält (vv. 320f.; 332) und er drittens das Denken der Beteiligten beeinträchtigt sieht (v. 328), fängt Ödipus nicht etwa an zu zweifeln, nachzudenken und das Gesagte gründlich zu prüfen. Stattdessen wittert er unmittelbar Verrat (v. 331) und gerät über die Fokussierung auf diesen Gedanken in Zorn (vv. 334ff.), wodurch er seinen Blick weiter verengt und schließlich Teiresias der Täterschaft, mindestens aber der Mittäterschaft beschuldigt (345ff.). Teiresias selbst wiederum verliert aufgrund der Verspottung seiner Blindheit und der Bezichtigung des Verrats seine klare Linie und verkündet gegen seinen ursprünglichen Willen (v. 358, v. 412) die Wahrheit, nämlich dass Ödipus der gesuchte Mörder sei (353, 362), und deutet auch die weiteren Verstrickungen des Ödipus an, die diesem bereits durch das zweite Orakel bekannt vorkommen müssten. Wie reagiert Ödipus auf den Vorwurf, selbst der Mörder zu sein? Prüft er alles, was gesagt wird? Im Gegenteil, er hält an seinem Gedanken fest, den er schon gefasst hatte, als er das erste Mal von dem Mord an Laios erfuhr (124f.). Diesen Gedanken festigt er nun mit dem, was ihm plausibel erscheint: Es müsse sich um einen Auftragsmord handeln und Teiresias, der zunächst schwieg und dann Ödipus beschuldigte, müsse ein Teil dieses Komplotts sein. Doch wer könne der Urheber des Komplotts sein? Ödipus schließt unvermittelt und bedenkenlos auf Kreon (v. 378), der es auf den Thron abgesehen und den geldgierigen Seher für seine Pläne angeheuert haben müsse (vv. 385ff.). Teiresias serviert dem durch seine Fokussierung auf die Vermutung verblendeten Ödipus nun die ganze Wahrheit und fordert ihn explizit auf, in Ruhe über das Gesagte nachzudenken (vv. 460f.).
Der Chor lässt sich zwar von Ödipus’ Argumentation (vv. 390–400) gegen eine Überlegenheit des Sehers und für die Offenkundigkeit der bereits im Umgang mit der Sphinx erwiesenen Klugheit überzeugen, zeigt aber auch deutlich an, dass dasjenige, worum es eigentlich geht, durch die zornige Rede aus dem Fokus gerät: „Was wir brauchen, ist nicht das; wir sollten bedenken, wie wir dem Orakel des Gottes am besten entsprechen können.“ (vv. 406f.) Sophokles signalisiert klar, dass Ödipus die beste Lösung des Orakels als Handlungsziel aus den Augen verloren hat. Nicht umsichtiges Abwägen und gründliches Durchdenken der Lage, sondern vorschnelle Schlüsse und Urteile scheinen für Ödipus handlungsleitend zu sein.
Starrsinniges Festhalten an der Verschwörungstheorie
Der nun auf das Allerschlimmste beschuldigte Kreon weist auf den Mangel dieses Verhaltens mehrfach hin: „Höre erst und urteile dann!“, fordert er von Ödipus, der von vornherein ausschließt, für dessen Argumente zugänglich zu sein (vv. 544–547). Ödipus hat sich festgelegt, obwohl er nur Wahrscheinlichkeiten folgt.33 Kreon spiegelt diese Einstellung mehr oder weniger subtil: „Wenn ich mir eine Sache nicht erklären kann, so schweige ich lieber.“ (569) Für Ödipus gilt das offenkundig nicht. Denn obwohl klar wird, dass weder die Motivlage noch Kreons allgemein bekannter Charakter für solch eine Tatverwicklung sprechen, bleibt Ödipus bei seiner Verschwörungstheorie. „Beschuldige mich nicht aus eigener Entscheidung aufgrund von haltlosen Gedanken“, fordert Kreon. Selbst der Ödipus zugewandte Chor bescheinigt der Rede Kreons Glaubwürdigkeit und mahnt: „Denkt man zu rasch, vermeidet man nicht den Sturz“ (v. 616f.)34. Ödipus distanziert sich offen von einem allumfassenden, klugen Durchdenken als Maßstab: „Ich denke an meine Sache.“ (vv. 626f.) Kreon wendet noch ein: „Und wäre es so, dass du einfach nichts begreifst?“ Worauf Ödipus in seiner trockenen Antwort seine Abkehr von der unbedingten Wahrheitssuche offenlegt: „Und doch musst du gehorchen!“ (v. 628)
In wenigen Versen ist aus dem wohlwollenden und entschlossenen Retter der Stadt ein verbohrter Verteidiger seiner selbst geworden. Doch wurde dies nicht als ein Wandel eines guten in einen bösen Menschen inszeniert. Vielmehr lässt Sophokles in den Handlungen und Reden einen konsistenten Charakter zum Vorschein kommen, der einerseits viel von sich hält und nur das Beste im Sinn hat, andererseits aber dazu neigt, sich vorschnell auf ein mögliches, aber nicht notwendiges Urteil festzulegen, sich davon emotional mitreißen zu lassen und damit den alles prüfenden, umsichtigen Weitblick zu vernachlässigen. Auch wenn er vorgibt, alles prüfen zu wollen, so genügt ihm stets ein bloßes Anzeichen für sein Urteil. Der Zeugenbericht führt ihn zu einer ersten Vermutung, die für die allgemeine Verfluchung des Täters und die konkreten Beschuldigungen und Verurteilungen von Teiresias und Kreon handlungsleitend wird. Anzeichen wiederum, die seine Vermutungen ins Wanken bringen könnten, nimmt er entweder nicht wahr oder ordnet diese nicht angemessen ein. Fortan steht für den Helden nicht mehr die richtige Deutung und der richtige Umgang mit dem Orakel im Mittelpunkt, stattdessen dreht sich alles um Ödipus selbst. Dabei ist es nicht der Drang, die Wahrheit zu finden, sondern der Drang, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen, der den Treibstoff für seine weiteren Maßnahmen liefert.35
Der halbe Verdacht
Das zeigt sich auch, wenn Jokaste versucht, ihren Mann Ödipus zu beruhigen, indem sie die Unzuverlässigkeit göttlicher Vermittlung durch Menschen dadurch beweisen möchte, dass sie Ödipus von dem prophezeiten Mord an Laios durch das eigene Kind berichtet. Dieses Orakel, so Jokaste, hätte sich nicht erfüllt, denn der Mord geschah an einem Dreiweg durch eine Räuberbande, während das eigene Kind gleich nach der Geburt ausgesetzt worden sei (vv. 715f.). Ödipus ist hier weder über das unfromme, noch über das unmenschliche Verhalten der Jokaste empört.36 Er erfasst in der Rede nur den „Dreiweg“ und wird dadurch an seine eigene Tat erinnert: „Ich Armer! Mich selbst habe ich vorhin, wie es scheint, furchtbarer Verfluchung ausgesetzt, ohne es zu wissen!“ (vv. 744f.) Er berichtet nun von den Zweifeln über seine Abkunft, die der Zuruf eines Betrunkenen in ihm ausgelöst hätten. Er berichtet von seinem Gang zum Orakel nach Delphi, das ihm auf die Frage nach seinen Eltern explizit nicht antwortete, stattdessen ihm aber prophezeite, er würde seinen eigenen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten. Er berichtet von seinem Entschluss, nicht wieder nach Hause, d. h nach Korinth, zu gehen. Und er berichtet schließlich auch von dem Vorfall am Dreiweg, wo er offenkundig keineswegs aus Notwehr, sondern aus Zorn und wegen verletzten Stolzes den ihn vom Weg abbringenden Tross in „ungleicher Vergeltung“ (v. 810) tötete. Auch in diesem Rückblick gibt uns Sophokles Hinweise auf den konsistenten Charakter seines Ödipus, der auch hier dazu neigt, schnell zu urteilen und sich von diesen Urteilen emotional mitreißen zu lassen. Ein stolzer Königssohn lässt sich schließlich nicht einfach und ungestraft vom Weg abdrängen. Hätte er ebenso empört reagiert, wenn er in Betracht gezogen hätte, dass ihm gegenüber ein König samt Gefolge unterwegs war? Doch er fasst nur die ihm ungebührliche Behandlung vom Wagenlenker und von einem alten Herrn ins Auge, fokussiert auf das empfundene Unrecht, und verliert dadurch Weitblick im Denken und Maß im Handeln.
Auch im Fortgang der Bühnenhandlung vermag Ödipus es nicht, seinen Blick zu weiten. Es sind nun alle drei Orakel offen bekannt, dazu seine eigenen Erfahrungen am Dreiweg, die Äußerungen des Sehers Teiresias und dazu die ihn durchbohrende Unsicherheit um die eigene Abkunft, die weiterhin anhält, wie seine Rückfrage im Streit mit Teiresias offenbart (v. 437). Doch was ihn bewegt, ist die Bedrohung, er könnte der Mörder – nicht seines Vaters, sondern – des Laios sein und sich selbst verflucht haben: „Falls dieser Fremde, von dem ich berichte, mit Laios irgendwie verwandt ist, wer ist dann unglückseliger als dieser Mann hier vor dir? Wird je ein Mensch den Göttern verhasster sein als der, dem es versagt ist, einen Fremden oder einen Bürger bei sich aufzunehmen, und der an keinen das Wort richten darf, sondern jenen aus dem Haus zu verstoßen hat? Und diesen Fluch hat kein anderer als ich selbst verhängt, der ich somit gegen mich selbst die Verwünschungen ausgesprochen habe“ (vv. 813–20) Er fokussiert die vordergründige Bedrohung, nicht die ganze, auf dem Tisch liegende Wahrheit seiner Abkunft und Verwicklungen. Dieser vordergründigen Bedrohung versucht er aus dem Weg zu gehen, indem er nun nach dem einzigen überlebenden Zeugen des Vorfalls am Dreiweg ruft. Dieser Zeuge interessierte ihn noch nicht, als es darum ging, den Auftrag des Orakels zu erfüllen. Nun aber möchte er sich selbst als Täter ausschließen und hofft, der Zeuge möge seine damalige Aussage, es seien mehrere Täter gewesen, bestätigen: „Denn einer ist nicht dasselbe wie viele“ (v. 845).
Die schwerfällige Erkenntnis der ganzen Wahrheit
Wenn anschließend der Bote aus Korinth den Tod des korinthischen Königs Polybos verkündet, so zeigt sich Ödipus zwar davon überzeugt, dass die Orakelsprüche ihre Geltung nun offenkundig verloren hätten. Immerhin sei sein Vater nun tot, ohne von ihm, dem Sohn, getötet worden zu sein. Und dennoch fürchtet er weiterhin das prophezeite „Bett der Mutter“ (v. 976). Das ist zwar unschlüssig gedacht, charakterlich aber konsequent gehandelt. Ödipus setzt nicht die Puzzleteile neu zusammen, sondern löst sich wieder einmal nur schwer von einem einmal gefällten Urteil, das seinen Blick einengt und seine Furcht lebendig hält. Als der Bote ihm auch noch diese Furcht nimmt, indem er ihm offenbart, nicht korinthischer Abstammung zu sein, besteht Ödipus gegen die Befürchtungen der Jokaste darauf, nun das Rätsel um seine Abkunft endlich zu lösen. Das Flehen der nun alles begreifenden Jokaste, die Sache ruhen zu lassen, verleitet ihn zu einem weiteren vorschnellen Urteil: „Sie schämt sich wohl, wie stolz die Frauen nun einmal sind, meiner gemeinen Geburt“ (1078f.).
So fügt nicht Ödipus, sondern der Thebaner Hirte, zugleich Zeuge des Mordes am Dreiweg als auch Zeuge der Aussetzung des Kindes, das letzte Puzzleteil hinzu. Das Unglück nimmt seinen Lauf. Jokaste erhängt sich und Ödipus sticht sich die Augen aus, was ihm trotz allen Leids vom Chor auch noch vorgeworfen wird.37 Der einst mächtige und ruhmreiche Ödipus liegt nun ohnmächtig und verachtet am Boden. Der Charakter ist jedoch auch hier noch der gleiche. Kreon möchte besonnen und mit Hilfe des Gottes eine gute und richtige Entscheidung in dieser Situation treffen, doch Ödipus fordert rasches Handeln in seinem eigenen Sinne (v. 1444; v. 1517f.) und muss auch in dieser Lage noch einmal, in der Art eines resümierenden Blicks auf seine charakterliche Fehltendenz, von Kreon zurechtgewiesen werden: „Höre jetzt auf, alles erzwingen zu wollen! Denn was Du erzwungen hast, ist in deinem Leben nicht bis ans Ende mit dir geblieben!“ (v. 1523).
V. Fazit
So zeigt sich das Tragische im KÖNIG ÖDIPUS gemäß der Aristotelischen Lesart daran, dass Ödipus stets in der Überzeugung, das Richtige zu tun, Entscheidungen trifft, die (für den Zuschauer offenkundig) für ihn und sein Vorhaben nachteilige Entscheidungen sind. Sophokles hat die Tragödie so komponiert, dass der Zuschauer durch seinen Wissensvorsprung die Diskrepanz zwischen den konkreten, vordergründigen, kurzsichtigen Bedrohungen, die Ödipus‘ Handeln treiben, und der wirklichen Bedrohung, in die er sich durch seine aus voreiligen Schlüssen und Fehlurteilen hervorgehenden Entscheidungen begibt, erkennt und im Gegensatz zu Ödipus das Richtige fürchtet. Sophokles macht im Rahmen dieser Tragödie deutlich, dass Ödipus grundsätzlich Gutes im Sinn hat und doch wesentlich mitverantwortlich ist für den Ablauf der Handlungen. Gemessen an dem Charakter des Ödipus, der Ungewisses nicht als ungewiss anzuerkennen vermag, sich schnell festlegt, von seinen voreiligen Urteilen einnehmen lässt und entsprechend überhastet handelt, stellt Sophokles im KÖNIG ÖDIPUS tatsächlich dar, wie sich ein Potenzial (d. h. das Vermögen eines bestimmten Charakters) unter den gegebenen Umständen gemäß Wahrscheinlichkeit entfaltet.
Nach diesem Maßstab ist es die Kunst eines guten Tragödiendichters, die Handlung eines Scheiterns so darzustellen, dass die (Fehl-)Entscheidungen des Charakters für das Publikum nachvollziehbar sind, indem sie auf erkennbaren, den Zuschauern nicht fremden charakterlichen (Fehl-)Tendenzen beruhen. Wenn dann die Konsequenzen aus diesen Handlungen, für die ein uns ähnlicher Charakter mitverantwortlich ist, unangemessen hart ausgestaltet werden, könne es gelingen, den Zuschauer derart mitfühlend und begreifend zu involvieren, dass ihn die Tragödie in angemessener Weise berührt und nachhaltig bewegt. Eine Anwendung dieser Aristotelischen Perspektive auf den KÖNIG ÖDIPUS des Sophokles führt zu den vielen Hinweisen in der Handlungskomposition des Sophokles, aus denen erkennbar wird, warum ausgerechnet der dort dargestellte Ödipus in dieses Unglück geraten konnte. Dann wird auch verständlich, warum diese Version einer so unwahrscheinlichen Geschichte doch derart wahrscheinlich ist, dass sie unter dem Kriterium der Handlungskonsistenz als herausragende Tragödie geadelt werden kann.38