— von Stefan Kipf und Ann Catherine Liebsch

Der Lateinunterricht hat eine bewegte Geschichte hinter sich gebracht; es handelt sich um ein Schulfach, das seit dem Mittelalter die historische Entwicklung des höheren Schulwesens in Deutschland nicht nur begleitet, sondern über lange Zeit maßgeblich geprägt hat. Dabei war der Lateinunterricht niemals unumstritten; oft wurde ihm, insbesondere in Zeiten großer pädagogischer Reformen, ein mehr oder weniger sicheres Ende prophezeit. So kann auch das neulateinische Distichon, das Josef Eberle im Jahr 1964 in seiner Gedichtsammlung „Sal niger“ unter dem Titel „Lingua mortua“ veröffentlichte, mit vollem Recht auch auf die wechselvolle Geschichte des Lateinunterrichts bezogen werden.  

O quoties obitum linguae statuere Latinae!

                        Tot tamen exsequiis salva superstes erat. (Sal 19)

Immer von neuem sagen sie tot die lateinische Sprache,

                        jedes Begräbnis jedoch hat sie gesund überlebt.

Mittelalter

Die Geschichte des Schulfachs Latein in Deutschland reicht bis ins frühe Mittelalter zurück. Die ersten Schulen, die damals gegründet wurden, waren Klosterschulen, in denen Latein als allgemeine Unterrichtssprache gesprochen und gelehrt wurde. Daher kann man Latein als das älteste Unterrichtsfach in Deutschland bezeichnen. Latein, die „Vatersprache des Mittelalters“ bildete das Zentrum des gesamten mittelalterlichen Schulwesens: Nur wer diese Sprache in Wort und Schrift beherrschte, erhielt vollen Zugang zum kirchlichen Leben und zu den Bildungsgütern, die an Kloster-, Kathedral- und Domschulen und seit dem Spät­mittelalter auch an den städtischen Schulen vermittelt wurden.

Neben der sicheren und akti­ven Beherrschung der Sprache wurde im Lateinunterricht in großem Umfang antike Literatur behandelt. Hierzu gehörten neben den sog. Di­sticha Catonis, die Cato d. Älteren zugeschrieben werden und wegen ihres moralischen Gehalts ungemein beliebt waren, und Fabelstoffen vor allem Werke der Epiker Vergil (‚Aeneis‘) und Ovid (‚Metamorphosen‘), des Lyrikers und Satirikers Horaz, des Komödiendichters Terenz, des Redners, Philo­sophen und Politikers Cicero sowie des Historikers Sallust. Sehr großer Wert wurde jedoch auch auf lateinische Werke zeitgenössischer Schriftsteller gelegt, z. B. auf die Alexandreis von Walter von Chatillon, ein Epos über Alexander den Großen. Latein war im Mittelalter eine lebende, sich verändernde Sprache, die sich jedoch vom klassischen Sprach­gebrauch der Antike nachhaltig entfernt hatte.

Renaissance – Humanismus

Unter dem Einfluss der Renaissance, die im 14. Jahrhundert in Italien ihren An­fang genom­men und in der zweiten Hälfte des 15. Jh. in Deutschland ihr Wirken entfaltet hatte, stand im Gegensatz zum Mittelalter allein die klassische Antike im Zentrum des Interesses: Die Humanisten hiel­ten das mittelalterliche Latein zu­meist für barbarisch und sahen in ihm Ausdruck des sprachli­chen und geistigen Verfalls. Stattdessen sollten Künste und Wissenschaften durch die Wie­derge­burt antiker Gelehrsamkeit erneuert werden. Dabei lieferten die antiken Texte den Hu­manisten nicht nur durch ihre klassische Sprache das stilistische Vorbild schlechthin, das es durch aktiven mündlichen und schriftlichen Gebrauch zu er­reichen galt, sondern die klassi­sche antike Literatur der Griechen und Römer war ihnen auch normgebend für das eigene Verhalten. Sprachschulung und ver­nunftgemäßes Handeln waren dabei untrennbar verbunden. Entscheidendes Vor­bild im Lateinischen war dabei Cicero, und zwar als der Prototyp eines umfas­send gebildeten Menschen und als Verkörperung römischer humanitas (‚das, was den Menschen im eigentlichen Sinne zum Menschen macht‘). Als Bildungsbewe­gung wirkte sich der Humanismus sehr stark auf das Schulwesen aus: So stand in der humanistisch ausgerich­teten Lateinschule des Reformators, Bildungsrefor­mers und Humanisten Philipp Melanchthon (1497-1560) das Lateinische im Mittelpunkt aller pädagogischen Anstrengungen. Die Lehrer sollten alles in latei­nischer Sprache lehren, ständig sollte (auch im Umgang der Schüler unter­einan­der) lateinisch gesprochen werden.

Cicero, römische Historiker,Terenz, Vergil und Ovid  bildeten das Zentrum der Lektüre, aber auch zeitgenössische Schriften wurden im Unterricht behandelt, so z. B. die Colloquia familiaria (‚Vertraute Gespräche‘) des Humanisten Erasmus von Rotterdam (1469-1536). Dieses da­mals weit verbreitete Gesprächsbüchlein bot den Schülern sprachlich elegante und geistvolle Musterdialoge, da die aktive, korrekte und form­vollendete Be­herrschung des klassischen Lateins das wichtigste Unterrichtsziel war. Dies hatte nicht zuletzt praktische Gründe: Latein war nach wie vor das entschei­dende interna­tionale Kommunikationsmedium und an den europäischen Univer­sitäten die Unterrichtsspra­che, während die Nationalsprachen in diesem Zusam­menhang noch keine Rolle spielten.

Neuhumanismus und formale Bildung

Seit dem 17. Jahrhundert setzte infolge der großen Kriege und aufgrund der er­starkenden Na­tionalsprachen der Niedergang der humanistisch ausgerichteten Lateinschulen ein. Zwar blieb das Lateinische auch weiterhin die wichtigste schulische Fremdsprache, die nach wie vor ak­tiv zu beherrschen war, allerdings wurde nun dem Erlernen der Muttersprache wachsende Aufmerksamkeit ge­schenkt.

Zudem wurden neue Fächer wie Mathematik, Physik und Fran­zösisch in den Fächerkanon aufgenommen, die den Anteil des Lateinischen verringerten. Auch die nachlassende Qualität des Unterrichts wurde beklagt. Die Ausbildung der Lehrer war offensichtlich schlecht, und der Lateinunterricht erstarrte in einem stilistischen Formalismus „ohne Geist und Sinn“, indem weiterhin mit großer Mühe der aktive Gebrauch des Lateinischen geübt wurde, für den es jedoch au­ßerhalb von Bildungseinrichtungen keine praktische Bedeutung wie noch zur Zeit des Renais­sance-Humanismus mehr gab. Im Zuge der Aufklärung und der damit einhergehenden Loslösung von kirchlichen Dogmen hatte auch an den Universitäten der schrittweise Abbau des Lateinischen als Unterrichts- und Prüfungssprache begonnen.

Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts vollzog sich eine durchgreifende Änderung dieser Ver­hältnisse, die maßgeblich durch Wilhelm von Humboldt (1767-1835) und den sog. Neuhuma­nismus geprägt wurde und zu einer umfassenden Reform des Bildungswesens führte. In der Auseinandersetzung mit der Sprache und den Texten der klassischen Griechen und Römer sollten die Schüler nicht so sehr zur praktisch-beruflichen Brauchbarkeit erzogen werden. Ebenfalls ging es nicht mehr darum, Latein für den mündlichen Gebrauch als Kommunikati­onsmittel zu erwerben, vielmehr stand die sog. „allgemeine Menschenbildung“ im Vorder­grund, die harmonische Entfaltung eines selbstständigen, selbsttätigen und selbstverantwortli­chen Individuums. Hierbei handelte es sich um ein ausgespro­chen liberales Bildungskonzept, das bewusst Vorteile aufgrund von Standeszuge­hörigkeit ausschloss. Obwohl Humboldt der griechischen Kultur als „Ideal allen Menschendaseyns“ den Vorzug vor dem Lateinischen gab, blieb die Sprache der Römer auch im Humboldt‘schen Gymnasium das Zentrum des Un­terrichts.

Einige Jahre vor Humboldt beschäftigte sich der Berliner Pädagoge und Philologe Friedrich Gedike (1754-1803) mit der Diskrepanz zwischen schulischen und gesellschaftlichen Anforderungen. Nicht alle Schüler, die in der Schule intensiv Latein lernten, besuchten später die Universität. Gedike löste dieses Dilemma, indem er dem Lateinunterricht einen materiellen (Sachkenntnisse) und einem formalen Bildungswert zuschrieb: „Wolltest du darum einst deine Tanzstunden bereuen und für verloren halten, weil du doch früh genug aufhören wirst, selber zu tanzen, und du wolltest nichts auf die körperliche Gewandtheit und Geschmeidigkeit rechnen, die diese Kunst dir gab? Nun so sei auch versichert, daß im Falle du auch einst dein Griechisch und selbst dein Latein vergissest, wenn du es doch einmal vergessen willst oder mußt, dennoch der Vorteil dir bleibt, durch beides deinem Geiste jene Bildung, jene Geschmeidigkeit verschafft zu haben, die auch in deine Geschäfte mit übergeht“ (Gedike, 1802). Gedike ging dabei von der Grundannahme aus, dass der Geist (Erinnerungsvermögen, logisches Denken, Phantasie etc.) ähnlich wie der Körper an bestimmten Inhalten exemplarisch trainierbar sei. Er begründete damit die Theorie der formalen Bildung und konstituierte so ein Legitimationsargument, das bis ins 20. Jahrhundert hinein für den Lateinunterricht prägend war. Auch Humboldt griff Gedikes Ideen für seine Schulpläne auf und verankerte die Theorie der formalen Bildung damit für fast 100 Jahre in preußischen Lehrplänen.

Seit Einführung des Abiturs 1788 – auch daran war Friedrich Gedike maßgeblich beteiligt – wirkten sich dessen Vorgaben auf die Unterrichtsinhalte aus. Mit dem Abiturreglement von 1812 wurde ein freier, lateinischer Aufsatz neben einer lateinisch-deutschen Übersetzung als Prüfungsleistung festgeschrieben. In der mündlichen Prüfung mussten die Abiturienten ihre Fähigkeiten im Lateinsprechen unter Beweis stellen. Ziel des Lateinunterricht war die Beherrschung der lateinischen Sprache in Wort und Schrift: „Die Sprachkenntniss des Jünglings muss bereits so weit vorgerückt sein, dass er sich der Sprachen, […] auch als Darstellungsmittel bedienen könne, ohne ihre Eigentümlichkeit zu verletzen“ und „das Lateinische muss er rein und fehlerlos ohne Germanismen schreiben und über angemessene Gegenstände einfach und grammatisch richtig sich auch mündlich ausdrücken lernen“ (Lehrplan von 1816). Latein war mit sechs bis acht von 32 Wochenstunden Hauptfach; einen ähnlich hohen Stun­denanteil konnten nur noch Griechisch (5-7 Stunden) und Mathematik (6 Stun­den) erreichen.

Latein am preußischen Gymnasium

Im Laufe des 19. Jahrhunderts entfernte sich dieses liberale Bildungskonzept Humboldts im­mer weiter von seinen ursprünglichen Zielen. Die Schule sollte unter dem Einfluss restaurati­ver Bildungspolitik Gehorsam gegenüber der Ob­rigkeit, Pflichterfüllung und Selbstgenüg­samkeit vermitteln. Hierzu schien ge­rade Latein hervorragend geeignet: Die Römer galten durch ihre Sprache und die dazugehörigen Texte als Muster für Ordnung, Disziplin und Pflichterfüllung ge­genüber dem Staat.

Durch die Konzentration auf den reinen Sprachunterricht, einen explizit grammatischen Unterricht, gelang es, den Unterricht zu entpolitisieren und damit vor den Eingriffen der Gegner, die in den Inhalten der antiken Texte eben auch revolutionäres Potential zu erkennen glaubten, zu schützen. Die unter Pädagogen nun allgemein anerkannte Theorie der formalen Bildung tat ihr Übriges dazu, indem sie den Sprachunterricht Grammatismus und  Formalismus anheimgab.

Auf diese Weise wurde Caesar, der bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur eine untergeordnete Rolle in der Schullektüre geführt hatte, zum wichti­gen Schulautor und zum Identifikationspunkt des Lateinunterrichts schlechthin. Hierfür waren einerseits sprachliche Gründe ausschlaggebend. Das Bellum Gallicum galt als eine Schrift, die „durch ihr mustergültiges Latein dem Schüler für die Erlernung der Sprache auf dem Wege der unbewussten Aneig­nung die wesentlichsten Dienste leistet“ (Hermann Perthes, 1875). Andererseits eigneten sich Caesars Schriften in besonderer Weise zur politischen Instrumen­talisierung. So sollen nach der Auffassung des bedeutenden Didaktikers  Peter Dettweiler  (1906) „auch Tertianer ... etwas von der weltgeschichtlichen Bedeu­tung der Unterwerfung Galliens verstehen lernen. Dazu kommt die stete Bezie­hung zu dem Heimatlichen, das hier zum ersten Male der Knabe aus einer römi­schen Quelle schöpft. Der Gegensatz der römischen Kultur und der germanischen Urkraft, der sich in der Geschichte der folgenden Jahrhunderte immer wieder zeigt, die Berichte über deutsche Männer und Verhältnisse in alter Zeit bringen sogar ein nationales Interesse zur Geltung. Auch die Beziehungen unseres Landes zu Frank­reich ergeben wertvolle Berührungspunkte. Der keltische Nationalcha­rakter, die geographi­schen Verhältnisse Galliens, die eine Anknüpfung an die Schlachtfelder des deutschen Krie­ges, an die Marschlinien unserer Truppen zulassen, sind hier zu erwähnen. Besonders darf man hier an den alten Streit um die Rheingrenze denken.“

Im Vergleich dazu verloren die Griechen wegen ihrer demokratischen Staatsform an unmittelbarer politischer Vorbildfunk­tion. Zu­gleich wurde die Bedeutung der aktiven Sprachbeherrschung immer weiter ver­ringert; seit 1876 durften beispielsweise die Dissertationen an fast allen Fakultäten auf Deutsch geschrieben werden. Am Ende des 19. Jahrhunderts galt nicht mehr die sprachlich-formale Bildung, sondern die „Einführung in das Geistes- und Kulturleben des Alter­tums“ als höchstes Unterrichtsziel. Die entscheidenden Schulautoren in dieser Zeit waren neben Caesar und Cicero die Historiker Livius und Tacitus sowie die Dichter Ovid, Horaz und Vergil. Anhand dieser antiken Texte sollte zugleich die Liebe zu König und Vaterland gefördert werden, ein Ziel, das während des Ersten Weltkrieges seinen fragwürdigen Höhepunkt erlangte.

Gleichzeitig lastete auf dem humanistischen Gymnasium gegen Ende des 19. Jh. ein nicht unerheblicher politischer Druck. So forderten nicht nur die Vertreter des sog. ‚realistischen‘ Schulwesens aufgrund der zunehmenden Industrialisierung eine Stärkung des neusprachlichen und naturwissenschaftlichen Unterrichts; auch Kaiser Wilhelm II. warf dem humanistischen Gymnasium mangelnde nationale Ausrichtung des Unterrichts vor: „Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen, wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer.“ So wurden auf zwei Reichsschulkonferenzen (1890, 1900) Maßnahmen durchgesetzt, die von den Vertretern des altsprachlichen Un­terrichts als schwerwiegende Einschnitte bewertet wurden: Die Stundenzahlen für Latein und Griechisch wurden z. T. erheblich verringert, der lateinische Abitur­aufsatz abgeschafft (1892) und das Abiturmonopol des humanistischen Gymnasiums zugunsten von Realgymnasium und Oberrealschule zu Fall gebracht.

Der Wegfall des lateinischen Aufsatzes markierte auch eine Wende weg vom deutsch-lateinischen hin zum lateinisch-deutschen Unterrichtsverfahren. Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich nicht nur unter Fachvertretern der Widerstand gegen den deutsch-lateinischen Übersetzungsbetrieb geregt; die von Vertretern der formalen Theorie versprochenen Erfolge waren ausgeblieben, einen tatsächlichen Beweis für die Schulung der Denkkraft an den alten Sprachen konnten sie nicht erbringen. Unter der Anstrengung sich zu legitimieren und sich in den Dienst der jeweiligen ideologischen Strömungen der Zeit zu stellen, konnte der Unterricht seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden.

Weimarer Republik

In der Weimarer Republik sollte der Lateinunterricht unter veränderten politi­schen Vorgaben erfolgen: Vor dem Hintergrund der politischen Wirren nach Ende des Weltkriegs erhielt er die Aufgabe, im Sinne der sog. Kulturkunde dazu beitragen, das Verständnis für die deutsche Kultur zu verbessern und das Natio­nalgefühl zu fördern. Zugleich wurden unter dem Einfluss der Reformpädagogik die Lehrbücher modernisiert und erheblich kindgerechter gestaltet. So findet sich im Lehrbuch Ludus LatinusB (1926) die erste Farbabbildung überhaupt; allerdings kein römischer Tempel oder eine Villa, sondern ein deutscher Bauernhof, was dem Einfluss der Deutsch- und Kulturkunde geschuldet ist. So wohnt man in den ersten Lektionen u.a. der Zubereitung eines Mittagessens für den Bauern bei oder trifft auf die unvermeidliche Großmutter, deren Haus und Hof vorgestellt werden mit Hühnern und Tauben, Mägden und Mädchen, die Großmutters Geschichten lieben und ihren Tisch mit Rosen schmücken. Diese Szenerie ist schon deshalb bemerkenswert, weil hier kein römisches Leben dargestellt wird, und zeigt, wie stark der Lateinunterricht von den jeweils herrschenden politischen Bedingungen beeinflusst wurde.

Auch der Stellenwert der aktiven Sprachbeherrschung änderte sich nachhaltig: Mit der Schulreform von 1924/25 wurde die deutsch-lateinische Übersetzung als Prüfungsleistung aufgegeben. Auf diese Weise wurde der Weg frei, diese auch im Unterricht schrittweise abzubauen. Die 100 Jahre alte Kritik der „Überbürdung“ der Schüler, die Hinwendung zu inhaltlichen und realen Aspekten, zur Lektüre und der Versuch, unter den nicht eben günstigen Verhältnissen eine realistisches Unterrichtsziel zu finden, leisteten ihren Beitrag zu diesem Prozess, der bereits mit der Abschaffung des lateinischen Abituraufsatzes begonnen hatte. Die Suche nach neuen Methoden, um die Lektürefähigkeit der Schüler herzustellen, war verbunden mit dem Topos der mangelnden Fähigkeiten, der in Bezug auf das jeweilige Unterrichtsziel zu jeder Zeit geäußert wurde. So wurde das deutsch-lateinische Verfahren an den Rand des Lateinunterrichts gedrängt, wo ihm neben den nun von der Fremdsprache ausgehenden Sprachübungen kaum noch Raum zugestanden wurde.

Nationalsozialismus

Unter den Nationalsozialisten erfuhr der Lateinunterricht am Gymnasium zwar eine schmerzhafte Stundenkürzung um 18 Stunden, blieb aber mit 35 Stunden nach der Leibeserziehung (40 Stunden) zweitstärkstes Fach. Die Instrumentalisierung des Lateinunterrichts für politische Zielsetzungen er­reichte freilich ihren Höhepunkt. Die römischen und griechischen Autoren sollten in völliger historischer Verzerrung ausschließlich unter rassenideologischen Gesichtspunkten ausgewertet werden und zugleich zur sog. „wehrgeistigen Erziehung“ bei­tragen. So wurden aus den Lehrplänen von 1938 die römischen Dichter verbannt, statt dessen standen Auto­ren wie Caesar, Tacitus und Livius im Vordergrund, an deren Beispiel Führer­persönlichkeiten, alte Römertugenden und die besonderen Eigenschaften der Germanen ge­würdigt werden sollten. Die tatsächliche Rolle des Lateinunter­richts in dieser Zeit ist jedoch zwiespältig: Ohne Frage gab es vielfältige An­strengungen, den Lateinunterricht ganz dem ideologischen Diktat des nationalso­zialistischen Staates zu unterwerfen. Andererseits gibt es zahlreiche Belege dafür, dass nicht wenige Lateinlehrer, ohne sich politisch verdächtig zu machen, den verordneten ideologischen Ballast aus dem Unterricht ferngehalten und sogar regimekritische Töne eingeflochten haben. So berichtet Walter Jens über seinen Lateinlehrer Ernst Fritz, der die Schüler das Horst-Wessel-Lied ins Lateinische übersetzen ließ: „An der Stelle ‚Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschos­sen, marschier'n im Geist in unsern Rei­hen mit‘ fragte er, was hiervon Nominativ sei und was Akkusativ. Wer hat wen erschossen? Und ist der Vorgang bereits abgeschlossen, also Perfekt: necaverunt? Oder morden die Kame­raden noch immer, Imperfekt: necabant? Mithilfe solcher Grammatikübungen öffnete er uns die Augen.“

Lateinunterricht in der Bundesrepublik Deutschland

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte der Lateinunterricht in West­deutschland zu­nächst eine Renaissance, da man nach dem Zusammenbruch aller Werte wieder an die huma­nistische Bildungstradition anknüpfen wollte. Wie man z. B. der Grundsatzerklärung des Deutschen Altphilologenverbandes aus dem Jahr 1951 entnehmen kann, sollte vor allem das altsprachliche Gymnasium ganz im Sinne dieser Schultradition die „Formung des ganzen Menschen“ errei­chen. So sollte sich „am Gegenbilde des Lateinischen, der ‚diszipliniertesten Sprache der Welt‘ ... der Wille zu bewußter Vervollkommnung der eigenen Sprachform“ entzünden; die Lektüre „der in ei­nem jahrhundertelangen Auslese­verfahren als repräsentativ und persönlichkeitsbildend erwie­senen Werke der griechischen und römischen Literatur“ stellte die eigentliche „Krönung“ des Un­terrichts dar. Trotz dieser hochgesteckten pädagogischen Ansprüche hatte der Lateinunter­richt einen schlechten Ruf in der Öffentlichkeit: Er galt nicht selten als ein formalistischer Pauk- und Exerzierunterricht ohne kindgerechte Inhalte; man glaubte bei den Schülern eine Abneigung gegen den Lateinunterricht feststellen zu können; zudem schienen Vorstellungen „der Unlust, wenn nicht des Abscheus, mit dem Worte Grammatik“ verbunden zu sein, so eine Einschät­zung aus dem Jahr 1964.

Diese problematische Lage verschlechterte sich zusehends vor dem Hintergrund der bil­dungspolitischen Entwicklungen der sechziger und siebziger Jahre. Als Hort vermeintlich überholter Bildungsvorstellungen war gerade das Gymnasium altsprachlicher Prägung und der Lateinunterricht insgesamt den scharfen Angrif­fen der Reformer ausgesetzt. Waren in den fünfziger und sechziger Jahren die Vorstellungen vom Lateinunterricht von hochgesteckten, mit pädagogischem Pathos gepaarten Vorstellungen geprägt, ohne sich über die tatsächliche Erreich­barkeit Rechenschaft abzulegen, war das Fach Latein nunmehr existentiell darauf an­gewiesen, den plausiblen Nachweis seiner Wirksamkeit und gesellschaftlichen Funktion zu führen. Durch eine intensive, ausgesprochen selbstkritische Überar­beitung der Zielsetzungen des Lateinunterrichts, die begleitet wurde von aufwen­digen empirischen Untersuchungen, wurde in den siebziger Jahren der Grund­stein zur Stabilisierung des Lateinunterrichts als drittstärkster Fremdsprache an den allgemeinbildenden Schulen gelegt.

Latein wird seit dieser Zeit als ein „päd­agogisches Mehrzweckinstrument“ verstanden, das sprachliche, literarische, so­zialkundliche und philosophische Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt. Der Lateinunter­richt hat sich infolge dieser Neuorientierung stark gewandelt: Seit Beginn der siebziger Jahre wurden vier neue Generationen von Lehrbüchern entwickelt, die kaum noch etwas mit den grauen Bleiwüsten ihrer Vorgänger gemein haben. Die modernen Lateinbücher zeichnen sich insbesondere durch eine klare Ziel- und Handlungsorientierung, durch stoffliche Straffung und Me­thodenvielfalt sowie durch eine motivierende inhaltliche und graphische Gestal­tung aus; sie bieten eine Fülle interessanter Themen, die auch über die Antike hinausweisen und durch zusätzliche deutsche Sachtexte und Bildmaterial gezielt veranschaulicht werden: Die Schüler erhalten z. B. vielfältige Einblicke in das Alltagsleben der Römer, lernen die Grundlagen rö­mischer Geschichte und Kul­tur sowie die spannenden Inhalte antiker Mythologie kennen und erarbeiten sich Grundkenntnisse über die Bedeutung der Antike für die europäische Kultur. Auch der Kanon des Lektüreunterrichts wurde erheblich ausgeweitet und nimmt jetzt die la­teinische Literatur von der Antike bis in die Neuzeit in den Blick. Wohl noch nie gab es der­artig vielfaltige Möglichkeiten zu einer inhaltlich und methodisch abwechslungsreichen Lek­türe lateinischer Originaltexte.

Lateinunterricht in der DDR

Ein anderes Bild ergibt sich für die Geschichte des Lateinunterrichts in der DDR. Der Latein­unterricht besaß im Bildungswesen der DDR niemals jene Bedeutung, die ihm in der Bundes­republik zugemessen wurde. La­tein (und auch Griechisch) galten grundsätzlich als ein mit der bürgerli­chen Klasse eng verbundenes Bildungsgut. Obwohl immer wieder Anstrengungen un­ternommen wurden, den besonderen Beitrag des Lateinischen zur „Bil­dung und Erziehung der allseitig entwickelten sozialistischen Persönlich­keit“ unter Beweis zu stellen, spielte der Lateinunter­richt an den Schulen der DDR eine untergeordnete Rolle. Der Lateinunterricht diente haupt­sächlich bildungsökonomischen Zielen, um Nachwuchskadern notwendige Grundkenntnisse für ein Studium im Bereich der Philologie, Archäologie oder Archivwissenschaft zu ermögli­chen. Die Lehrgänge waren stark verkürzt auf zwei (Klasse 11-12), drei (Kl. 10-12) und vier Jahre an we­nigen Spezialschulen (Kl. 9-12).

Literatur zum Weiterlesen

BÖLLING, RAINER: Kleine Geschichte des Abiturs, Paderborn 2010.

FRITSCH, ANDREAS: Friedrich Gedike wiederentdeckt. Ein großer „Philologe und Schulmann“ des 18. Jahrhunderts, in: Forum Classicum 51, 3/2008, 166-179.

DOMS, ALEXANDER: Titus Livius – Historikerlektüre unter dem Hakenkreuz, in: PegOn 1/2012, 1-11.

FUHRMANN, MANFRED: Latein und Europa, Köln 2001.

KIPF, STEFAN: Altsprachlicher Unterricht in der Bundesrepublik Deutschland. Historische Entwicklung, didaktische Konzepte und methodische Grundfragen von der Nachkriegszeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, Bamberg 2006.

LEONHARDT, JÜRGEN: Latein. Geschichte einer Weltsprache, München 2009.

LIEBSCH, ANN-CATHERINE: Die deutsch-lateinische Übersetzung im Schulunterricht. Eine bildungshistorische Untersuchung, in: PegOn 1+2, 2013, 153-217.

PAULSEN, FRIEDRICH: Geschichte des gelehrten Unterrichts, 3., erw. Auf­lage, hrsg. v. Rudolf Lehmann, Bd. 1, Berlin 1919; Bd. 2, Berlin 1921.

RITZI, CHRISTIAN/ TOSCH, FRANK: Gymnasium im strukturellen Wandel. Befunde und Perspektiven von den preußischen Reformen bis zur Reform der gymnasialen Oberstufe, Bad Heilbrunn 2014

SCHNEIDER, BARBARA: Die Höhere Schule im Nationalsozialismus. Zur Ideologisierung von Bildung und Erziehung, Köln 2000.

SEIDENSTICKER, BERND/MUNDT, FELIX (Hrsg.): Die Altertumswissenschaften in Berlin um 1800 an Akademie, Schule und Universität, Hannover 2006.

STROH, WILFRIED: Latein ist tot, es lebe Latein, Berlin 32007