— von Marcel Humar

Während es an Vorschlägen und Materialien zur Übergangslektüre1 im Lateinunterricht weniger mangelt2, liegt der Fall für das Fach Griechisch etwas anders: Es gibt keine umfassenden Zusammenstellungen und didaktischen Diskussionen geeigneter Texte gesammelt und kaum konkret aufbereitetes und im Unterricht direkt einsetzbares Material3. Doch die Übergangslektüre ist der erste Kontakt mit ‚echter‘ (d.h. nicht artifizieller, didaktisierter) Literatur; sie motiviert für die weitere Auseinandersetzung mit antiken Texten. Ihr kommt daher didaktisch und auch allgemein motivational eine nicht geringe Bedeutung zu. 

In der aktuellen Ausgabe XXI (2022) der Onlinezeitschrift Pegasus (http://www.pegasus-onlinezeitschrift.de) finden sich daher nun drei Beiträge, die mehrere Autoren und Texte für die griechische Übergangslektüre vorstellen und aufzeigen wollen, welches didaktische Potenzial dem jeweiligen Text allgemein und den in den Artikeln präsentierten Stellen im Besonderen zukommt. Daneben werden Hinweise zum didaktischen Umgang mit den einzelnen Textstellen gegeben (diese umfassen beispielsweise Strategien der Vorentlastung, Vorschläge für inhaltliche (Leit)fragen, Hinweise auf thematische oder epochale Verknüpfungen sowie weiterführende Anregungen zur Arbeit mit dem Text). Der vorliegende Beitrag versucht, einen knappen theoretischen Rahmen für die Übergangslektüre im altsprachlichen Unterricht – im Besonderen mit Blick auf den Griechischunterricht (GU) – zu skizzieren, um die aktuellen Beiträge im Pegasus noch besser einordnen zu können. 

Potenzielle Texte und Autoren für die Übergangslektüre im GU auszumachen, ist nicht einfach: Denn an geeignete Texte lassen sich verschiedene Anforderungen stellen, die sowohl sprachliche als auch inhaltliche Aspekte betreffen4. So sollten diese Texte für Lernende zunächst, aber nicht vordergründig, sprachlich leicht zugänglich sein. Das bedeutet, sowohl das Vokabular als auch gehäuft auftretende grammatikalische Phänomene sowie der Satzbau des Textes sollten bei Schülern und Schülerinnen keinen ‚Lektüreschock‘ auslösen, der sich dadurch offenbart, dass zuvor in der Spracherwerbsphase Gelerntes (Vokabular und Grammatik) vermeintlich nicht dazu beitragen kann, die Originaltexte hinsichtlich ihrer Struktur und des Inhalts zu erfassen5 und dessen Präsenz manchen Autoren zufolge nicht unterschätzt werden sollte6. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass am Ende der Sekundarstufe I sicherlich der Grundwortschatz bei einigen Schülern und Schülerinnen nur rudimentär abrufbar ist7, was bei der Auswahl und vor allem der Aufbereitung der Texte ebenfalls zu berücksichtigen ist. Und: Die Übergangslektüre offenbart auch Chancen. So kann anhand spannender Texte noch einmal der Fokus auf wichtige sprachliche Phänomene gelegt werden, bereits Gelerntes lässt sich in neuem Kontext festigen. Dies wirkt sich auf die Wahl des Textes aus: Er sollte so gewählt werden, dass er grammatikalische und sprachliche Unterrichtseinheiten aufgrund seines Inhalts tolerierbarer macht. 

Es gilt daher: Die Diskrepanz zwischen dem Beherrschen der ‚Lehrbuch-Grammatik‘ sowie des Grundwortschatzes und dem tatsächlichen Erfolg beim Übersetzen von Originaltexten sollte demnach vor allem in der Übergangslektüre reduziert werden. Ziel ist es, bei den Schülern und Schülerinnen eine erste „Lektürefähigkeit“8 zu erreichen. Kleinere Schwierigkeiten lassen sich dabei durch Adaptionen wie Umstellungen oder Kürzungen sowie geeignete Textvorentlastungen (etwa kolometrische Darstellungen) umgehen9; es ist wichtig, dass Lernende schnell in den Text finden und diesen zumindest inhaltlich verstehen können. Nur so kann eine thematisch orientierte, und dann auch anregende Lektüre gelingen. Eine Schwierigkeit stellt dabei das Erlernen noch (oder wieder) unbekannter Grammatik dar: Die Originaltexte eignen sich meistens – anders als Kunsttexte, die eine spezifische didaktische Intention haben und daher mit Blick auf diese gestaltet sind – nicht sonderlich gut zur induktiven Grammatikeinführung und bieten meist zu wenige aussagekräftige Beispiele bzw. Anwendungsmöglichkeiten für besondere Phänomene der Grammatik an, um diese am Text oder mit dem Text lernen (oder wiederholen) zu können10. Dies muss bisweilen durch zusätzliches Material geleistet werden. Dieser Sachverhalt mag auch mitunter der Grund dafür sein, dass einer Behandlung der Übergangslektüre im Unterricht aufgrund einer verlängerten Lehrbuchphase oft weniger Raum zukommt11. Die Grammatik wird hierbei als wichtiger erachtet als der frühestmögliche Kontakt mit Originaltexten12

Dabei wird aber vernachlässigt, dass sich auch anhand der Originaltexte Sprachunterricht betreiben lässt und, und dies scheint vor allem für die Lektüre relevant, die Texte ganz offenlegen, welche sprachliche Phänomene hochfrequent vorkommen (in bestimmten Gattungen, bei bestimmten Autoren); damit ist der Schwerpunkt bereits vorgegeben. Die Originaltexte sollten natürlich auch zur Wiederholung der Grammatik und dem Auffinden von Lernrückständen dienen13; diese müssen aber dann für die Lektüre des Textes eine Relevanz haben. Es gilt, sich auf das für das Lesen der Texte Wesentliche zu beschränken.14 

Für manche Lehrkräfte stellt sich vielleicht die Frage, inwieweit Texte der Übergangslektüre zentrale Themen der Oberstufe vorwegnehmen dürfen. In manchen Fällen mag es vielleicht hinderlich sein, spezifische Themen des Oberstufenunterrichts bereits an dieser Stelle des Lektüreunterrichts zu adressieren. Ein geeignetes Beispiel bietet die Lektüre der Memorabilien Xenophons, der persönlichen Erfahrung nach von vielen Lehrkräften als Übergangslektüre favorisiert, in Vorbereitung auf die Figur des Sokrates. Schülern und Schülerinnen könnten dann bei der Lektüre der Apologie in der Oberstufe gelangweilt reagieren bzw. könnte durch die biographischen Doppelungen oder repetitive Themen (Prozess, Anklagepunkte, etc.) Unterrichtszeit nicht optimal genutzt werden. Dennoch muss festgehalten werden, dass auch solche Ansätze ihre Vertreter finden15. Dagegen spricht, dass gerade die Übergangslektüre die Chance bietet, einen weiten Einblick in die Vielseitigkeit der griechischen Literatur zu erlangen, da im Rahmen dieser Lektürephase Texte gelesen werden können, die es sonst – auch aufgrund der Vorgaben in den Lehrplänen16 – nicht ins Klassenzimmer schaffen17. Hier entfaltet sich viel Potenzial für Freiräume und vor allem für Vorlieben der Lernenden (diese können und sollten in die Wahl der Übergangslektüre mit einbezogen werden18) und die Erkenntnis, dass viele Texte der Antike Gesprächsanlässe über (vermeintlich) moderne Themen liefern.19

Neben der sprachlichen wie inhaltlichen Zugänglichkeit müssen die Texte sowohl eine allgemeine Bildungswirkung als auch Möglichkeiten zur Propädeutik für die Themen und Inhalte der Oberstufe aufweisen. Der Text muss zur vertieften Lektüre in der Oberstufe befähigen, Grundprinzipen der Textanalyse einüben und literarisches Lernen20  ermöglichen. Die dem Text inhärenten Fragen oder Inhalte können dann im Optimalfall mit der Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen in Verbindung gebracht werden, wodurch die Lektüre einen Beitrag zur Entwicklung der Lernenden leisten kann und soll. Somit ist die Übergangslektüre ebenfalls mit Blick auf den Bildungs- und Erziehungswert zu prüfen; dabei sollte vor allem das für die jeweilige Klasse (und ihre Individuen darin) Nutzbare herausgezogen und vertieft werden21. Wichtig ist, dass die Texte eine gewisse Attraktivität (bezüglich des Inhalts, aber auch der unterrichtlichen Kontextualisierung sowie der Präsentation) aufweisen; sie sollten nicht nur gesehen werden als „bloße Durchgangsstation zur Oberstufe“, wie Maier in Bezug auf lateinische Texte in der Mittelstufenlektüre vermerkt hat22. Sie sollen vielmehr bereichern, unterhalten und bilden. Und dies auch mit Blick auf die Schüler und Schülerinnen, die nicht weiter am Griechischunterricht der Oberstufe teilnehmen wollen; deren Erstkontakt mit griechischer Literatur gleichzeitig auch der letzte ist. 

Die literarische Kompetenz, die in der Lehrbuchphase zu Gunsten der Sprachkompetenz in den Hintergrund tritt, muss bei der Übergangslektüre stärker in den Fokus rücken23. Geeignete Texte für die Übergangslektüre zeichnen sich somit dadurch aus, dass sie Möglichkeiten zum Erwerb literarischer Kompetenzen24 bieten, die Textstellen jedoch nicht zu schwer zu erschließen sind (etwa durch eine Fülle von kulturspezifischen Begriffen oder Konzepten, voraussetzungsreiche gattungsspezifische Eigenheiten oder auch literarische Traditionen und intertextuelle Bezüge). Daneben ist ein weiteres Kriterium, dass der Text möglichst vollständig erfasst werden sollte25, um so einen besseren Eindruck von der Anlage des Textes zu vermitteln. Eine Teilkompetenz literarischen Lernens besteht gerade darin, prototypische Vorstellungen von Gattungen zu entwickeln; dafür braucht es aber eine gewisse, in sich abgeschlossene Textmenge26.

Betrachtet man all diese Anforderungen und den eventuellen Aufwand, der mit der – wie oben (siehe Anmerkung 9) gefordert – selbstständigen Erstellung27 von Material einhergeht, mag vielleicht die Schwerpunktsetzung im Pegasus und die einzelnen Beiträge darin für ein wenig Entlastung und Inspiration sorgen.